Peter Rosegger
Nixnutzig Volk
Peter Rosegger

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Zum Schlusse wird getanzt.

Im Vorzimmer rauschte Seide.

Mein Stubenmädchen gab Karten ab: »Zwei Damen!«

Baronin de Crocci, Gräfin Trenn-Sigloff.

»Ich lasse bitten!«

»Ach, bester Herr Doktor! Wir sind so glücklich, Sie zu Hause zu treffen.«

Ich lud sie mit einer Handbewegung ein, Platz zu nehmen. Aber die Damen wollten stehen bleiben, bis sie ihr Anliegen vorgebracht hätten.

»Sie können sich's denken,« sagte die ältere der Damen, die Baronin. »Es kommt ja kein Mensch zu Ihnen, der nicht eine Bitte hat.«

»Sehr schmeichelhaft.«

»Das heißt,« verbesserte die Gräfin, »jeder, der zu Ihnen kommt, hat eine Bitte. Sind Sie doch der Nothelfer aller Bedrängten. Helfen Sie auch uns, bitte, bitte!«

Ich schwieg, lud sie noch einmal ein, Platz zu nehmen. Es war leicht zu erraten, was sie von mir wollten, aber ich fühlte mich im vorhinein entschlossen, die Bitte abzulehnen. Um so mehr empfiehlt sich ausgesuchte Höflichkeit.

»Unser Verein ›Armenhaus‹ gibt ein Konzert. Nun wissen Sie alles, liebster Herr Doktor,« sagte die Baronin.

»Sie dürfen, Sie werden es uns nicht abschlagen,« rief die Gräfin, »wenigstens eine Nummer!«

»Soll ich singen, meine Damen?«

Die Baronin wollte dem Witz gelinde ausweichen, allein die Gräfin faltete lachend die taubengrau behandschuhten Händchen: »Ach ja, Herr Doktor, singen! Dann sind wir im Trockenen, dann brauchen wir gar nichts mehr zu tun, als einen größeren Saal zu suchen, wenn der Doktor singen. Das wäre schrecklich schön!«

»Mit Ausnahme des letzten Wörtchens gebe ich's ohne weiteres zu, meine Damen.«

Aber dieser ungenierte Ton war nicht gut, nun wurden sie dreist.

»In allem Ernste eines bedrängten Komitees, Sie müssen bei unserem Konzert eine Nummer lesen. Im Johannensaal am sechsten Februar.«

»Es geht nicht, ich bin heiser, ich habe an demselben Abende Besuch, ich bin um jene Zeit in Prag verpflichtet, und wenn ich nicht irre, in Klagenfurt, auch bin ich todkrank und möglicherweise am sechsten Februar gar nicht mehr am Leben. Also sehen Sie, meine verehrten Damen, daß ich absolut nicht zusagen kann.«

Sie lachten. »Zusagen, das ist gar nicht nötig, wenn Sie nur bei uns lesen. Ihre Mitwirkung – ach, wozu das noch sagen – garantiert uns, bedeutet die halbe Jahresmiete für unser Haus. Es bitten ja nicht wir, es bitten hunderte von Frierenden, Hungernden, Heimatlosen.«

»Aber was soll ich denn lesen!«

»Ganz und gar nach Ihrem Belieben, wir sind für alles unendlich dankbar.«

»Soll wohl etwas Ernstes sein, dem humanitären Zweck angemessen.«

»Was Sie uns schenken wollen. Das Publikum wird entzückt sein.«

»Was meinen Sie zu Enoch Arden?«

»O wie reizend! – Wenn Sie das nicht zu sehr anstrengt?«

»Oder der Streik der Schmiede.«

»Wäre vielleicht noch besser. Wir möchten Sie nur um Gotteswillen nicht anstrengen. Im Notfalle wären wir schon etwa mit ein paar Heineschen Gedichten zufrieden. Vorläufig sind wir Ihnen überaus dankbar, Ihren verehrten Namen ins Programm drucken zu dürfen. Haben Sie tausend, tausend Dank. Ach, wie sich schon alles freut auf Ihre Vorlesung. Wir lassen sofort die Plakate drucken. Nochmals Dank, bester liebster Doktor!«

Na nu – und dann waren sie fort.

Zwei Tage später erhielt ich das Programm. Acht Nummern, und welche illustre Namen! Die Produktionen bestanden aus Klavierstücken, Liedern, meiner Vorlesung, einem Violinsolo und einem Vortrag in oberösterreichischer Mundart von einem beliebten Humoristen. Dann unten mit größeren Buchstaben: »Zum Schlusse wird getanzt.«

Aha. – Da wäre freilich der Enoch Arden – zu anstrengend. Zum Schlusse wird getanzt. Ich wählte für meine Nummer den »Streik der Schmiede« und Hamerlings »Vor einer Gentiane.«

Getrommelt wurde tüchtig. Auf den Plakaten waren sezessionistische Figuren abgebildet, die asyllose arme Leute vorstellen sollten. In den Blättern standen erschütternde Artikel über das Elend der Unterstandslosen, deren zu dieser herben Jahreszeit mehr als Tausend in Stadt und Umgebung umherirren, zu Tode gehetzt vor Hunger, Frost und Verzweiflung.

Der Festabend kam. Alle Mitwirkenden, mit Ausnahme der Diva, hatten die Wagen, mit denen sie abgeholt werden sollten, abgelehnt zu Gunsten des wohltätigen Zweckes. Als ich in den Johannensaal kam, ah, wie prächtig war er ausgeschmückt! Gewinde, Fahnen, erbauliche Sprüche; aus den Türen, Fenstern und Nischen hatten Tapezierer wahre Kunstwinkel gemacht. Bassins mit Goldfischchen kühlten und erfrischten die Luft. Der Saal war bereits völlig besetzt, aber nicht in Sitzreihen, sondern mit etwa vierzig runden Biertischen, an welchen sich junge Paare zum Essen und Trinken gruppiert hatten. Zahlreiche Kellner schossen wie Schwalben umher, und alles wollte vor Beginn des Konzertes abgefüttert sein. Aber der Klaviervortrag hatte schon begonnen, man merkte das vor allem an dem Zischen im Publikum. Es wollte den Lärm zur Ruhe zischen. Trotzdem klapperten Teller und Besteck immer noch mindestens so vernehmlich, als die Tasten, so sehr der Virtuos auch darauf losschlug. Unter mehreren Tischen hörte ich Füße Takt treten, und es war doch kein Walzer, es war eine Symphonie. Der Mann spielte auf dem Flügel einen Teil der »Neunten« mit allen Stimmen. Das hielten die jungen Beine nicht aus. Es dauerte aber nicht lang. Dann kam schon die Diva. Im Saale war es plötzlich so ruhig, daß die Kellner wie angewachsen stehen blieben auf dem Punkte, wo sie eben standen. Es war ein schönes Weib. Dieser Wuchs, diese Augen! »Ach, wie beneide ich diesen Müllerburschen!« murmelte ein dreister Leutnant.

»Müllerburschen? Welchen Müllerburschen?«

»Der jetzt über ihre Lippen geht!«

Denn sie sang das Lied vom Müllerburschen.

Der Applaus war scharf und lärmend. Dreimal mußte sie kommen, nur zitterten einige davor, daß sie etwas beigeben könnte. Aber sie merkte schon etwas und tat es nicht. Sie bekam einen Riesen-Blumenstrauß. Ich rechnete mindestens zwanzig Obdachlose, die um den Preis dieses Buketts für ein paar Tage hätten versorgt werden können. Ein weiteres Musikstück fiel ab. Es war zu fein gewesen, zu zart und intim im Vortrage. Es war für Andächtige gewesen, während im Saale noch die Sorge um frisches Bier jede andere Stimmung schlug. Nun kam's an mich. Ich war bereits bescheidener geworden und hatte »Vor einer Gentiane« aufgegeben. Während ich aufs Podium stieg, fragte mich flüsternd ein Komiteemitglied, wie lange mein Vortrag wohl dauern würde.

»Nicht über eine Viertelstunde.«

»Doch so lang? Na, schön.«

Mit Klatschen begrüßt, natürlich. Mir war's um etwas anderes zu tun. Das herrliche Gedicht wollte ich ihnen hinlegen, da sollten sie schon einmal sehen, daß es auf dieser Welt auch noch andere Dinge gibt, als Biertrinken, Kokettieren und Flirten. Rasch schlug ich das Buch auf mit dem erschütternden Gedicht: »Der Streik der Schmiede«. – Jemand hustete, dann war es ruhig, eine oder zwei Minuten lang. Hernach wieder Husten, hier und da ein klappernder Teller, ein Getrippel und im Nebensaal das Gemurmel der Menge. Pst! machte jemand, die Unruhe dauerte fort, steigerte sich. In den ersten Reihen der Tische gab es noch Andächtige. Aber weiter hinten! Es war verspielt. Ich hatte schon die Seele verloren und schrie das Gedicht mechanisch herab. Ich war in jenem schrecklichen Stadium, wo man vom Gemeinen suggeriert wird und nicht mehr loskann. Dachte nur noch an die Leute, und was sie über mich denken würden. Ich hörte die Witze gerade nicht, die hinten im Saale von jungen Leuten geführt wurden, aber ich fühlte sie.

»Diese Streiks waren mir immer in der Seele zuwider,« sagte ein junger Papierfabrikant. »Jetzt verfolgen sie einen noch in den Tanzsaal.«

»Er scheint überhaupt nicht mehr aufhören zu wollen,« murmelte ein anderer, nachdem ich an fünf Minuten gelesen hatte. »Ich glaube, er treibt Obstruktion.«

»Man sollte die Polizei rufen. Es gibt noch Streikbrecher in Österreich. Prosit!«

Ich hörte es nicht, bin aber ganz absolut überzeugt, daß derlei gewitzelt wurde. Solche Sachen empfindet man suggestiv. Übrigens, das Zusammenstoßen mit Gläsern hörte ich wirklich. Das Räuspern und Hüsteln und das undefinierbare Geräusch des Hinundherrückens mit Sesseln, das immer unbefangener werdende Trappeln flüsternd gerufener Kellner sagte mir immer freimütiger: Laß es gut sein, mein Lieber, mach ein Ende, denke, daß hinter dir noch ein paar Leidensstationen folgen, bis wir zum Tanzen kommen. – Mehr als einer blickte verstohlen oder auch auffällig auf seine Uhr. So rückhaltslos bin ich mit der Menge wohl selten einig gewesen in einer Meinung, als diesmal: Wenn ich nur schon fertig wäre! Man könnte ja plötzlich abbrechen, diesem holden Ungeheuer Publikum das Buch über die Köpfe hinwerfen und abtreten, aber ich glaube, daß sie auch diese dramatische Wendung nicht befriedigt haben würde. Mit Resignation las ich das Gedicht dahin und bei der Katastrophe, da erzählt wird, wie der Schmied den Agitator erschlägt, sah ich im Publikum mehrere Hände, die sich an die Stirne legten, entweder um das leichte Kopfschütteln zu verbergen oder das Gähnen – Wie man an einem Tanzfeste zum Vorlesen eine solche Wahl treffen könne! Geradezu mißbilligende Gebärden habe ich gesehen. Hingegen der Applaus am Schlusse meiner Vorlesung war von einer aufrichtigen Herzlichkeit. Eine rührende Dankbarkeit, daß ich zu gunsten der tanzlustigen Paare die »Obstruktion« doch gnädig aufgegeben hatte. Ein Alp schien der Versammlung vom Herzen gerutscht zu sein. Ich tat fröhlich mit den Fröhlichen, insgeheim hatte sich in mir ein grauenhafter Schwur entladen: Nie wieder!

Der Violinspieler, der jetzt an die Reihe kam, war ein kluger Mann, der hatte eben aus der gemachten Erfahrung etwas gelernt. Er müsse sich entschuldigen, seine Geige sei plötzlich heiser geworden. Das Komitee bedauerte es unendlich, versicherte dem Künstler aber, ihm sehr verbunden zu sein für die große Güte seiner Bereitwilligkeit; wenn er sich unwohl fühle, werde wohl kein Mensch so indiskret sein, Unmögliches zu verlangen.

Nun noch der humoristische Mundart-Vorleser. Sie erwarteten ihn mit Gier. Erst noch eins lachen und dann – tanzen. Schnurren, dachte ich, würden kommen und dann dürfte er ihnen ein paar saftige Liebesliedeln in die Adern spritzen. – Der Mundartmann kam auf seinem Weg zum Podium an meinem Tisch vorüber und flüsterte mir über die Achsel zu: »Herr Doktor, ich werde Sie rächen.«

»Wie? Was werden Sie?«

»Ich lese Ihnen Stelzhamers ›Ahndl‹, die dauert drei Stunden lang.«

»Um des Himmelswillen, nein!« hauchte ich ihm erschrocken zu.

»Erbarmt Sie diese Meute?«

»Gewiß nicht. Stelzhamer würde mich erbarmen. Haben Sie so viel Achtung vor Ihrem großen Landsmann, um ihn nicht den Tanzwütigen unter die zappelnden Beine zu werfen.«

»Ich werde den Bedürfnissen nach allen Seiten hin Rechnung tragen,« sagte er und stieg aufs Podium. Dort setzte er sich behaglich an den Vortragstisch, zog einen Pack Papier aus der Brusttasche, legte die Blätter ordnend vor sich hin und begann ruhig zu sprechen:

»Meine geehrten Damen und Herren! Der Einladung eines ebenso wissenschaftsfreundlichen als kunstsinnigen Festkomitees, eine Charakteristik der Volksmundart im allgemeinen und der oberösterreichischen Mundart im besonderen zu geben, bin ich recht gerne nachgekommen. Denn die Philologie ist eine höchst wichtige Wissenschaft, ja, ich möchte sie die Mutter aller Wissenschaften nennen. Wenn ich mich auch in Hinblick auf die vorgerückte Zeit nicht mit jener systematischen Gründlichkeit in die Überfülle des Stoffes vertiefen kann, die wohl wünschenswert wäre, so wird es doch unerläßlich sein, vorerst in dem Hauptsächlichen die vergleichende Methode einzuschlagen, bevor wir dann die Einzelheiten näher beleuchten können.«

Nach diesen einleitenden Sätzen eine kleine Pause. Das Publikum war erstarrt, eine junge Dame am Nebentisch tat einen stöhnenden Seufzer, als ob ihr meuchlings und lautlos der kalte Stahl ins Herz gestoßen worden wäre. Gräfin Trenn-Sigloff rang stumm die Hände und sah sich nach Hilfe um.

Der Redner fuhr fort: »Indem ich mich selbst der gebotenen Kürze zu befleißigen habe, will ich den großen Vorteil der Kürze und Präzision, der in der Volksmundart liegt, sofort an einem Beispiel zeigen. Ich nehme zu diesem Zwecke ein erstbestes hochdeutsches Gedicht zur Hand, »Ballmusik« überschrieben. Es lautet:

Lasset doch bei Euren Kränzchen
Amor in die Saiten greifen,
Anstatt daß zu jedem Tänzchen
Euch die Dichter sollen pfeifen.
Traum, es ist mit anderen Dingen
Vollgerüttelt unser Ranzen.
Pfeifet ihr auf unser Singen,
Pfeifen wir auf Euer Tanzen.

Und jetzt verehrte Zuhörer geben Sie acht, wie dieser im Hochdeutschen so wortreich und umständlich ausgesprochene Gedanke in der Volksmundart mit zwei Wörtern ebenso treffend als erschöpfend zum Ausdrucke kommt, ich sage, mit zwei Wörtern, die fast klassisch anmutend ans Altägyptische oder besser ans Chaldäische erinnern, mit den geradezu köstlichen Wörtern: lects mi!«

Der Redner machte eine Verbeugung und stieg herab. Der Applaus war großartig, er entsprach der freudigen Überraschung über den unerwartet plötzlichen Schluß. Ob man etwas verstanden hatte oder nicht, das große Verdienst des Redners bestand darin, daß er's doch noch so kurz gemacht hatte.

Und nun begann die Gewalttätigkeit. Wie die mitwirkenden Künstler moralisch hinausgeworfen worden waren, so wurden es die Tische und Stühle nun tatsächlich. Die Kellner und Hausknechte wurden wacker unterstützt von Herren und Damen, bis der Saal von allem Möbelwerk geräumt und die Bahn zum Tanze frei war. Dann rückte Cupidos Leibgarde an, die sechsundzwanzig Mann starke Militärkapelle.

Ich hatte Hut und Überrock gefunden. Während die Kapelle schon den ersten Straußischen aufspielte, und die Menschheit als Männlein und Weiblein zu strudeln begann, fragte ich am Ausgange den Kassier, wie es gehe.

»Vorzüglich!« antwortete er. »Ein kleines Defizit wird's geben.«

»Wieso ein Defizit?«

»Die hohe Miete des Tanzsaales, die Ausschmückung desselben, die Kapelle. Aber das macht nichts.«

»Ah so!«

Nun verstand ich. Eigentlich bloß um ein Tanzkränzchen hatte es sich gehandelt. Und das sollte aufgeputzt werden mit dem Schilde der Wohltätigkeit und mit ein paar populären Künstlernamen, die als Lockvögel Dienste leisten. – Wen geht's übrigens was an? Das Defizit wird vom Armenhausverein ja gedeckt werden.

Durch die nächtlichen Straßen strich ein schneidig kalter Wind. In einem zierlichen Hüttchen, das anderen Zwecken zu dienen hat, kauerte etwas. Bei dem Scheine eines Streichhölzchens zeigte sich ein in Lumpen gehüllter junger Mensch, der mit den Zähnen klapperte und am ganzen Körper fieberte.

»He, was machen Sie da? – Kein Obdach? Paperlapap, es geschieht genug an Wohltätigkeit. Hören Sie die Musik? Hören Sie nicht, wie eifrig man schon wieder tanzt für die Armen!«


Mit dieser Erzählung eines Freundes sei die Reihe nixnutzigen Volkes würdig beschlossen.

 


 


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