Peter Rosegger
Nixnutzig Volk
Peter Rosegger

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Der hohe Herr.

Sie brauchen nicht auf mich zu warten, können zurückfahren. Ich komme über Hochlassing in einigen Tagen retour.«

»Sehrwohl.«

Der Kutscher schnalzte mit der Zunge, die vier Rappen hoben flink ihre Beine und der Wagen rollte fast lautlos auf der glatten Straße dahin.

Der Herr und sein Diener standen auf dem Anger, wo der Fußweg von der Straße abzweigt in den Wald hinein und einen ansteigenden Graben empor, zwischen steilen Bergen.

»Also, Berthold, jetzt zeigen Sie mal Ihre Touristenpraxis.«

»Zu dienen.«

»Ins Windlegtal. Es geht heute wohl noch bequem!«

»Zu dienen, Euer Gnaden.«

Dann schritten sie fürbaß. Voran der Diener in Gamaschen, mit strammgepacktem Rucksack, in dessen Achselriemen eine gefleckte Tigerpelzdecke und ein grauer Tuchmantel geschnallt waren. Der Herr, etwa zehn Schritte hintendrein, in grauem Touristenanzug, roten Bundschuhen und mit Bergstock. Es war ein hübsch junger Mann. Der Weg wurde bald steil; als die Steine des Baches aufhörten, der sich stellenweise über den Weg ergoß, begannen die natterbraunen Baumwurzeln und die über den Weg laufenden Eichhörnchen. An beiden Seiten die rötlichen Schafte des dunklen Fichtenwaldes, die bis hoch hinauf astlos waren und oben das finstere Gewölbe des undurchdringlichen Geästes trugen.

Sie waren kaum eine Stunde angestiegen, so schnaufte der junge Mann.

»Laufen Sie doch nicht so. Berthold!«

»Zu dienen, Euer Gnaden.« Und der Berthold stand.

Nach der zweiten Stunde war immer noch ansteigender Wald, nichts als Wald, hie und da wildes Gebüsch, kahlstehender Fels.

»Wie lange dauert nur dieser infame Berg noch?«

Der Diener schwieg, denn er sagte nicht gerne etwas, das dem Herrn nicht gefiel.

»Leg' ab und gib einmal etwas Proviant heraus.«

»Zu dienen, Euer Gnaden.«

»Höre, Berthold, laß das dumme ›zu dienen, Euer Gnaden‹ sein. Rede vernünftig.«

»Zu dienen, Euer Gnaden. – Pardon!«

In der dritten Stunde kamen sie zu einer Lichtung, wo aus schwarzen Kegeln weißer Rauch aufstieg. Daneben ein aus Holzblöcken gezimmerter Kobel. Ein rußiger Mann war da, dessen zerflicktes Beinkleid mit einem Strick über dem Hemde zusammengehalten war, Er hatte eine Schaufel und stieg mit derselben auf einem der schwarzen, rauchenden Kegel umher.

Der Tourist stand still und fragte: »Was machen Sie nur da?«

Der Schwarze schaute den Fragesteller mißmutig an und schaufelte schwarzes Zeug hin und her.

»Was Sie da treiben, frage ich!«

»Das seht Ihr ja,« antwortete der Schwarze. Der Diener erklärte dem Herrn die Kohlenbrennerei.

»In Paris sieht man derlei nicht.«

»Sagen Sie, Mann, wie weit ist es von hier bis in das Windlegtal, wo das Berghaus steht?«

»Kunnt's nit sagen. Bin noch nie oben gewesen,« antwortete der Kohlenbrenner. Der Diener berechnete nach einer Karte, daß es länger als vier Stunden nicht mehr sein könne. Der Herr begann zu fluchen.

»Wäre hier herum vielleicht irgendwo eine Sänfte zu haben?«

Der Köhler wies die Fremden in die Blockhütte, denn er wußte nichts mit ihnen anzufangen. Die Weiber sind findiger. In der Hütte brannte mitten auf dem Lehmboden ein Feuer, dessen Rauch und Funken ins finstere Bretterdach aufstiegen. Vor dem Feuer kauerte ein altes Weib in vergilbten Lappen, barfuß, aber das Haar sorgfältig um das Haupt geflochten. Die Arme braun und hager, entblößt bis hinter den Ellbogen, der immer eine Art Rechteck machte, wie sie auch herumarbeitete am Herd, mit den Scheitern und mit der Pfanne.

In der Pfanne kochte so etwas, wie Wasser und Mehlnocken. Daneben kauerte ein Knabe in verschlissenem Hemd und wollte mit dem Holzspießchen in die Pfanne fahren, um eine Nocke herauszustechen, obschon das Weib immer keifte, sie wären noch nicht gar. Da der Hunger des Knaben schon sehr groß sein mochte, so biß er in seine Faust. In einem Winkel auf Stroh balgten sich zwei andere Kinder um eine Hose. Jedes wollte hinein, sie hatte aber nur für eines Raum und dieweilen das eine aufrecht im Kleid umherstolzierte, mußte das andere im Neste bleiben.

Dieses seltsame Schauspiel beobachtete der Herr durch die niedrige Tür hinein. Doch ob man hier herum irgendwo eine Sänfte haben könne, das wußte auch das Weib nicht. Erst als der Diener ihr deutlich machte, daß es sich um eine Tragbahre handle, schlug sie die dürren Hände ineinander. Wer denn verunglückt sei? »Dieser Herr, dieser junge, schöne Herr? Na, der hat ja Läufeln wie ein Reh!«

»Aber nur deren zwei, liebe Frau, und er ist gewohnt, mit acht Beinen zu traben oder gar mit sechzehn!«

Das verstand sie nun wieder nicht. Nach langem Gerede kamen sie allerdings so weit, daß die Köhlersleute inne wurden: Der Herr möchte gerne in das Windlegtal und zum Berghause hinauf und weil er nicht mehr marschieren könne, so suche er Leute, die ihn trügen.

»Jetzt bin ich deutsch,« sagte der Kohlenbrenner. »Das ist einer von der Gattung – weiß schon. Jetzt, ich tät den Hascher schon in den Buckelkorb nehmen, Hab' vorige Woche einen ganzen Sauspeck hinaufgetragen, aber der Meiler laßt mich nit fort. Ein halbes Stündl, wenn der Herr noch hermachen kunnt, bis zu den Holzknechten hinauf. Die täten schon so etwas zusamm'richten und sind starke Saggra.«

»Ich würde auch anständig bezahlen, wenn Ihr dran wolltet.«

»Hab' schon gesagt, ich kann vom Meiler nit fort.«

Dann kamen sie doch ins Gespräch.

»Der Meiler da? Der scheint Euch viel einzubringen.«

»Daß man halt lebt. Auf fünf Gulden mag einer gelangen.«

»Des Tages?«

»Wieso? Drei Wochen brennt er halt, so ein Meiler.«

»Drei Wochen? Fünf Köpfe? Fünf Gulden? Das ist kein schlechter Spaß.«

Dann nahm der Herr einen der Jungen auf, daß er sie führe bis zu den Holzknechten. Aber der Junge mußte erst mit dem Gewande zusammenkommen: vom Bruder die Hose, vom Vater die Joppe, von der Mutter den Filzhut – dann war er wohl tapfer gestellt und begleitete die Herren bis zu den Holzknechten. Zwischen dem Gestämme huschte hier lautlos ein Reh, sprang dort ein schwerer Hirsch, mit seinen Geweihen dürres Astwerk knickend, daß es raschelte. Dann wieder schwirrten aus dem Haidekraut Wildhühner auf und über den Köpfen der Wanderer hüpften immer wieder Eichhörnchen von Ast zu Ast.

Bald ging es ganz steil an. Doch je schlimmer es wurde über Stock und Stein, je trotziger fühlte sich der Herr. Boulevard war das allerdings keiner, aber der Teufel noch einmal! – Beim Fluchen wird der Mensch allemal stärker, für den Augenblick wenigstens. Doch als sie ins Schlagholz kamen, half auch das Fluchen nicht mehr. Da lagen sie in kreuz und quer über den Weg, die gefällten und entrindeten Bäume, einer über den anderen, dazwischen die Wälle des halbdürren Geästes, die Reisigstöße, die Rindenhaufen, Barrikade um Barrikade über den ganzen weiten Plan hin. Darüber die heiße Sonne, einen harzigen Dunstbrodem legend über dieses abscheuliche Schlachtfeld. Der Knabe begann ohne alle Umständlichkeit über das Gebäume und alles Blockwerk dahinzuhüpfen unter seinem Hute, der ihm über das Näschen, in seiner Jacke, die ihm bis zum Knöchel ging. Das wulstige, schlotternde Gewand war schier ohne Inhalt, wie ein komisches Gespenstlein sah das aus.

Der Herr stieg, ritt, kroch, schlüpfte, kletterte, rutschte, sprang, fiel, raffte sich wieder auf und begann endlich, da das Fluchen absolut zu nichts führte, sich lustig zu lachen. Wie sich der Berthold mit dem großen Rucksack weiterhalf, das war seine Sache.

»Hast du dich schon zutodt gefallen, Berthold?«

»Zu dienen, Euer Gnaden.«

Drüben am Waldrande schmetterte es, unter dumpfem Gedröhne stürzte ein Baum zu Boden, während das Rauschen der Säge, das Pochen der Beile schon das Sterben der nachbarlichen Stämme kund tat.

»Selben sein die Holzknecht!« rief der Knabe und lief den Hang hinab.

»Kleiner, so warte doch!« Nein, der Junge hielt seine Aufgabe für gelöst und der Herr mußte seinen Dukaten wieder in den Westensack stecken.

Dann setzte er sich auf einen Stock, aus dessen Poren just kein Pech floß und schaute den Holzhauern zu bei ihrer Arbeit. Die schwitzten so heftig, daß der prickelnde Dunst bis zu den Stadtnasen herüberkam, aber sie zeigten keine Müdigkeit; langsam, gleichmäßig, wie aufgezogene Automaten sägten sie, hieben sie, hackten sie. Andere schälten die Rinde los, so daß der weiße, feuchte Bast offen lag; andere zimmerten an einer endlos langen rinnenförmigen Brücke, die schräge den Hang hinabging gegen die Schlucht zur Kohlstatt.

All diese Dinge wußte der Herr sich anfangs nicht zu deuten. Später haben ihm's die harzigen Waldteufel erklärt. – Der Wald zieht sich stundenlang hin, die Bergkuppen dort hinten, sie sind blau aus lauter Ferne, sie gehören noch zu diesem Walde, und so wie hier werden mit der Zeit alle Bäume, die Millionen, geschlagen und verkohlt oder zu Bauholz, zu Brettern verarbeitet. Und das, das geht immer so fort, jahraus, jahrein. So ein Holzhauer kommt mit seinem Rückenkorbe Sonntags abends oder Montags früh stundenweit aus einem Dorfe herauf, heimt sich die Woche über in der Blockhütte ein, die dort oben steht, die Käser nennt man sie. Dort haben ihrer ein Dutzend Nachtlager und den gemeinsamen Kochherd. Um sechs Uhr früh gehen sie in den Schlag, um sechs Uhr abends spannen sie aus. Ist der Wald weitum geschlagen, so brechen sie die Hütte ab und bauen selbe an gelegentlicherer Stelle wieder auf. Am Samstag gehen sie hinaus in ihre Dörfer. Die einen haben Weib und Kind, die anderen sind nichts als Knechte, wissen nichts als Schlag und Kohlstatt und haben nichts als ihren Rückenkorb, den Behälter für Werkzeug, Mehl und Fett. Denn Mehl und Fett, das ist die Nahrung dieser starren Kraftkerle, die freilich vorzeitig verbogen, hinkend, lahm und kernmorsch werden, denn die Arbeit ist aufreibend und voller Gefahr, so frisch und idyllisch sie aussehen mag in Gottes freier Natur. Da vergeht kein Jahr, ohne daß die stürzenden Stämme sich rächen – diesem ein Bein, jenem schnurgerade das Leben nehmen. Es ist ein Kampf.

Für die Holzhauer hatte der Diener schon einen andern Ton. »Und jetzt sage mir einmal, lederner Kerl mit dem Rindengesicht, wollet ihr eine bequeme Tragbahre bauen und euer vier Mann diesen Herrn da in das Windlegtal hinauftragen?«

»Können mir nit tun, weil der Holzmeister nit da ist. Was uns der schafft!«

»Sakerment, kann denn gar nichts sein! Und wo ist der Holzmeister?«

»Der?« Der Holzknecht lacht. »Der ist heut' 'gangen Wildschützen fangen mit dem Jäger.«

»Wildschützen?!« Der Herr horcht auf, das interessiert ihn. Das ist kernfrische Romantik. Auch ist er ein großer Jagdfreund, einstweilen allerdings nur in der Theorie, denn zu Paris jagt man vorwiegend nur nach schönen Damen.

»Ei, Wildschützen, sagst du. Siehe, davon mußt du mir erzählen.«

»Hau, was gibt's da zu erzählen. Ist halt ein Wildschütz. So ein Waldbauer. Ein armer Teufel, dem die Hirschen und die Hasen das Kraut fressen.«

»Und ist der Jäger oder Förster denn sehr strenge?«

»Das glaub' ich, daß er streng' ist. Hat halt den Auftrag von der Herrschaft.«

»So. Und jetzt sage mir, was verdient sich so ein Holzknecht?«

»Verdienen? Nix. Wenn's Jahr zu End' geht, hat man g'rad' so viel, wie wann's angefangen hat. Übrig bleibt nix, als das Altwerden.«

»Und Pension?«

»Wer? Wir? Wir Arbeitsleute Pension? Von woher ist denn der Herr?«

»Fünf Gulden für den Mann, wenn ihr mich jetzt hinauf zum Berghaus tragt.«

»Hab's schon gesagt, 's ist der Holzmeister nit da. Und wir müssen jetzt die Schicht fertig machen im Holz.«

Der Berthold, ein treuer Diener seines Herrn, zerrte den Holzhauer am Hemdärmel hinter eine junge Lärche und duschelte ihm etwas ins Ohr. Der Waldmensch schnupperte mit der Nase, lugte unsicher umher, rief hohlstimmig einen Kameraden.

Dann hoben sie etliche Fichtenäste auf, banden sie mittelst jungen zähen Zweigen ineinander und die Sänfte war fertig. Ein Riesen-Geiernest, da setzte der Herr sich hinein. Vier Holzknechte hoben es an den nach außen stehenden Astschäften und so ging es sachte bergan. Der Berthold stieg hintendrein und hatte wachsamen Blick, daß die Männer dieses Heiligtum hübsch wagrecht trugen und der Insasse nicht etwa nach einer schiefen Seite herabpurzeln konnte. Dieser hockte fast bequem in seinem duftenden Reisig, schmauchte eine Zigarre, um den säuerlnden Schweißgeruch der Träger zu verscheuchen und betrachtete sich die Gegend. Nach rückwärts war die Tiefe schon so bedeutend, daß die Wälder der Niederung in blauen Tinten lagen und die Berge jenseits schroff und massig anstiegen, dieweilen allmählich ein Kamm hinter dem anderen hervortrat. An beiden Seiten steile Lehnen, mit hellgrünen Sträuchern bewachsen, mit Felsklippen bespickt. Nach vorne stieg die Schlucht steil an über ein wildes Bachbett mit massigen Steinblöcken, die aber trocken und fahl waren; nur in einem tiefen Sandschrunde sickerte ein braunes Wässerlein. Das Engtal stieg im Gestein terassenförmig an und hinter der dritten Terrasse, als eine scharfe Felsrippe umgangen war, standen sie im Windlegtal und nun lag in einer weiten Runde die Eiswelt da. Im ersten Augenblicke schien es, daß die nächste Moräne mit einem flinken Steinwurf erreicht werden könnte. An einer weiteren Moräne oben, scheinbar nahe dem Gletscher, lag ein taubengraues Kästchen. Aber das dauerte noch länger als zwei Stunden, bis sie über Geröllfelder, über mattgrüne Almkessel, über Steinhalden und Kare bis zur tiefen Schlucht kamen, in welcher ein schweres Wasser dahintoste. Das Kästchen hatte mittlerweile Augen bekommen und die Augen waren Fenster, aber das Berghaus stand jenseits der Schlucht und mußte in einem großen Bogen erreicht werden. Glatt ging es nicht auf den acht Füßen, einmal stolperte dieser, einmal strauchelte jener im felsigen Geklobe; einmal tat von den Trägern dieser einen Fluch und dann machte jener einen Witz, den der Herr glücklicherweise nicht verstand. Im Hochkar waren sie zwei Jägern begegnet. Einer derselben schritt derb auf die Holzknechte zu und stellte sie zu Rede darüber, was sie da machten und ob sie nicht wüßten, daß kein Fremder durchs Windlegtal heraufgehen dürfe!

»Desweg' laßt er sich ja tragen,« sagte einer der Knechte schalkhaft. Ein zweiter lispelte dem Jäger etwas zu, dieser machte seine buschigen Augen auf, nahm den Hut ab, dann trabte er mit seinem Genossen weiter. Diese beiden Jäger aber trieben einen alten Mann mit sich. Derselbe schwankte gebeugt unter der Last eines todten Tieres, das er am Rücken trug, unsicher dahin; unter der niedergedrückten Hutkrempe war nur das spitze Kinn und der graue Schnurrbart zu sehen.

»Haben sie ihn halt doch derkrabbelt, den armen Teufel!« sagte' einer der Holzknechte. »Aber daß er einen Rehbock geschossen haben sollte?«

»Glaub' nit!« der andere, »den werden sie ihm nur aufgeladen haben. Der Kürsteiner Michel soll vorige Woche wohl auf einen Hirschen 'zielt haben, der ihm in den Garten ist ein'brochen. Aber nix 'troffen.«

»Und dennoch ein'gangen: Den lassen sie vor Weihnachten nit heim!«

Der Herr in der Sänfte hatte sich über diesen Fall noch einiges erzählen lassen, dann wurde er mißmutig. Und als sie an die Stelle kamen, wo der Weg – tatsächlich »Weg« nannten sie den Steinhaufen – steil anstieg gegen das Haus, da ließ er halten.

– Das ist doch zu dumm. Vier abgerackerte Männer müssen einen jungen, gesunden Menschen schleppen. Das ist doch zu dumm! – Hat er's gesagt? Oder bloß gedacht? Oder hat es nur der Berthold gedacht? Oder von den vier Holzknechten einer? Es ist nicht genau festzustellen. Kurz, der Herr war von seiner Tragbahre gestiegen und hatte die Männer entlohnt. Als sie ihre Fünfguldenscheine zwischen den knochigen Fingern hielten, glotzten sie blöde drein. Darf man das nehmen? Es ist ja ein ganzer Wochenlohn! Für die paar Stunden da.

»Wir werden's halt dem Meisterknecht geben,« sagte der eine.

»Hat mich der Meisterknecht getragen?«

Fast unwirsch war der Herr darüber, daß es in dieser Gegend gar so ehrlich zuging. So arm und so ungerecht und doch so ehrlich. Die Männer schüttelten ihre struppigen Köpfe, der eine warf vor lauter Staunen seinen schwammigen Filz zu Boden und hob ihn wieder auf. Und dann gingen sie – die Tragäste im Gestein liegen lassend – niederwärts gegen die Schlucht.

Die Wanderer stiegen nun den letzten Ruck hinan zum Berghaus. Das war nicht eines jener alten Hospize mit dicken Mauern, kleinen Guckfenstern und flachem, breit ausspringendem Dache. Es war ein ziemlich neues luftiges Gebäude mit zierlichen Balkonen und Dachgiebeln, fast mehr auf das Malerische, als auf das Feste bedacht. Der steinige Platz ringum war leicht eingeplankt, nach einer Seite fiel es steil in die Tiefe ab, hinterwärts ging ein in den Felsen gehauener Steig gegen die Eiswüsten empor. Die Kegel und Kare ringsum waren kahl, nur durch die Schlucht herauf blaute das Waldland.

Vor dem Hause stand ein kleiner Mann, der hatte eine Kniehose und eine Lodenjacke an, sein blonder Vollbart war städtisch gepflegt. Einen Feldstecher in der Hand, hatte er lange hinabgeforscht in die Kare, als dort die Männer langsam, mühselig und winzig wie Milben sich vorwärts bewegten. Nun trat er ihnen entgegen und lüpfte artig sein befedertes Hütchen. Das war der Wirt. Dann kam auch die Wirtin hervor, ihre Herzensfreude nur schlecht verhehlend, daß doch endlich wieder einmal ein paar Gäste kämen. Sonst war niemand zu sehen. An einem Wandvorsprung hockte eine scheckige Katze, in deren grünen Augen sich unbehagliche Überraschung spiegelte.

Im Vorhause waren Gebirgsstöcke, Eispickel und andere Ausrüstungen. Im eisernen Ofen des Gastzimmers prasselte bereits ein Feuer. An den Wänden desselben hingen Gebirgskarten, touristische Verordnungen und ein Speise- und Getränketarif.

In den Schlafstuben gab es Betten zur Auswahl, aber die Wollendecken fühlten sich etwas feucht an. In einem der Fenster saß wieder die scheckige Katze und tat schnurren, als sei ihr bange, ob nicht etwa gerade das Bett ausgewählt werde, in dem sie ihre Nachtruhe zu halten pflegte. –

»Nun, Herr Wirt, was kann man zum Souper haben?«

Der Berthold las den Tarif.

»Vor allem eine Bouteille Wein. Schön. Oder willst du erst ein Glas Bier, Berthold?«

»Flaschenbier, bitte, ist ausgegangen,« wendete der Wirt ein.

»Was denkst du über Rostbraten mit jungen Kartoffeln?«

»Rostbraten ist momentan nicht da.«

»Oder ein Backhuhn?«

»Will einmal die Frau fragen.« Sehr bald kam aus der Küche die Botschaft, mit Huhn könne man leider nicht dienen.

»So ist doch gewiß Wildbret vorhanden?«

»In voriger Woche hat's noch ausgezeichnetes Wildbret gegeben, meine Herren. Aber vor den Jagden darf nichts geschossen werden.«

»Also in Gottesnamen etwas von Eiern.«

»Vielleicht Schmalzeier mit Schnittlauch?« riet die Wirtin.

Der Berthold raunte seinem Herrn zu, der Schnittlauchvorschlag lasse vermuten, daß die Eier nicht mehr frisch sein würden.

»Aber du mein Gott, etwas Genießbares wird doch zu haben sein!« rief der Herr. »Es wird doch ein Stück Rindfleisch im Hause sein!«

»Lämmernes, wenn den Herrschaften gefällig wäre?«

»Also meinetwegen Lämmernes.«

»Es wird ganz frisch sein,« sagte der Wirt und eilte hinaus.

Sie setzten sich zum mit rotem Tuch gedeckten Tisch am Ofen, schenkten sich Wein ein und rauchten Zigarren. Dem Berthold war ganz eigen, daß der gnädige Herr so leutselig neben ihm saß und mit ihm plauderte, wie mit seinesgleichen. Der Herr schaute in die Hängelampe, die schon angezündet worden war, blickte dann zum Fenster hinaus, ins blasse, kalte Schneelicht des verglimmenden Tages, dann schüttelte er sich wie im Fieberfrost und lachte.

»Na!« rief er aus, »das habe ich mir etwas anders gedacht. Im Verhältnis zu dem, was man über dieses Gebirge spricht und schreibt, ist es verdammt einfach hier herum. Ich hatte mindestens ein paar Tische voll lustiger Touristen zu finden gehofft im Berghause. Ei sieh, da bringt die liebenswürdige Frau Wirtin ja Ansichtskarten mit unserem Alpenhotel. Schön. Das ist immerhin etwas. Wollen einmal den guten Freunden schreiben. Sage mir, Berthold, wenn du Ansichtskarten schreibst, fällt dir etwas ein?«

»Aber, Euer Gnaden! Dafür sind Ansichtskarten, daß einem nichts einzufallen braucht. Man schreibt den Namen darauf.«

»Und wenn einem der auch nicht einfällt? In der Tat, Berthold, ich muß mich besinnen. Es ist mir einigermaßen fabelhaft zumute. Wenn man sich aus der Riesenstadt monatelang nach Natur sehnt. Und wenn man da ist und sich sagt: Der kürzeste Weg zur Stadt zurück wäre mir der liebste!«

»Das gibt sich bald, Euer Gnaden. Morgen wird uns der heutige Tag schon Spaß machen.«

»Wo sollen wir denn morgen nächtigen?«

»In den Hammerwerken zu Moosbach. Wir wollen aber vielleicht doch die Gletscherwanderung nicht machen, schon aus dem Grunde, weil kein Führer da ist.«

»Zum mindesten hätte ich Gefolge mitnehmen sollen. Diese romantische Anwandlung!« Es war ihm ärgerlich.

Als der Wirt den Tisch deckte, Teller und Eßbesteck und viel Gewicht auf Pfeffer und Salzgefäß, auf Senf und Paprika, auf Servietten und Zahnstocher zu legen schien, wurde der Weg des nächsten Tages besprochen. Das Wetter würde aushalten, es streiche der Gletscherwind. Morgen über das kalte Gschwänd in sechs Stunden nach Moosbach. – Die Sänfte lag freilich noch unten im Steinkar, aber die Holzhauer waren zu früh entlassen worden. Über das kalte Gschwänd! Sechs Stunden! Der Wirt zuckte die Achseln, dort wäre ohnehin noch guter Weg, von Moosbach her sei es nicht gesperrt.

Der Berthold blätterte im Fremdenbuch. In den letzten Jahren standen nur wenige Touristen verzeichnet, doch lobten sie die freundlichen Wirtsleute, die Verpflegung war kaum erwähnt. Das neueste Blatt war herausgerissen.

Endlich kam die Frau Wirtin mit dem Lämmernen. Es war auf dem Porzellanteller hübsch mit einem grünen Kräuterkränzlein garniert, es lagen ein paar Zwiebelmandeln daran und ein paar Limoneschnitten darüber. Es war recht appetitlich anzusehen.

Die Wirtsleute wünschten »wohl zu speisen«.

Der Braten war in der Tat ganz delikat. Nicht, als ob bloß der Hunger so gut gekocht hätte, man merkte es an der Zartheit und Würzigkeit des Fleisches, daß das Lamm auf köstlicher Alpenweide fett geworden. Schließlich nahm der Berthold die Knöchlein mit den Fingern auf und nagte sie säuberlich ab, was der Herr als gar nicht unklug fand; er erinnerte sich, einmal gehört zu haben, daß gerade an den Knochen das beste Fleisch sei. Dann wischte der Herr sich mit der feingefalzten Serviette Finger und Mund ab, nahm einen Schluck Wein und sagte mit Behagen: »Alle Achtung! Auch bei Sarrien und Guillain soupiert man nicht besser.«

Der Berthold ging hinaus, um nachzusehen, ob das Schlafzimmer in Ordnung sei. Die Wirtsleute setzten sich zum Herrn, waren wohlgemut und gesprächig und erzählten allerhand Lustiges aus dem Bergeleben. Zuletzt nahm der Wirt die Guitarre von der Wand, um das eingenommene Abendmahl noch mit ein paar frischen Alpenliedern zu feiern. Da kam der Berthold herein und machte ein Gesicht, als ob im Schlafzimmer irgend etwas nicht in Ordnung wäre. Der Wirtin fiel das auf und sie eilte hinaus, der Wirt wollte wieder einmal nachsehen, ob sich nicht etwa der Wind gedreht habe.

Der Berthold war etwas gedrückt und fragte: »haben Euer Gnaden vorhin am Fenster die scheckige Katze gesehen?«

»Die Katze! Sollte sie dir über den Rucksack gekommen sein?«

»Weiß nicht, Euer Gnaden. Mir ist unheimlich. Diese gefleckte Katze –«

»Ich denke, sie wird auf eine Stelle in unserem Schlafgemache reflektieren.«

»Eine solche scheint ihr allerdings sicher zu sein, Euer Gnaden. Das Luder ist nirgends zu sehen. Hingegen fand ich in der Küche ein scheckiges Katzenfell – frisch abgezogen . . .«

Der Herr erhob sich rasch.

»Was sagst du. Berthold? Am Ende –!«

Der Diener nickte zustimmend. »Überzeugt bin ich davon!«

– »Frau Wirtin!«

Sie eilte etwas erregt herein: »Gefällig, meine Herrschaften?«

Der Herr nahm sie mit festem Griff am Arm:

»Könnte ich das Fell nicht bekommen von dem Lamm, das Sie uns vorhin geschlachtet haben?«

Sie kreischte auf: »Das hab' ich mir gedacht! Das hab' ich mir gedacht!« – Laut weinend hat sie alles gestanden. – Und das war eine traurige Geschichte. Das Unglück habe sie schon lange verfolgt. Nun seien sie vollends ruiniert und könnten die Hütte zusperren, besser heute, als morgen. Aber die Herren hätte man doch nicht verhungern lassen können. Mit Kartoffeln in Wasser gekocht würden sie nicht haben fürlieb nehmen wollen. Sie holten ja zeitweise Vorräte herauf, aber bis wieder einmal wer käme, sei alles verdorben. Und just allemal, wenn nichts im Hause sei, führe der Teuxel wen daher! Früher sei es anders gewesen. An manchem Tag dreißig – auch vierzig Touristen. Der Alpenklub habe das Haus gebaut, sie hätten es auf zehn Jahre gepachtet, ihr kleines Ersparnis dran gewendet und wären ruiniert.

»Was allerdings nicht für Sie spricht!« sagte der Herr.

»Wir können nichts dafür, daß der Weg durch das Windlegtal und durch die Waldungen verboten worden ist. Vom Oberjäger. Des Wildes wegen darf nicht gegangen werden. Die Wegtafeln herabgerissen, die Markierungen ausgelöscht, die Wege und Brücken zerstört. So geht jetzt alles auf der anderen Seite drüben und kehrt im Schwaighause ein, und mit uns ist's aus. Aus und vorbei. Und jetzt noch das!« – In tiefster Verzagtheit stand sie da. Dann kniete sie nieder vor dem Herrn, faltete die Hände und bat: »Kein Gift ist's ja doch nicht gewesen. Das Tier ist ganz gesund gewesen und hat auch nicht schlecht bekommen, wie man's wohl sieht. Von Herzen schön bitten wir, nur nichts sagen! Wir gehen ja so schon fort in der nächsten Woche.«

Der Herr ist bei diesem freimütigen und einfältigen Bekenntnisse mit strenger Miene dagestanden. Dann hat er gefragt, ob man am nächsten Morgen beizeiten das Frühstück haben könne. Kaffee, in Wasser gekocht und mit Zucker.

»Ja? Nun also, da kann nichts geschehen. Denn gute Nacht!«

Der Berthold schien durchaus keinen weiteren Groll zu haben, er schlief balde und schlief fest. Der Herr hatte einen Katzenjammer. Zwar im Magen war soweit alles in Ordnung, obschon er sich von diesem Lammbraten für längere Zeit gesättigt fühlte. Ein anderes Unbehagen raubte ihm den Schlaf. Er stand auf und schaute zum Fenster hinaus. Eine kalte, starre, lautlose Nacht. Die Berge lagen in ihren blassen Wuchten da, schienen aber nicht so hoch zu sein als am Tage, wo ihre Gliederungen, ihre Wände und Bänke, ihre Kare und Schründe sie bauten. Darüber der gestirnte Himmel. Der Mann, der das Bild betrachtete, hatte nie etwas Langweiligeres und zugleich nie etwas Gewaltigeres gesehen, als diese Wüstennacht im Hochgebirge.

Nachdem er lange am Fenster so gelehnt war, geträumt und gesonnen hatte über die Eindrücke dieses absonderlichen Tages, schloß er den Balken und machte Licht. Papier und Stift brauchte er aus dem Rucksack, wollte aber den Diener nicht wecken, kramte es selbst hervor und begann einen Brief zu schreiben.

»Liebe Adelaide!

Meine Depeschen aus Krumstein und Detmarsdorf wirst Du erhalten haben, sowie auch mir Deine lieben Nachrichten zugekommen und zur Freude gewesen sind. Seither manches kleine Reiseabenteuer, besonders der heutige Tag war einer der lehrreichsten für mich. Der Einfall, nach meiner Heimkehr aus Frankreich unsere Besitzungen incognito zu bereisen, war allerdings eine geistreiche Laune – und sie dürfte mehr bedeuten. Nachdem ich einen wenn auch nur flüchtigen Blick in das Leben dieser Waldleute gelegt, deren Arbeiten unsere Revenuen schaffen – Holzknechte, Kohlenbrenner, Häusler, Jäger usw. – gehen mir die Augen auf. Wie teuer wird das Leben auf der Riviera, der Aufenthalt in Paris, die Rennen und Spiele, der hundertfache Luxus erkauft mit der Lebenskraft anderer Leute. Davon hatte ich keine Ahnung. Wenn ich je darüber nachgedacht hätte, so würde man nach den Darstellungen der Verwalter ja glauben müssen, es hätte jedermann, der für uns arbeitet, gutes Auskommen und menschenwürdige Existenz. Und schon heute sehe ich es: die Pariser Bettler sind Rothschilde und Fürsten im Vergleiche zu diesen Waldarbeitern, deren Fleiß, Gewissenhaftigkeit und Anspruchslosigkeit über alle Vorstellung geht. Und ich sehe, wie zahlreiche andere durch den Schwerdruck unserer Interessen zugrunde gehen. Nein, mein teures Kind, das habe ich nicht geahnt, und wenn es sich auf meiner fortgesetzten Inspektionstour auch anderweitig bestätigt, dann wird auf eine durchgreifende Änderung zu denken sein. In der Schweiz und in Frankreich ist mein Adelsstolz seltsamerweise nicht geringer geworden, und auf dieser Gebirgswanderung werde ich mir seiner erst recht bewußt. Wenn unsere Einnahmsquellen solcher Art sind, daß sie die Armut anderer bedingen, dann ist mir das Ding zu lumpig. Die Waldarbeiter beziehen einen Lohn, bei dem sie nicht leben und nicht sterben können. Den Kleinbauer führt man in den Arrest, weil er seine Feldfrüchte vor dem gefräßigen Wilde schützt, und von dem Souper im Gebirge will ich dir mündlich erzählen. Vorerst wisse nur, daß den Naturfreunden auf unseren Besitzungen die Wege verboten sind ins Hochgebirge. Nach der Rückkehr werde ich einmal meine Herren zusammenbitten und ein bißchen Musterung halten.

Diese Zeilen schreibe ich in einem tristen Alpenwirtshaus zur nachtschlafenden Stunde. Ich fühle mich etwas aus dem Gleichgewichte geraten und gäbe was darum, Empfindungen und Gedanken, die jetzt mich beunruhigen, mit Dir besprechen zu können, Du hattest doch in so vielem Recht, was ich bisher auf altem Geleise nicht zugeben wollte. Man war ein ganz gemeiner Aristokrat, aber kein Edelmann. – Lebe wohl. Ich will noch ein paar Stunden zu schlafen suchen, denn für morgen hat Berthold, der sich wieder als tüchtiger Junge bewährt, eine beschwerliche Wanderung arrangiert. Aber von jetzt an werde ich weder mit vier Pferden, noch auf vier Holzknechten reisen. Seine gräflichen Gnaden dürften geruhen, sich fürderhin mehr an seine uraltangestammten Besitztümer zu halten – an zwei Beine und zwei Arme, mit welch letzteren in sechs Tagen Dich umfangen wird Dein

Ferdinand.«

 


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