Peter Rosegger
Nixnutzig Volk
Peter Rosegger

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Der Armeleut-Sucher.

In den sechziger Jahren war's, als eines Tages ein merkwürdiger Mensch nach Alpel kam. Auf einem Steirerwäglein war er dahergefahren mit einem stattlichen Schimmel, den er selbst leitete. Auch er war stattlich, hatte ein rundliches Bäuchlein, um das der breite Ledergurt geschnallt war, wie ums Faß der Reifen. Vor diesem Bäuchlein soll er sich gefürchtet haben, daß es allmählich für die dünnen Beine zu groß und schwer werden könnte. Einer jener Hammerwerksbesitzer aus dem Murtale war er, denen es um jene Zeit noch so gut ging, bei denen das Gewerbe noch so glatt in der Väter Geleise lief, daß sie selbst ihre leibliche und geistige Tätigkeit vorwiegend auf Essen, Trinken und andere vergnügliche Übungen anwenden konnten. Weil es standesgemäß war, tat's auch der Wolfhardt von den sieben Hämmern. Dabei traf ihn aber das Mißgeschick, daß er fett wurde. Der Arzt verordnete ihm eine Abmagerungskur, er aß ein halbes Jahr lang nur Gemüse, Obst, spärlich Rindfleisch, und wurde dabei noch beleibter. Denn der Appetit war für alles vorhanden, für Sauerkraut wie für Kapauner, für Apfelbrei wie für Torten, für Obstmost wie für Bier und Sekt. Alles schmeckte ihm, alles bekam ihm wohl; doch nun hatte der Wolfhardt von den sieben Hämmern hinter seinem Speckwanste seltsamerweise noch ein Herz, das sonst hinter solchen Wülsten leicht zu ersticken pflegt. Ein Kanzeleiferer, ein fremder Gastprediger, hatte es aufgeweckt. Der Christ gehöre dem Reiche Gottes, das dort ist, wo die Ärmsten der Armen sind. Der Richter komme um Mitternacht und fordere Rechenschaft über die Verwaltung des Vermögens. Ein bißchen Herz für die Armen hatte Wolfhardt ja immer gehabt; nun, bei seinem Wohlleben fielen ihm sehr oft solche Leute ein, die nichts oder nur ungenügend zu essen hatten, und die in Gefahr waren, an Auszehrung zu sterben, während er im Speck umzukommen fürchtete. Zum Glücke gestatteten es seine Vermögensverhältnisse – denn er hatte die sieben Hämmer an eine Gesellschaft für schweres Geld verkauft – den Armen etwas zukommen zu lassen, um so leichter, als er unverheiratet war. Nur kamen ihm auch in dieser Sache Bedenken, wie Wolfhardt ja einer von denen war, die besonders in gesetzterem Alter vor lauter Bedenken zu keiner Betätigung kommen können. Freilich wollte er Arme ernähren, fürchtete darüber aber, die Allerärmsten zu übersehen. In seiner Gegend gab es ja Leute genug, die sich kümmerlich fortbrachten, aber sie brachten sich trotzdem fort. Eigentlich Arme gab es nicht, während in anderen Tälern, besonders in den unfruchtbaren Gebirgsgräben, gewiß auch solche Leute sein würden, die an Entbehrung und Hilflosigkeit zugrunde gehen müssen. Was nun, wenn sein Leben im Fette plötzlich erstickt und die arme Seele muß dem strengen Richter Rede stehen, wie es mit der Nächstenliebe gewesen sei? Ob zur selben Zeit, da er sich seinen Speck geholt, nicht Mitmenschen an Hunger gestorben wären? – Wenn Wolfhardt daran dachte, wurde ihm übel. Eines Tages spannte er seinen Schimmel ein, setzte sich auf den Wagen und fuhr ins Land hinaus, um Arme zu suchen.

So war denn dieser merkwürdige Mensch in unser Alpel gekommen. Er hatte ein breites Gesicht und einen falben Backenbart, der auf dickem Halse wie ein wulstiger Pelzkragen herumlag. Die Äuglein schienen verwachsen zu wollen; das eine war abgestanden, er hatte daran ein »Blümerl«, wie die Leute sagten. Mit dem anderen lugte er schlau hin, und den Kopf mit dem befederten Steirerhute neigte er im Gespräche schief vor, weil er etwas schwerhörig war. Trotzdem sah man ihm die Behaglichkeit an, mit der er in seiner wohlgepolsterten Haut stak. Aber mit unserer Gegend war er nicht ganz zufrieden. Die alten großen Bauernhöfe mit frisch-heiterem Gesinde, die weiten Haferfelder, die saftigen Wiesen und Weiden mit den beleibten Rindern, die schlagbaren Waldungen sahen nicht danach aus, als ob er sich in einem Tal von Notleidenden befände. Doch wies ihn der Ortsrichter in die Grabelhütte. Dort wäre freilich wohl Elend daheim. Hochwasser habe die Wiesen verschüttet, die Lawine eine melkende Kuh begraben, dazu hätten die Leutchen ihr Grundbuch voll Schulden.

Ja, das könnte etwas sein, dachte Wolfhardt, und ließ sein Rößlein gegen die Grabelhütte traben. Vor derselben saß ein altes Mütterlein und kräutete Feldrüben ab. Sie antwortete auf sein Befragen, sie müsse lügen, wenn sie sage, es gehe ihnen gut. Aber zu beißen hätten sie allerweil noch ein bissel was, gesund seien sie auch und das sei die Hauptsache. Auf Borg, wenn er geben wolle, nähmen sie schon, aber schenken hätten sie sich noch nichts lassen müssen. Da sei die alte, kranke Sina oben in der Kohlstatt freilich wohl ärmer dran.

»Ich kann natürlich nur die Ärmsten bedenken,« sagte Wolfhardt, wünschte schön guten Tag und ließ sich von einem Hirtenknaben hinausbegleiten zur Sina in der Kohlstatt. Das Fuhrwerk mußte zu Tale bleiben und der stattliche Herr schnaufte und schnob den steinigen Bergweg hinan, blieb alle zehn Schritte stehen, um sich mit rotem Sacktuch Gesicht, Haupt und Nacken zu trocknen. Zum Glücke für seine Lunge begegnete er der Sina schon unterwegs. Wie eine dünne braune Raupe kroch sie am steilen Berghange herum und sammelte Preiselbeeren in einen Korb. Bis der Korb voll sei, entgegnete sie auf Wolfhardts Anrede, laufe sie mit demselben ins Mürztal und verkaufe die Preiselbeeren.

»Aber Ihr sollt ja krank sein, höre ich?«

»O, freilich wohl. Seit Jahr und Tag krank. Dazu hat mich die Gicht, wissen S'; aber ins Mürztal dermach' ich's schon noch.«

Die ist krank und hat noch dazu die Gicht und lauft mit dem Beerenkorb ins drei Stunden entfernte Mürztal. Andere sind gesund und können nicht einmal das Rückerl Berg herauf.

»Werden Euch die Preiselbeeren wohl gut bezahlt?«

»Das glaub' ich!« kreischte sie lachend auf, »Heuer schon gar, weil's nit g'raten sind. Und die Kindberger Frauen brauchen sie zum Einsieden.«

»Wie viel bekommt Ihr denn für so einen Korb voll?«

»Gar fünf Sechserln hat sie mir gegeben, 's letztemal, die Frau Lebzelterin. Lebt eins davon wieder prächtig eine ganze Woche.«

»Verdient Ihr Euch nicht auch auf der Kohlstatt?«

»Seit etlich' Jahren nimmer. Mein Mann hat dem Riegelberger seinen Wald verkohlt, nachher ist er gestorben. Hock' ich jetzt halt allein in der Hütten und heiz' mir schön warm ein.«

»Die Hütte gehört doch Euch?«

»Ei wo? Wird die Hütten mein gehören! Ist dem Riegelberger seine. Ich wohn' halt gleich so drin und wenn keine Gichtwochen sind und es geht 's Beerengeschäft soweit, aftn fahlt mir nix.«

»Sagt mir, gute Frau, gibt's in dieser Gegend herum nicht irgendwo arme Leute?«

»Arme Leut'?« sagte die Sina langsam nach und besann sich. »Die armen Leut' gfolgen (langen) freilich überall aus. Aber da weitum wüßt' ich nit recht. Müßt nur der Hautjud! Sollt' der Herr nit beim Zwickel-Sommerstall vorbeikommen sein? Dort hat er alleweil gewohnt mit seinen Häuten. Na, dem gehts freilich schlecht.«

Beim Waldbauern hat der Hammerherr näheres erfahren über den »Hautjuden«. Das sei ein armer Hausierer, der seit zwanzig Jahren in Alpel und Umgegend herumgehe, um Tierhäute zusammen zu kaufen. Besonders nach Hunde- und Katzenhäuten, die billig zu haben seien, stehe sein Sinn. Aber auch Wiesel- und Marderfelle, Fuchshäute und Rehdecken könne er brauchen, was manchem Wildschützen schon etliche Groschen eingetragen habe. Gewohnt habe er in schlechten Bodenkammern oder Scheunen oder leerstehenden Ställen, wo er auch seine Hautlager gehabt. Auch ein Jüngel wäre bei ihm gewesen, das in ersteren Jahren mit dem Alten, später selbständig hausieren gegangen und große Bündel von Häuten, aber auch Fetzen, altes Schuhwerk und Knochen, rostiges Blech, Haar von Pferde- und Ochsenschwänzen gesammelt habe und andere Dinge, die in Bauernhöfen unbrauchbar, fast umsonst oder gegen etwas Bandelzeug, Zwirn oder Nadeln an die Hausierer abgegeben werden. Hatten sie einen größeren Vorrat beisammen, so ließen sie ihn mit Ochsen zur Eisenbahn hinausführen und verreisten selbst auf einige Zeit, bis sie plötzlich wieder da waren, Häute, Lappen, und allerlei Trödel sammelten.

Als der Knabe zu einem schmächtigen, blassen jungen Manne herangewachsen war, der unter seiner langen herabgebogenen Nase den schwarzen Bartanflug bekam, wurde er auf einmal in der Gegend nicht mehr gesehen. Der alte Jude ging immer allein umher, und wenn man ihn fragte nach seinem Sohne, tat er einen Seufzer. Er mußte wohl ein schweres Anliegen in sich tragen. Da er von bescheidener, gutmütiger Art war, hatte man ihm nie etwas in den Weg gelegt. Als sich jetzt sogar Teilnehmende an ihn heranmachten, blieb er verschlossen und traurig, so daß die gebückte alternde Gestalt, die so arm und menschenverlassen war, oft Mitleid erregte. Die Gemeindeältesten hatten schon zur Sprache gebracht, was mit ihm etwa zu geschehen habe, wenn er krank und siech würde. Denn er hatte keine Papiere und wußte selbst nicht, wohin er zuständig wäre. Er wußte nur, daß seine Leute vor vielen Jahren aus Galizien eingewandert waren und daß er Kochel Beinkopf heiße.

Zu diesem alten Juden nun wurde der Wolfhardt von den sieben Hämmern gewiesen, der nach Alpel gekommen war, um unter Armen die Ärmsten aufzusuchen.

In Zwickels Sommerstall, einem alten, verfallenden Holzbaue, war aber der Jude nicht zu finden. »Der Hebräer ist fort mit Haut und Haar!« rief ein Wegmacher aus, der vor dem Stalle Steine klopfte. »Gestern ist die letzte Fuhr mit Tierhäuten und Ochsenschwanzhaaren fortgegangen; ich glaub', sie haben ihm's gepfändet. Sein Jüngel wird sich wohl das Leben genommen haben, weil es ihnen gar so schlecht 'gangen ist. Jetzt ist der alte Beinkopf auch ins Wasser oder wohin. Schade! Immer einmal ein paar Kreuzer Tabakgeld hat man doch gelöst bei ihm.«

Der Wolfhardt war von dieser Auskunft gar beunruhigt worden. Den Ärmsten auf die Spur kommen und gleichzeitig versäumen! Er fuhr ins Mürztal und fragte beim Kaufmanne in Krieglach an, ob denn niemand etwas wisse vom Hautjuden, dem Kochel Beinkopf.

»Von dem steht's ja heute in der Zeitung«, entgegnete der Kaufmann und holte ein Wiener Blatt aus der Lade (denn das war einer, der die Zeitungen noch vor den Kindern versperrte).

»In der Zeitung? Ist ihm doch nichts zugestoßen?«

Der Kaufmann las: »Geschäftseröffnung. In der Leopoldstadt Nr. 813 ist unter der Firma Kochel Beinkopf und Sohn eine neue Lederhandlung eröffnet worden, in welcher die gefälligen Kunden mit allen Sorten von Rohware sowie mit allen in die Branche schlagenden Artikeln reell und billig bedient werden.«

»Der Beinkopf?«

»Kochel Beinkopf und Sohn!«

»Der alte Hausierjude von Alpel?«

»Der nämliche!«

Nun sah es der siebenfache Hammerschmied wohl ein, daß er mit der Armeleut-Sucherei kein Glück hatte. Und so ist es dem Hammerherrn bei seinem Nächstensuchen in der Ferne ergangen. Wäre er nicht gerade zu bescheidenen Menschen eines abgefriedeten Gebirgstales gekommen, er hätte leicht ganz andere Erfahrungen machen können.

Ungefähr um dieselbe Zeit soll unser barmherziger Wolfhardt aber auf Arme aufmerksam gemacht worden sein, an die er nicht gedacht hatte oder die ihm aus dem Gedächtnisse entschwunden waren. Da der Hammerherr unverheiratet gewesen war, so glaubte er wohl, auch keine Familie zu haben. Dem war nicht so. Es gab in der Gegend der sieben Hämmer manchen jungen, halb verkommenen Menschen, sogar Wesen, noch in Kinderhauben, die wohl von einer Mutter wußten, aber von keinem Vater. Die Mütter hatten sich mit Geldbeträgen abfertigen lassen und so schien alles in bester Weise geschlichtet zu sein. Aber der Kurat blätterte manchmal im Pfarrbuche und lud auch den dicken Hammerherrn ein, einmal ein wenig in dieses Buch zu gucken. Der Schullehrer machte ihn eines frostigen Spätherbsttages auf zwei barfüßige Kinder aufmerksam und der Gemeindevorstand wußte von einem halberwachsenen Burschen, der so verwahrlost und verroht war, daß er schon ein paarmal vom Gemeindediener hatte in den Kotter geführt werden müssen. Der Wolfhardt hat gar nicht viel gefragt, wem solche Gewächse wohl angehören möchten, er hat sich bei der Nase genommen und gedacht: Der Mensch hätte nicht nötig, den Armen in die fernen Bergtäler nachzulaufen weil im Katechismus eigentlich nicht von der Fernstenliebe, vielmehr von der Nächstenliebe die Rede sei. Wenn es jener Kanzeleiferer zwar einmal so auslegte, als dürfe der wahre Christ eine Familie gar nicht erkennen, sondern solle über die Köpfe derselben hinwegsehen nach »Brüdern in Christo«, die noch hilfsbedürftiger sein könnten, und er müsse den Gottesverwandten eher als den Blutsverwandten helfen – so pfiff jetzt der siebenfache Schmied auf solche Lehren, kümmerte sich nicht um ferne, unbekannte Arme, sondern blieb im Lande und nährte redlich die Seinen.

 


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