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Der Aufstieg der päpstlichen Macht. – Ihr Niedergang. – Die Kirche als Dienerin der weltlichen Macht. – Die philosophische Skepsis uralt. – Die Fortschritte der positiven Wissenschaften: Astronomie, Physik, Chemie. – Kirchliche Verfolgungen der Wissenschaft. – Beeinflussung der Philosophie durch die Naturwissenschaft. – Materialistische Philosophie in England und Frankreich. – Klassische und revolutionäre Philosophie in Deutschland. – Erlöschen des philosophischen Radikalismus nach der Gleichstellung des Bürgertums. – Aussöhnung von Wissenschaft und Religion. – Das sozialistische Proletariat als Überwinder der Pfaffenherrschaft.
Wir sind am Ende unserer Darstellung angelangt. Ein kurzer Rückblick und ein Ausblick mögen unser Buch beschließen.
Wir sahen, wie die Macht der Kirche sich entwickelte, wie sie in der internationalen Herrschaft des Papsttums ihren Höhepunkt erreichte, und wie dann allmählich der fürstliche Absolutismus an die Stelle der kirchlichen Allmacht trat.
Während ursprünglich in den urchristlichen Gemeinden volle Selbstverwaltung herrschte und die Bischöfe und Presbyter nur gewählte Vertrauenspersonen darstellten, trat allmählich, als die Gemeinden größer wurden, eine Arbeitsteilung ein. Die Bischöfe, denen die Verwaltung des Vermögens der Gemeinden übertragen wurde, erlangten eine immer größere Selbständigkeit und Unabhängigkeit. Mit dieser Entwickelung ging der Zusammenschluß der Gemeinden untereinander Hand in Hand, so daß bereits im vierten Jahrhundert Reichssynoden zusammentraten. Innerhalb der Synoden fiel den Bischöfen der mächtigsten, reichsten Gemeinden der Haupteinfluß zu. Allmählich schwang sich so der Bischof von Rom zum Oberhaupt der Kirche auf.
Die päpstliche Macht stützte sich im wesentlichen auf die Klöster. Diese, ursprünglich Hausgenossenschaften aus der kommunistischen Zeit des Urchristentums, überlebten sowohl den ökonomischen Zusammenbruch des römischen Weltreiches, als auch die Stürme der Völkerwanderung und wurden zu Pflanzstätten der überlegenen römischen Kultur und Festen der päpstlichen Macht in den germanischen Ländern. Bald begnügte sich die Kirche nicht mehr damit, Beraterin und Teilhaberin der weltlichen Gewalt zu sein, sie suchte ihre Macht über die der Kaiser und Könige zu erhöhen. Die Kirche besaß im 12. und 13. Jahrhundert nicht nur das Bildungsmonopol, wodurch sie das ganze Leben beherrschte, sondern sie repräsentierte dank ihrem großartigen Ausbeutungssystem auch die gewaltigste wirtschaftliche Macht. So gelang es ihr denn, für eine Zeit zu der alles beherrschenden Zentralgewalt zu werden, die allen weltlichen und kirchlichen Besitz umschloß, die Fürsten absetzte und bannte, Länder und Kronen verschenkte nach Belieben.
Aber diesen Gipfel ihrer Macht konnte die päpstliche Kirche nicht lange behaupten. Die größere Hälfte des Mittelalters ist ausgefüllt von erbitterten Kämpfen der verschiedensten Landstriche und Klassen gegen die päpstliche Gewalt.
Der mehr oder minder proletarischen Erhebungen gegen das Ausbeutungssystem der Kirche zwar, wie sie die Bewegungen der Waldenser und Apostelbrüder darstellten, wurde die Papstgewalt noch Herr. Aber die päpstliche Weltpolitik mußte zusammenbrechen, als die von Rom beherrschten Länder sich ökonomisch immer mehr entwickelten. Frankreich gedieh bereits im 13. Jahrhundert zu ökonomischer und deshalb auch zu nationaler Macht und Einheit. Von den Anmaßungen der römischen Kirche wollte es deshalb nichts wissen. Die französischen Könige wahrten eifersüchtig die Unabhängigkeit der nationalen Kirche und machten die Abgaben an die Kurie von ihrer Bewilligung abhängig. Als 1303 der Papst Bonifacius III., einer der herrschsüchtigsten Vertreter der päpstlichen Universalmacht, den König Philipp IV. durch Exkommunikation gefügig machen wollte, ließ dieser ihn gefangen nehmen. Seine Nachfolger zwang die französische Königsmacht, zwei Menschenalter hindurch Avignon in Südfrankreich zur päpstlichen Residenz zu machen, um so jedes päpstliche Selbständigkeitsgelüst besser ersticken zu können. Deutschlands wirtschaftliche Entwickelung vollzog sich langsamer und weniger einheitlich, daher auch sein späterer Sieg über das Papsttum. Als dann schließlich die Reformation einen großen Teil Deutschlands von Rom losriß, war das nichts anderes, als die Rebellion der wirtschaftlich erstarkten deutschen Nation gegen die römische Ausplünderung. Daß die Losreißung von Rom sich nur auf einen Teil Deutschlands erstreckte, und daß die Reformation zu keiner nationalen Einigung Deutschlands, sondern im Gegenteil zur unseligen Zerklüftung und Entkräftung führte, ist außer den schon in früheren Jahrhunderten wirkenden wirtschaftlichen Gegensätzen im Reiche hauptsächlich dem schon in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts einsetzenden allgemeinen wirtschaftlichen Niedergang Deutschlands geschuldet.
Mit der wirtschaftlichen Überlegenheit des Papsttums war auch dessen Weltbeherrschungstraum endgültig zerronnen. Die Kirche mußte sich fortan wieder damit begnügen, die Dienerin und Helferin der weltlichen Macht zu sein. Sie unternahm noch einen großartigen Versuch, durch Anpassung an die veränderten ökonomischen und politischen Zustände wenigstens einen Teil ihrer Macht zu behaupten: durch den Jesuitenorden. Dieser machte sich zum Werkzeug der spanischen Weltpolitik, um dienend – die Methoden der jesuitischen Beeinflussung haben wir ja genau kennen gelernt – zu herrschen. Nach dem Niedergang der spanischen Herrschaft trat der Orden in den Dienst der französischen Weltmachtsbestrebungen. Aber auch diese Form der geistlichen Herrschaft wurde unmöglich, als die kapitalistische Entwickelung den modernen Staat schuf, in dem für den jesuitischen Staat im Staate keine Verwendung und kein Platz mehr war.
Der Protestantismus andererseits hatte sich gleich in die moderne Rolle der Kirche gefunden. Er hatte von vornherein auf jede Selbständigkeit verzichtet und sich in die Obhut und den Schutz der Fürsten begeben. Dies Patronat vergalt er durch schamlose Beschönigung jeder Ausbeutung und Knechtung durch die weltlichen Gewalten, durch das Evangelium der Knechtsseligkeit der Untertanen.
So ist die Kirche, die zur Zeit ihres Glanzes die vornehmste und mächtigste unter den herrschenden Gewalten darstellte, die in Form eines unantastbaren Glaubenszwanges die drückendste Ausbeutungswirtschaft etabliert hatte, allmählich zu einem Schmarotzer der weltlichen Knechtungs- und Ausbeutungsmacht geworden.
Die Pfaffenherrschaft im Sinne weltlicher Macht und direkter politischer Gewalt ist am Ende des von uns behandelten Zeitabschnittes gebrochen.
Von einer Pfaffenherrschaft kann fürder nur noch im Sinne einer Beherrschung der Gemüter unwissender Volksmassen durch die Geistlichkeit die Rede sein. Aber auch die Pfaffenherrschaft in dieser Form wird täglich geringer, dank dem ökonomischen Fortschritt, dank der wissenschaftlichen Aufklärung, dank dem proletarischen Klassenkampfe!
Nach der landläufigen, bürgerlich aufklärerischen Darstellung soll dem Pfaffentum durch die Wissenschaft seine Macht entrissen worden sein. Zweifellos haben die Fortschritte auf den verschiedensten Gebieten der Wissenschaft dazu beigetragen, die kirchlichen Dogmen zu erschüttern und die Kirche wegen ihrer unduldsamen Borniertheit bei den Gebildeten in Mißkredit zu bringen; allein die besitzende Klasse hat es trotz der eigenen Ungläubigkeit bisher immer trefflich verstanden, die wissenschaftliche Erkenntnis der Masse des Volkes vorzuenthalten. Auch die Wissenschaft selbst hat vielfach keine Bedenken getragen, die Konsequenzen ihrer Forschungen aus Gefälligkeit gegen Geistlichkeit und weltliche Machthaber zu verschleiern, damit dem Volke ja die Religion erhalten bleibe, die den Enterbten und Ausgebeuteten so eindringlich Geduld und Entsagung predigt. So hat zwar die Wissenschaft die Dogmen der Kirche in der Theorie überwunden, keineswegs aber in der Praxis. Erst die ökonomische und die sich daraus ergebende politische Entwickelung, die den Klassenkampf des Proletariates schuf, hat die Vorbedingungen für die völlige Entwurzelung der Pfaffenherrschaft geschaffen.
Das Anzweifeln der kirchlichen Dogmen ist uralt. Schon im 13. Jahrhundert wurde unter dem Einfluß der arabischen Philosophie die Universität Paris zu dem Hauptsitz freireligiöser Lehren. Diese Lehren leugneten die Auferstehung, die zeitliche Schöpfung der Welt. Ja man verstieg sich zu Epigrammen wie: »Die Weisen der Welt sind nur die Philosophen,« »Die christliche Religion hindert daran, etwas hinzuzulernen,« »Die Reden der Theologen sind auf Fabeln gegründet«. Erhob aber die Geistlichkeit Anklagen wegen dieser Freigeistereien, so verteidigte man sich damit, daß man dergleichen »Irrtümer« ja nicht theologisch, sondern bloß philosophisch vertreten habe! (Lange.) Diese »doppelte Buchführung«, die ja damals der dräuenden Inquisition wegen entschuldbar war, zieht sich leider fast durch die ganze Philosophie, bis auf Kant und darüber hinaus!
Wichtiger und fruchtbarer als diese philosophische Zweifelsucht waren die Fortschritte der positiven Wissenschaft. Kopernikus (1472-1543) entdeckte die Bewegung der Erde und der übrigen Planeten um die Sonne; Kepler (1571-1630) die drei »Keplerschen Gesetze« über den Lauf der Planeten und deren Trabanten, und Galilei (1564-1642), der Vollender des Kopernikanischen Systems, war zugleich Entdecker der Gesetze der Pendelschwingungen und des freien Falls der Körper. Newton (1672-1727) endlich wies die mechanische Notwendigkeit der von seinen Vorgängern entdeckten Gestirnbahnen durch die Gesetze von der Gravitation (Schwerkraft) und Attraktion (Anziehungskraft) nach.
Die Kirche nahm selbstverständlich diesen die Schöpfungslegende der Bibel zertrümmernden Entdeckungen gegenüber eine feindselige Haltung ein. Papst Paul V. ließ am 5. März 1616 die Lehre von der Bewegung der Erde um die Sonne für falsch erklären und die Bücher des Kopernikus auf den Index der für ketzerisch und verboten erklärten Bücher setzen. Kepler (Bild 425), der in Armut lebte und starb, hatte mancherlei durch die liebe Pfaffheit, diesmal protestantischer Couleur, auszustehen. Der Pfarrer schloß ihn vom Abendmahl aus, das Konsistorium zu Stuttgart verwies ihm seinen »Eigensinn und sein ungereimtes Spekulieren«, die theologische Fakultät der Universität Tübingen fand, »er wolle mit der Torheit der menschlichen Vernunft die göttlichen Geheimnisse meistern«. (Hettner.) Der greise Galilei endlich wurde von der Inquisition in den Kerker geworfen. Erst nachdem er 1633 knieend Abbitte geleistet und seine Lehre abgeschworen, wurde er wenigstens zu milderer Gefangenschaft begnadigt. Taub und erblindet starb der Unglückliche einige Jahre später. Immerhin war er noch besser weggekommen, als ein Menschenalter vor ihm der philosophische Verteidiger des kopernikanischen Weltsystems, der ehemalige Dominikaner Giordano Bruno, der im Jahre 1600 zu Rom wegen Bruchs des Ordensgelübdes und Abfalls von der katholischen Kirche lebendig verbrannt worden war, oder der Verfasser der genialen kommunistischen Utopie »der Sonnenstaat,« Thomas Campanella, der 26 Jahre lang im Kerker schmachtete und siebenmal der Folter unterworfen wurde!
Aber nicht nur die Astronomie machte gewaltige Fortschritte, sondern auch andere Zweige der Wissenschaft. Im Jahre 1619 trug der Engländer Harvey zum erstenmale öffentlich die Ergebnisse seiner Untersuchungen über den von ihm entdeckten Kreislauf des Blutes vor, während Leuwenhoek um dieselbe Zeit mittelst des verbesserten Mikroskops die Infusorienwelt entdeckte. Die Chemie, die bis zum 16. Jahrhundert Alchemie gewesen war, d. h. hauptsächlich der heißerstrebten Kunst des Goldmachens gedient hatte, nahm im 17. und 18. Jahrhundert einen wissenschaftlichen Charakter an. Man begann die chemischen Entdeckungen mehr und mehr in den Dienst der Heilkunde, der Mineralogie, der Hüttenkunde und der technischen Gewerbe zu stellen. Ferner datiert der Aufschwung der Mechanik seit Galilei, der durch die Entdeckung der Fallgesetze das Fundament zur höheren oder analytischen Mechanik legte. Huygens, der 1656 die Pendeluhren erfand, entdeckte die Gesetze der Zenttalbewegung, die von Newton noch ergänzt und präzisiert wurden. Laplace (Bild 428) wendete dann in seiner Mécanique céleste (Mechanik des Himmels) die Bewegungsgesetze auf das Planetensystem an. Auch die Physik machte seit dem Anfang des 17. Jahrhunderts rapide Fortschritte. Der geniale Astronom Galilei ist auch der Begründer der modernen Physik; der Entdecker der Fall- und Pendelbewegung, der Konstrukteur des Fernrohres formulierte auch richtige Ansichten über den Luftdruck, nach denen Torricelli 1644 das Barometer konstruierte, durch das dann die Abnahme des Luftdruckes mit der Erhebung über den Meeresspiegel nachgewiesen werden konnte. Nachdem Halley 1705 die Barometerformel abgeleitet hatte, konnte das Barometer auch praktisch bei Höhenmessungen angewandt werden. Guericke erfand 1650 die Luftpumpe, zugleich konstruierte er die erste Elektrisiermaschine; Snell entdeckte 1620 das Lichtbrechungsgesetz; Römer bestimmte 1675 die Fortpflanzungsgeschwindigkeit des Lichtes. Newton entdeckte die prismatische Zerlegung des weißen Lichtes in seine farbigen Bestandteile. Watt konstruierte 1764 die erste Dampfmaschine, nachdem übrigens schon 1707 Denis Papin ein Dampfboot gebaut hatte, auf dem er auf der Fulda von Kassel nach Münden hinabgefahren war.
Die Philosophie konnte von den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen nicht unberührt bleiben. Wie sehr auch der Standpunkt der einzelnen Denker durch den politischen und ökonomischen Zustand ihrer Länder und durch ihre persönlichen Lebensschicksale bedingt war, der tiefere Einblick in die Naturkräfte nötigte sie, sich in mehr oder minder entschiedene Opposition zu den kirchlichen Auffassungen zu setzen. Der Spanier Vives erklärte, nicht aus der blinden Tradition oder aus spitzfindigen Hypothesen sei die Natur zu erkennen, sondern durch direkte Untersuchungen auf dem Wege des Experiments. Der Züricher Naturkundige Geßner schrieb in seiner Psychologie trocken: »Einige halten die Seele für nichts, andere für eine Substanz«. Giordano Bruno kündete von neuem die uralte epikuräische Lehre von der Unendlichkeit der Welten, die aus dem Schoße der unendlichen Materie geboren würden. Baco (1561-1626) forderte eine Reform der Wissenschaft durch das Studium der Natur. Descartes (1596-1650) führte das Element der Mathematik und der mechanischen Naturbetrachtung in die Philosophie ein. Gassendi läßt zwar einen unsterblichen und unkörperlichen Geist existieren, allein dieser steht völlig außer Zusammenhang mit seinem System der Naturerklärung, das nur eine materielle, aus Atomen bestehende Seele kennt. Hobbes (1588-1679) will die Philosophie auf die natürliche Vernunft und die wissenschaftliche Erfahrung gegründet sehen. Locke (1632-1704) erkennt vollends als alleinige Quelle der Erkenntnis die Erfahrung und die Beobachtung an. Spinoza (1632-1677) »war der Erste, der in positiven Gegensatz mit der Religion trat; der Erste, der es auf klassische Weise ausgesprochen, daß die Welt nicht als Wirkung oder Werk eines persönlichen, nach Absichten und Zwecken wirkenden Wesens angesehen werden könne; der Erste, der die Natur in ihrer universellen, religions-philosophischen Bedeutung geltend machte.« (Feuerbach.)
War England, das Geburtsland der Baco, Hobbes, Locke, anfangs als ökonomisch und politisch vorgeschrittenstes Land die Heimat dieser auf die wissenschaftliche Beobachtung und Erfahrung sich stützenden materialistischen Philosophie, so wurde es darin im 18. Jahrhundert von Frankreich überflügelt, das sich immer entschiedener gegen das verfaulende ancien régime, das Königtum und das mit ihm verbrüderte Junker- und Pfaffenregiment erhob. Die französischen Philosophen des 18. Jahrhunderts führten den Kampf gegen das Pfaffentum und die religiösen Dogmen mit ganz anderer Entschiedenheit und Verve, als die englischen Philosophen. Das hatte seinen Grund darin, daß die französischen Aufklärer sich als die Anbahner der kommenden Revolution fühlten und deshalb schonungsloseste Kritik an den bestehenden Einrichtungen übten, während die englischen Philosophen in einem Zeitalter des Kompromisses zwischen Königtum und Bürgertum lebten. Während Hobbes, der Anhänger des Absolutismus, zwar philosophisch ein konsequenter Materialist war, aber doch seines politisch-reaktionären Standpunktes wegen dem Staate das Recht zusprach, seinen Untertanen eine religiöse Auffassung vorzuschreiben, predigte Locke die religiöse Toleranz. Locke vertrat eben den Standpunkt einer gemäßigten bürgerlichen Opposition. Als jedoch das Kompromiß zwischen Königtum und Bourgeoisie perfekt geworden war, also seit dem Ende des 17. Jahrhunderts, schlossen die englische Philosophie und Wissenschaft vollends ihren Frieden mit Religion und Pfaffentum. Hume (1711-1776), auf dessen Denkrichtung ein dreijähriger Aufenthalt in Frankreich einen theoretisch bestimmenden Einfluß ausgeübt hat, zerstörte zwar theoretisch die Existenz Gottes, der Seele und der Unsterblichkeit, erklärte aber die Religion für ein psychologisches Bedürfnis der Menschen! Weit größere Engherzigkeit bewiesen aber noch die englischen Materialisten Hartley und Priestley. Hartley, der den Prozeß des Denkens auf Gehirnvibrationen zurückführte, gab andererseits nicht nur die Existenz einer unsterblichen Seele zu, sondern er glaubte sogar an die Höllenstrafe! Priestley bekämpfte zwar die englische Staatskirche, aber die Religion an sich verteidigte er hitzig gegen die Angriffe konsequenter Denker. Die englische Bourgeoisie wurde, nachdem sie politische Ellenbogenfreiheit genug erlangt hatte, sich durch Handel und Piraterie nach Herzenslust zu bereichern, wieder äußerst »fromm«. Auch die englischen Denker und Forscher konnten sich von den religiösen Vorurteilen ihrer Klasse, hinter denen freilich sehr viel religiöse Indifferenz und auch ein guter Schuß Heuchelei steckt, nicht frei machen. »So reich England als erstes Industrieland an großen Naturforschern blieb, so glaubten sie, von Boyle und Newton bis auf Darwin und Faraday, entweder an eine übernatürliche Schöpferkraft oder ließen den Herrgott mindestens einen guten Mann sein.«
In England hatten die oberen Klassen alle Ursache, mit Gott und der Welt zufrieden zu sein. Freilich auch nur sie! Im Parlament waren die mittleren Klassen nur schwach, die unteren gar nicht vertreten. Das Elend des Land- und Industrieproletariates erreichte bereits in der Mitte des 18. Jahrhunderts einen unerträglichen Grad: »Der Lohn des Fabrikarbeiters wurde so gut wie der der Arbeiter im Handwerk und in der Landwirtschaft vom Quartalgericht festgesetzt. Kinder und Frauen mußten lange Arbeitszeiten in den Fabriken durchmachen, und die Arkwright, Peel und viele andere bauten auf dem Elend der Arbeiter ihre gewaltigen Vermögen auf. Jeder Versuch der Arbeiter, sich zum Zwecke einer besseren Verwertung ihrer Kraft zusammenzuschließen, wurde erbarmungslos unterdrückt, jeder offene Schritt in dieser Richtung hart bestraft. Die englischen Arbeiter produzierten den ganzen Reichtum und trugen fast alle Kosten in dem langen Kriege mit Frankreich, während dessen Fabrikanten und Grundbesitzer Reichtümer, Staatsmänner und Feldherren Ruhm erwarben. Hohe Gewinne zog man aus der Beschäftigung kleiner Kinder, und die Arbeiterschaft verkam und verkümmerte, während Fabrikbesitzer, Grundeigentümer und Börsenmakler Millionen aus der Mühsal derer ernteten, deren Löhne sie selbst »regelten« und deren Kräfte sie rücksichtslos und bis zur Erschöpfung ausnützten.« (Thorold Rogers.)
Während das Bürgertum Englands längst an der Futterkrippe saß, mußte die französische Bourgeoisie »Steuern zahlen und das Maul halten«. Am Königshofe herrschte die liederlichste Günstlings- und Maitressenwirtschaft. Was der König und sein Hofstaat verschwelgten, mußte das rechtlose Volk aufbringen. Die Staatskasse war ohnehin durch politische Abenteuer, den österreichischen Erbfolgekrieg und den siebenjährigen Krieg ruiniert worden. Jede Opposition gegen die Schandwirtschaft war mit dem Kerker bedroht, selbst harmlose Bürger fühlten sich durch die lettres de cachet (geheime Haftbefehle), die von den Günstlingen des Hofes zu privaten Rankünen benutzt wurden, in ihrer Freiheit und ihrem Besitz bedroht.
Die Revolution, die endlich mit explosiver Gewalt Absolutismus und Feudalismus in die Luft sprengte, warf schon lange Jahrzehnte ihre Schatten voraus. Die gesamte Intelligenz unterwühlte auf geistigem Gebiete die Stützen der Gewalt: die blinde Ehrfurcht und Unwissenheit der Massen. Ein Hauptmittel dieser Aufklärung bildete die materialistische Philosophie, die an Locke anknüpfte und die fallen gelassenen Gedankenfäden kühn fortspann. Die herrschenden Zustände wurden von der Kirche verteidigt, folglich mußte man die Kirche vernichten. Und man bekämpfte nicht nur ihre hierarchischen Formen, sondern auch ihre Dogmen, den Gottesglauben selbst. Man dachte so der Kirche ihr letztes Fundament unter den Füßen fortzuziehen. Weil man die irdischen Zustände gründlich umgestalten wollte, sollten alle Sinne der Menschen auf die Geschäfte des Diesseits gelenkt werden. In der wirklichen Welt sollte der Mensch sein Glück und sein Schicksal suchen, nicht in jenem unbekannten und unfaßbaren Jenseits, auf das die Religion die Leidenden verweist. Da Gott ja wegen der Schranken der menschlichen Erkenntnis und nach dem eigenen Zugeständnis der Pfaffen ein der menschlichen Vernunft unzugänglicher Begriff sei, habe der Mensch das Recht, ihn für seine geistige Organisation als nicht existierend zu betrachten. Die revolutionäre französische Philosophie, deren konsequenteste Vertreter die von der landläufigen Geschichtsschreibung aus Klasseninstinkt giftig verlästerten Holbach und Helvetius waren, wollte auch die alte religiöse Moral nicht mehr anerkennen. »Nichts ist unvorteilhafter für die menschliche Moral,« sagt Holbach, »als sie mit der göttlichen Moral zu kombinieren. Dadurch, daß man eine vernünftige, auf Vernunft und Erfahrung basierte Moral mit einer mysteriösen, der Vernunft feindlichen, auf Einbildung und Autorität gegründeten Religion verbindet, verwirrt man nur die erstere, schwächt und zerstört sie sogar.«
Selbst sonst einsichtigere bürgerliche Schriftsteller haben über die »Unmoral« der französischen materialistischen Philosophen gezetert. Wie gesagt: aus Klasseninstinkt! »Die ›religiöse Moral‹ predigte die Unterwerfung, die Tötung des Fleisches, die Vernichtung der Leidenschaften. Sie versprach allen denen, die hier unten leiden, im zukünftigen Leben eine Belohnung. Die neue Moral setzte das Fleisch, setzte die Leidenschaften in ihre Rechte wieder ein und machte die Gesellschaft für das Unglück ihres Mitgliedes verantwortlich. Sie wollte, wie es auch Heine wollte, ›hier auf Erden schon das Himmelreich errichten‹. Das war ihre revolutionäre Seite, aber auch ihr Unrecht in den Augen der Parteigänger der damals existierenden Gesellschaftsordnung«. (Plechanow.) Die Moral der genannten Philosophen proklamierte das Evangelium der Menschenliebe in den weitgehendsten Konsequenzen: »Gutes tun,« sagt Holbach, »zum Glück der Nebenmenschen beitragen, ihnen Hülfe leisten, das ist tugendhaft. Die Tugend kann nur das sein, was zur Nützlichkeit, zum Glück, zur Sicherheit der Gesellschaft beiträgt … Die erste der sozialen Tugenden ist die Menschlichkeit. Sie ist der Inbegriff aller anderen … Ihre Wirkungen sind die Liebe, das Wohltun, die Freigebigkeit, die Nachsicht, die Mildtätigkeit gegen ärmere Nächsten.« Diese Tugend galt den materialistischen Philosophen aber keineswegs als ein erhabenes Verdienst, sondern als einfache soziale Pflicht, die schließlich schon das Interesse am eigenen Wohlergehen gebiete.
So kühn aber auch der Gedankenflug der Holbach und Helvetius war, und so geniale Ahnungen wichtigster Ergebnisse der späteren kulturgeschichtlichen Forschung wir in ihren Schriften finden: Sie waren beide bürgerliche Denker, die sich eine Gesellschaft ohne Privateigentum nicht vorstellen konnten. So ist denn nach Holbach die Sicherung des Privateigentums eine der wichtigsten Garantien der Gesellschaft. Nach ihm geben die Gesetze der Natur »einem jeden Menschen das Recht, welches man das Eigentum nennt«. Auch Helvetius will, trotzdem er das Gemeinwohl zum obersten Prinzip der sozialen Moral erhebt, das Privateigentum nicht aufgehoben wissen, obwohl er die Gefahren des Privateigentums nicht verkannte. Zur Beschränkung der Ausbeutung der Arbeitskraft der Nichtbesitzenden durch die Besitzenden schlägt er die Herabsetzung der Arbeitszeit auf 7-8 Stunden und die Verbreitung von Bildung unter dem Volke vor. Die letzten sozialen Konsequenzen aus der gesellschaftlichen Moraltheorie der materialistischen Philosophie zogen erst Morelly, Mably, Brissot usw. Der Abbé Mably erklärte gegenüber Rousseau, daß die Gleichheit mit dem Eigentum unvereinbar sei: »Alle Menschen haben das gleiche Recht zur Entwickelung ihrer Fähigkeiten und zum Genusse des Daseins. Wer doppelte Kraft hat, kann auch die doppelte Last tragen. Behalte ich meinen Ueberfluß, der meinen schwächeren Nachbarn zum Leben nötig ist, selbstsüchtig für mich allein, so setze ich an Stelle des Begriffs der Gesellschaft den Begriff des Krieges.« Brissot nannte 1783 das Eigentum einen Frevel an der Natur. Babeuf (1762-1796) erstrebte den gleichen mäßigen Wohlstand für alle durch den Kommunismus, der das Volk zum alleinigen Eigentümer mache und jedem das Recht auf Existenz verleihe, wie er jedem die Pflicht zur Arbeit auferlege …
In ungleich verschleierterer Form führte die deutsche Philosophie ihren Kampf gegen Pfaffheit und religiöse Dogmen. In der Theorie allerdings waren auch die Kantund Fichte höchst radikale Denker. Kant untersuchte, an Hume anknüpfend, das Erkenntnisvermögen des Menschen, wobei er zu dem Ergebnis gelangte, daß für die reine Vernunft Gott nicht existiere. Auch Fichte gelangte theoretisch zu dem gleichen Ergebnis. Aber diese Theorien wurden in der abstrakten und häufig schwer verständlichen Geheimsprache vorgetragen, die nun einmal zum Wesen deutscher Gelehrsamkeit gehört. Kant und Fichte waren eben Stubenphilosophen, die bei dem Elend der deutschen Zustände und der Ohnmacht des deutschen Bürgertums keine praktische Einwirkung auf das politische Leben ausüben konnten. Sie schwebten daher mit ihren Gedanken in den Wolken. »Ihr Idealismus erfuhr dadurch eine sehr fühlbare Einschränkung, daß ihre Gedanken sich nicht lösen konnten von ihren Leibern, die unter der despotischen Fuchtel und der orthodoxen Geißel atmeten. Mit der reinen Vernunft disputierte Kant den lieben Gott aus dem Weltall, aber durch das Hinterpförtchen der praktischen Vernunft schmuggelte er ihn wieder hinein. Fichte schwankte in dem Prozeß, der ihm wegen atheistischer Gesinnung gemacht wurde und zu seiner Vertreibung aus Jena führte, in einer an dem starken Manne befremdenden Mischung von unzeitigem Trotze und unzeitiger Nachgiebigkeit; in späteren Jahren trübte er die haarscharfe Logik, womit er einst die Vorstellung eines persönlichen Gottes vernichtet hatte, durch einen Anflug von Mystik.« (Mehring.)
Erst als auch in Deutschland das Bürgertum in ernstlichen Kampf um Gleichstellung mit den privilegierten Klassen eintrat, nahm auch die Philosophie eine markantere Kampfstellung ein. Zunächst freilich auch noch in sehr professoraler Form. »Wie in Frankreich im 18., so leitete auch in Deutschland im 19. Jahrhundert die philosophische Revolution den politischen Zusammenbruch ein. Aber wie verschieden sahen die beiden aus! Die Franzosen in offenem Kampf mit der ganzen offiziellen Wissenschaft, mit der Kirche, oft auch mit dem Staat; ihre Schriften jenseits der Grenze, in England oder Holland gedruckt, und sie selbst oft genug drauf und dran, in die Bastille zu wandern. Dagegen die Deutschen – Professoren, vom Staat eingesetzte Lehrer der Jugend, ihre Schriften anerkannte Lehrbücher, und das abschließende System der ganzen Entwickelung, das Hegelsche, sogar gewissermaßen zum Rang einer königlich preußischen Staatsphilosophie erhoben.« (Engels.) Hegel wurde denn auch meist für einen politischen Reaktionär gehalten. Sein Satz: »Alles was wirklich ist, ist vernünftig, und alles was vernünftig ist, ist wirklich,« sah man als Rechtfertigung jedes einmal existierenden Unrechtes an. In Wirklichkeit freilich besagte der Satz im Sinne der Hegelschen Denkmethode: Alles was besteht, ist wert, daß es zugrunde geht! »Darin aber gerade lag die wahre Bedeutung und der revolutionäre Charakter der Hegelschen Philosophie, daß sie der Endgültigkeit aller Ergebnisse des menschlichen Denkens und Handelns ein für allemal den Garaus machte.«
Rücksichtsloser Kampf gegen Reaktion und Orthodoxie wurde dann zur Parole für den linken Flügel der Junghegelianer, der Bruno Bauer, Feuerbach, Stirner. Der Kampf wurde zwar mit philosophischen Waffen geführt, aber nicht mehr um abstrakt philosophische Ziele; es handelte sich jetzt direkt um Vernichtung der überlieferten Religion und des bestehenden Staates. Nachdem schon David Strauß in seinem »Leben Jesu« die Evangeliengeschichte für eine Art Volkssage, die von der christlichen Gemeinde bewußtlos geschaffen worden sei, erklärt hatte, wies Bruno Bauer nach, daß die Evangelien die bewußten Erzeugnisse bestimmter Verfasser seien, deren Auffassung deutlich den Einfluß der stoischen und alexandrinischen Philosophie verrate. Ludwig Feuerbach endlich knüpfte ohne Umschweife an den französischen Materialismus an. Die Natur, lehrte er, ist die Grundlage alles unseres Wissens. Außer der Natur und den Menschen existiert nichts. Die höheren Wesen, die sich die religiöse Phantasie erschaffen hat, sind nur Rückspiegelungen unseres eigenen Wesens.
So entschieden räumte die Philosophie mit den Pfaffen und der Religion auf, solange das Bürgertum revolutionär war. Als die Bourgeoisie ebenfalls zur herrschenden Klasse avanciert war, wurden die philosophischen Tempelstürmer alsbald wieder zahme Stubengelehrte und loyale Staatsbürger. Das Christentum, das wissenschaftlich längst überwunden ist, wird künstlich konserviert – zur Niederhaltung der proletarischen Klassen. In England sowohl, wie in Frankreich und Deutschland. Speziell in Deutschland zog, nach einem Wort von Engels, die Spekulation aus der philosophischen Studierstube aus, um auf der Fondsbörse ihren Tempel zu errichten. Der alte theoretisch-rücksichtslose Geist verschwand, ängstliche Rücksicht auf Karriere und Einkommen, selbst ordinärstes Strebertum sind an seine Stelle getreten. In der Naturwissenschaft machte sich allerdings eine Zeitlang eine religionsfeindliche Strömung bemerkbar. Aber der allzu platte Materialismus der Büchner, Vogt und Moleschott bezog sich speziell auf das enge naturwissenschaftliche Gebiet, während er von der Anwendung des Materialismus auf die Gesellschaftswissenschaft nichts wissen wollte. Was nützte aber einem Proletarier die tröstliche Versicherung eines Vogt, daß das Gehirn in ebenso natürlicher Weise das Denken produziere, wie die Nieren den Urin – wenn dieser Proletarier zwar die Illusion eines Jenseits verlor, aber nicht die geringste Aussicht erlangte, das Diesseits jemals vernünftiger und menschenwürdiger gestaltet zu sehen! Welch ein Unterschied in dieser Beziehung zwischen dem französischen Materialismus und dem beschränkt naturwissenschaftlichen der Büchner und Vogt: Der französische Materialismus wollte den religiösen Wahn zerstören, um die Pfaffenherrschaft samt Adel und Königtum zu stürzen und eine vernünftige und gerechte Gesellschaftsorganisation aufzubauen, deren Fundament die werktätige Menschenliebe sein sollte. Die Büchner und Vogt dagegen begnügten sich mit der kahlen Ableugnung des Jenseits, ohne der Masse Hoffnung und Anleitung zu geben, sich hier auf Erden schon das Himmelreich zu errichten.
In der letzten Zeit zeigt sich das Bürgertum immer rührender besorgt, dem Volke die Religion, den Trost des alle Leiden der kapitalistischen Wirklichkeit wett machenden Jenseits zu erhalten. Je weniger das Proletariat dank der durch seine eigenen Bildungsorgane verbreiteten wissenschaftlichen Aufklärung von Pfaffen und Kirche wissen will, desto eifriger sorgt die Bourgeoisie für die »Bekehrung« der Arbeiter. Haben sich doch z. B. in Deutschland alle bürgerlichen Parteien darauf geeinigt, die Volksschule der Geistlichkeit zu überantworten.
Dadurch, daß sich auch heute die herrschenden Klassen der Kirche und der Religion als eines Instrumentes zur Gefügigmachung der nichtbesitzenden Klassen bedienen, ist die Aussicht geschwunden, daß die Wissenschaft noch innerhalb unserer Gesellschaftsordnung mit der Pfaffenherrschaft aufräumen werde. Erst eine wahrhaft freie Wissenschaft, wie sie in einer sozialistischen Gesellschaftsordnung möglich sein wird, eine Wissenschaft, die nicht für eine kleine Minderzahl von Besitzenden und Eingeweihten, sondern für alle Glieder der Gesellschaft bestimmt ist, wird jene Befreiung der Geister zur Tat machen, die unser heutiger Klassenstaat mit voller Absicht hintanhält.
Die sozialistische Gleichheitsgesellschaft wird auch erst die ökonomischen Vorbedingungen für die Beseitigung der religiösen Mystik schaffen, ohne die alle Aufklärungsarbeit keinen vollen Erfolg verspricht. Sie wird das soziale Elend ausrotten, unter dessen seelischem Zwange noch heute breite Schichten der in Unwissenheit Dahinlebenden in die Sphäre des Jenseitigkeitsglaubens flüchten. Sie wird den in dumpfem Gefühlsleben Dahinvegetierenden freie Zeit und reiche Bildungsgelegenheit gewähren und dadurch den dunklen, die Wirklichkeit fliehenden Drang religiöser Mystik durch klare wissenschaftliche Vorstellungen und die reinmenschliche Moral werktätiger, glückzeugender Nächstenliebe ersetzen. Sie wird den unklaren, unfruchtbaren, zu öder Gewohnheit erstarrten Formelkram der kirchlichen Handlungen durch weihevolles Genießen wissenschaftlicher Erkenntnis und künstlerischer Schöpferkraft verdrängen.
Bis dieser Zustand rüstigen Kulturfortschritts erreicht sein wird, braucht das Proletariat natürlich nicht die Hände in den Schoß zu legen. Unaufhaltsam und mit äußerstem Nachdruck hat schon innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft die Arbeiterklasse den herrschenden Gewalten möglichst viel Licht und Luft abzutrotzen. Vor allen Dingen auch ist es die Pflicht des organisierten Proletariats, neben der sozialpolitischen Aufklärung für die wissenschaftliche Aufklärung der Volksmassen Sorge zu tragen. Namentlich in kulturhistorischer Beziehung stellt die Aufklärung des Volkes schon heute dem Sozialismus die wichtigsten und dankbarsten Aufgaben. Kann doch kaum irgendwo die Verlogenheit und Heuchelei unserer herrschenden Klassen empfindlicher getroffen und wirksamer entlarvt werden, als durch eine wahrheitsgetreue Darstellung der geschichtlichen Entwickelung der Vergangenheit.
Eine solche Darstellung, die uns das ganze Arsenal der weltlichen und geistlichen Volksbedrücker vorführt, liefert uns zugleich die wichtigsten Waffen zur Bekämpfung der Volksfeinde in der Zukunft. Sie liefert vor allem auch den Mühseligen und Beladenen den tröstlichen Beweis, daß die Geschichte der Menschheit keineswegs einen ewigen, unentrinnbaren Kreislauf aberwitziger Barbarei darstellt, sondern daß die historische Entwickelung aufwärts führt, langsam zwar, aber unaufhaltsam. Die größte Lehre der Geschichte ist aber die, daß kein »Gott«, wie seine herrschgierigen »Stellvertreter« behaupten, die Menschheit erlösen kann, sondern daß die Menschheit in unermüdlichem Ringen sich selbst erlösen muß!