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An den Butenkajen
Berta, die Tochter Stubborns, erwachte aus ihrer Betäubung mit der schrecklichen Erinnerung an die Dinge, die sie gehört, und mit dem Bewußtsein, einen entsetzlichen Bösewicht und Verbrecher ihren Vater zu nennen.
Der Eindruck dieser Entdeckung war so furchtbar, daß sie glaubte, den Verstand zu verlieren, und nur den Tod als einziges Rettungsmittel vor dem Wahnsinn betrachtete. Das Blut jagte durch ihren Körper und drängte sich nach dem Kopfe. Es war ihr, als ob sie die Geister der Verzweiflung von allen Seiten packten und in ihre unsichtbaren Netze einschnürten, die sie fester und fester zusammenzogen, bis sie ihr Herz zersprengten. Ihre Angst wurde so unerträglich, daß schon der Gedanke, ihr durch den Tod ein Ende zu machen, Linderung brachte. Berta floh deshalb aus dem Hause und ging mit der dunklen Idee nach den Weiden hinab, ihre Leiden in die Fluten der Elbe zu versenken und ein Leben von sich zu werfen, von dem sie keine glückliche Stunde mehr erwarten konnte.
Die Blätter der Weiden begannen sich zu färben und hatten die Kraft verloren, sich an den Zweigen festzuhalten, wie ihnen dies in der warmen Sommerzeit möglich war. Der nächste Sturm konnte sie mit sich fortführen. Ihre Lebenszeit war abgelaufen. Einzelne sanken schon vor der lauen Luft zu Boden, die erfrischend am letzten schönen Herbsttag von Süden herüberwehte und das Wasser kaum leicht kräuselte. Berta sah in ihnen das Bild ihres Lebens, sah sich von allem losgerissen, in die kühle Tiefe sinken und mit den Blättern forttreiben. Versunken und vergessen!
»Versunken und vergessen ist dann alle Qual mit mir!« flüsterte sie. »Aber nein! Schrecklich! Was sollte er denken? Müßte er nicht glauben, daß ich meiner Schwester gleiche und das Leben von mir werfe, um die Armut nicht zu tragen, in die uns seine gerechten Ansprüche bald bringen werden? Nein, nein! Nicht in den Strom, in das Leben will ich mich stürzen und alles ungerechte Gut von mir werfen, damit ich durch eigene Kraft schwimmen kann und ihm beweise, daß ich keinen Teil an dem Raub haben will, den man so schändlich an ihm beging. Ich will ihm alles schreiben, was ich weiß und was ich tun werde, vielleicht trifft mich dann weniger seine Verachtung. Oh, jetzt wird mir leichter. Fort, fort von hier, aus diesem Hause, auf dem der Fluch liegt!«
Sie ging in das Haus zurück und suchte ihre Schwester auf, der sie das Gehörte mitteilte. Dann sprach sie den Entschluß aus, von der festgesetzten Rente des Vaters keinen Pfennig anzunehmen, sondern diese ihrem rechtmäßigen Eigentümer, Schwarz, zuzustellen. Sie bot alle Überredungskunst auf, um die Schwester gleichfalls zu diesem Entschluß zu bringen, aber vergebens.
Julie bot ihr, wie dem Vater, Spott und Hohn dagegen und erklärte, nicht einen Pfennig herausgeben zu wollen. Sie bedauerte, daß es ihr nicht möglich sei, den gefährlichen Liebhaber ihrer Schwester seinem Bruder nachzuschicken, um im ungestörten Besitz der väterlichen Erbschaft zu bleiben.
Berta wandte sich weinend von dem herzlosen Mädchen ab, packte ihre notwendigsten Sachen zusammen, ließ diese in ein Boot schaffen und fuhr nach der Stadt, ohne sich nach der verlassenen Heimat umzublicken.
Was sie beginnen wollte, wußte sie eigentlich selbst nicht. Als der Bootsmann ihr Gepäck in Hamburg an das Ufer geschafft hatte, stand sie dabei und blickte in das Gewühl der Leute, ohne zu wissen, wohin.
So stand sie lange ratlos, bis ihr endlich eine alte, dicke Dame auffiel, die sie umkreiste und seit ihrer Landung beobachtete. Berta blickte sie kaum an, als diese ihr auch schon freundlich zunickte und schmunzelnd herbeikam.
»Sie sind gewiß in Hamburg fremd und wissen nicht wohin, mein liebes Kind«, sprach die Dame, indem ihre Blicke prüfend über das Gepäck wanderten und dann lauernd auf der Gestalt des Mädchens haften blieben. »Wenn Sie hier ein Quartier oder eine Stelle suchen, dann sind Sie mir zu Ihrem Glück begegnet, da ich eine Pension für junge Damen halte und diese als Gesellschafterinnen, Gouvernanten und dergleichen unterbringe. Kommen Sie deshalb nur getrost mit mir, mein süßes Kind.«
Bei diesen Worten versuchte sie Bertas Hand zu fassen. Dieser kam die Frau jedoch unheimlich und abstoßend vor, weshalb sie kurz sagte: »Ich danke. Ich brauche niemand und bin nicht fremd in Hamburg.«
»Ah, mein süßes Kind, weshalb warten Sie denn hier so unschlüssig?«
»Ich warte auf einen Bekannten«, sprach Berta, sich ängstlich umsehend, denn die Dame hatte etwas in ihrem Wesen, das dem Mädchen eine unbestimmte Furcht einflößte. Sie bereute fast, sich so allein ins Leben gewagt zu haben. Es war das erste Mal, daß sie ganz auf sich angewiesen dastand.
»Ah! Ich werde warten, bis er kommt,« sagte die Dame etwas höhnisch, »und wenn er nicht kommt, so kommen Sie nur getrost mit mir.«
Nach diesen Worten ging sie vor Berta hin und her wie eine Schildwache auf ihrem Posten, wodurch die Angst des Mädchens stieg und sie endlich ganz bestürzt wurde. Sie hatte sich das Fortkommen auf eigene Hand nicht so schwer gedacht und war völlig ratlos.
In demselben Augenblick legte Herr Stork, der Polizeimann, seine breite Hand auf die Achsel der Dame und nickte ihr schmunzelnd ins Gesicht, als sie sich nach ihm umdrehte. Sie fuhr ängstlich zurück. Herr Stork schüttelte mit dem Kopf und sagte ruhig: »Das ist nichts für Sie, deshalb glaube ich, Sie tun am besten, wenn Sie sich in zwei Minuten allein dort um die Ecke machen. In drei Minuten gehe ich mit.«
Die Dame brauchte von der bewilligten Zeit nicht den vierten Teil, um hinter der angedeuteten Ecke zu verschwinden.
Herr Stork war seiner Gewohnheit nach an der Hafenseite hingegangen, wobei er seine scharfen grauen Augen vor und hinter sich, rechts und links wandte und alles Auffällige sofort in näheren Betracht zog. Herr Stork war ein Polizeimann, wie sie eigentlich sein sollten. Es entging ihm nichts, was für das allgemeine Beste oder den ehrlichen Mann gefährlich werden konnte. Er kannte alle Spitzbuben unter und über sich, aber er genierte auch nur diese. Die ehrlichen Leute ließ er in Ruhe, wie dies leider viele seiner Herren Kollegen gerade nicht tun, sondern der Meinung sind, daß es ihre Lebensaufgabe sei, jeden Menschen, mit dem sie in Berührung kommen, zu drangsalieren.
Die Dame war kaum »um die Ecke«, so betrachtete Herr Stork Berta mit einiger Verwunderung und sprach dann: »Ich kenne Sie, Fräulein. Ich kann mich aber diesen Augenblick nicht auf Ihren Namen besinnen.«
»Mein Name ist Stubborn«, sagte Berta.
»Ah, Stubborn? Ah, ah! Richtig, ich sah Sie öfter. Zum ersten Male in der Deichstraße, als der große Diebstahl geschehen war. Wollen Sie jetzt etwa nach Neumühlen hinaus, wo der Winter angeht?« fragte Stork, auf die Sachen blickend.
»Nein, ich komme herein und bin in Verlegenheit um ein Quartier.«
»Ah!« machte Stork verwundert.
»Ich habe mich mit meiner Schwester veruneinigt«, erklärte Berta.
»Ah! Und zum Vater gehen Sie nicht? Kann mir's denken!« sprach Stork geheimnisvoll nickend.
»Wissen Sie etwas von ihm?« fragte Berta erschrocken. »Um's Himmels willen, was?«
»Ich weiß weiter nichts, als daß er wieder bestohlen wurde. Da Sie aber in Verlegenheit wegen einer Wohnung sind, so erlauben Sie, daß ich Ihnen beistehe, damit Sie nicht in unrechte Hände kommen. Wie wollen Sie ungefähr wohnen? Mehrere Zimmer?«
»O nein, nein!« rief Berta. »So einfach und billig wie möglich. Bei kleinen, ehrlichen Leuten, wo mich niemand sieht.«
»Hm!« machte Herr Stork und zog die Augenbrauen erstaunt in die Höhe. »Hm, hm! Nun, da warten Sie mal.«
Hierauf legte er den Finger an die Nase und sann eine Weile, wobei er nicht versäumte, rundum zu blicken. Er sah scharf auf das Wasser. Dann rief er einen alten Jollenführer herbei, der gleich darauf nach oben kam, und ihm die Hand reichend, fragte, was Gevatter Stork wolle.
»Du hast ja ein Zimmerchen zu vermieten, ist es noch frei?« sagte dieser.
»Jo!« rief der Bootsmann, indem er auf Berta und ihr Gepäck blickte.
»Nun gut. Diese junge Dame hier, für die ich bürge, braucht es. Was soll es kosten?«
»Das ist eigentlich Sache meiner Alten. Aber so viel ich weiß, sollen es zehn Mark sein. Ist 'n nettes Zimmer. An den Vorsetzen. Aussicht nach 'm Hafen. Dreimal Teewasser täglich«, erklärte der Alte freundlich.
Er war ein alter, grauer, ausgewetterter Bootsmann mit etwas röterer Nase, als die Nasen gewöhnlich zu sein pflegen, aber man sah ihm die Gutmütigkeit auf den ersten Blick an, und Berta faßte sogleich Zutrauen, als sie seine Stimme hörte. Sie ergriff seinen Arm mit beiden Händen und sprach: »Ich bleibe bei Ihnen, guter Alter. Bringen Sie mich nach Hause. Ihnen, lieber Mann, danke ich herzlich für Ihren Beistand.« Hierbei gab sie Stork die Hand, die dieser behutsam zwischen seine großen Finger nahm und ein wenig schüttelte. Dann packte er mit dem Bootsmann die Sachen Bertas und trug sie in das Boot hinab, worauf der Alte seinem Haus zuruderte und das Mädchen seiner Alten übergab, die sie ebenso freundlich aufnahm und in ihr kleines Zimmer brachte, in dem zwar kein Luxus, aber die äußerste Reinlichkeit herrschte.
Berta saß in tiefem Sinnen in dem kleinen Zimmer und betrachtete die altertümlichen Möbel. Dann sah sie durch die breiten Fenster hinaus auf das Gewirr von Masten, Blöcken und Tauen, von Segeln und Flaggen, das den Hafen erfüllte. Es kam ihr alles wie ein Traum vor, aus dem sie nach und nach erwachte, um endlich zum vollen Bewußtsein ihrer Lage zu gelangen und zu überlegen, was zu tun sei.
Der Entschluß, keinen Pfennig von ihrem Vater anzunehmen, stand bei ihr fest, deshalb mußte sie an einen Erwerb denken. Eine mäßige Summe von Spargeld schützte sie zwar einige Monate lang vor Mangel, sie entwarf jedoch sofort einen Plan, sich etwas durch Musikstunden und Handarbeit zu verdienen, und beschloß deshalb, die Vermittlung ihres Musikalienhändlers zu suchen. Dann besorgte sie Feder, Tinte und Papier, um einen Brief an ihre Verwandten und einen an Schwarz zu schreiben. In jenem erklärte sie ihren Entschluß, nichts mehr von dem verbrecherisch erworbenen Gut annehmen zu wollen. In diesem teilte sie Schwarz alles mit, was sie in den Weiden gehört und bat ihn auf das rührendste, sie, die unschuldige Tochter des schrecklichen Vaters, nicht mit der Verachtung und dem Haß zu strafen, die er gegen den Verderber seiner Familie fühlen müsse. Sie sagte ihm, wie sie von dem Augenblick der Entdeckung an jede Gemeinschaft mit den Ihrigen abgebrochen und alles von ihnen zurückgewiesen habe; daß sie die ihr ausgesetzte Rente ihm als sein Eigentum erstatte, daß sie von ihrer Hände Arbeit leben und alles anwenden wolle, um zur Erlangung seines rechtmäßigen Eigentums mitzuwirken.
»Vielleicht«, schrieb sie am Schluß, »wirst du dein Vermögen oder doch den größten Teil davon noch wieder erhalten. Deine Eltern und dein Bruder sind freilich unwiederbringlich dahin. Aber mich Ärmste haben dieselben Leute nicht nur um alles, um Verwandte und Vermögen, sondern auch noch um deine Liebe und Achtung gebracht. Diese Güter, die teuersten, die mir die Welt bot, sind dahin. Du, den ich so unendlich und über alles liebe, mußt mich hassen, weil ich einer Familie angehöre, auf der dein Fluch ruht, die deine Rache verfolgen und der Schande preisgeben wird. Oh, fluche mir wenigstens nicht, die trotz allem, was du über sie verhängen magst, dich noch mit dem letzten Atemzuge segnen und mit dem letzten Gedanken an dich dieses Leben verlassen wird.«
Berta siegelte weinend den Brief zu und ging dann aus, um ihn an Schwarz zu senden. Sie wußte, daß dieser in Wolfs Keller sein Domizil hatte, war deshalb auch schon mehrmals in der Dämmerung dort vorübergegangen, wobei sie die stille Hoffnung hegte, ihn zu sehen, und glaubte jetzt den Jakob zu treffen, dem sie den Brief zur Besorgung übergeben wollte. Jakob kam auch des Weges daher, als sie an die Kajen gelangte, denn er erwartete, da die Dunkelheit eintrat, Viktualienzufuhren, die er weiter dirigieren wollte. Berta erkannte aber den Stutzer Jakob nicht und wartete vergeblich auf die Gestalt mit den großen Stiefeln und der Riesenjacke.
Als sie in die Nähe des Kellers kam, hörte sie wie früher oft die Töne einer Geige, die schon manchen Vorübergehenden seinen Schritt hemmen und ihn lauschend stehen bleiben ließen.
Sie erkannte das Spiel von Schwarz. Eine tiefe Klage klang aus den Tönen, dann ein wilder Schmerz, der bald in leise Trauer und Sehnsucht überging, die sich wieder in abgerissene Erinnerungen und wilde Phantasien verlor, bis solche abermals in sehnsüchtige Klagen um ein verlorenes Glück zurückfielen.
Berta war, von der Musik angezogen, dem Keller immer näher gerückt und endlich auf der Treppenmauer niedergesunken, wo sie das Gesicht mit dem Taschentuche verhüllte und bittere Tränen vergoß. Mit den Tönen zog all ihr verlorenes Glück an ihrer Seele vorüber. Sie preßten ihr die Tränen aus, und doch waren sie Balsam für das arme zermarterte Herz.
Der Spieler, der neben der Treppe unter dem harten eisernen Kram saß, zog eben mit dem Bogen einen leisen Akkord, mit dem er eine Erinnerung begleitete, als er über sich ein heftiges Schluchzen hörte. Er sah auf und erkannte das Mädchen, an dessen Seite er soeben in der Erinnerung zwischen dem Schilf am Neumühlener Strande hingewandelt, wozu er das leise Wehen des Windes im Rohr den Saiten entlockte.
Er stand einen Augenblick wie festgebannt und sah hinauf nach der lieben Gestalt. Dann kamen aber die Dämonen der Rache, von den Gedanken an ihren Vater und ihre Schwester gerufen, über ihn. Der Grimm zog seine harten Linien über sein Gesicht, er hob die Geige hoch in die Luft in der Absicht, sie an dem eisernen Ofen zu zerschmettern, denn sie war ein Geschenk von ihr.
»O Gott, nein! Ernst, Ernst! Tu es nicht! Zerstöre nicht die guten Geister, die darin wohnen! Lies, lies, und vergib mir!«
Bei diesen Worten fiel ein Brief zu Ernsts Füßen, und das Mädchen war verschwunden.
Schwarz holte tief Atem und ließ den erhobenen Arm mit der Geige langsam sinken, worauf er sie vorsichtig in die Ecke stellte. Dann ging er im Keller hin und her, ohne den Brief aufzuheben, den er finster anblickte. Als sich jedoch der Schritt Jakobs auf der Treppe hören ließ, griff er schnell danach und steckte ihn in die Tasche.
Er las ihn erst, als er in seinem Zimmer saß, um sich schlafen zu legen. Er las ihn zwei-, dreimal und legte ihn endlich seufzend zusammen.
»Armes Mädchen, armes, liebes Herz!« flüsterte er. »Ich habe ja nie geglaubt, daß du auch nur eine Ahnung von den Schändlichkeiten deiner Verwandten hast. Ich bewundere deinen Entschluß, aber ich wollte, ich hätte nichts davon erfahren und meinen Haß behalten, den ich auch auf dich geworfen und der jetzt schmilzt wie Schnee an der Frühlingssonne. Oh, in welchen Zwiespalt schleuderst du mich heute! Was soll ich beginnen? Ich muß deinen Vater und deine Schwester verderben und bis in den Tod verfolgen, während ich dich lieben muß und bei meiner Rache mein eigenes Herz mit treffe. Was ist denn stärker? Mein Haß oder meine Liebe? Was ist denn mehr wert? Meine Eltern und mein Bruder, oder du? Haß oder Liebe? Haß und Rache oder Liebe? Gerechter Himmel, zeige mir einen Weg aus dieser Lage!«
Gegen neun Uhr am nächsten Morgen versammelte sich der Stab der Schmugglerarmee bei Schwarz. Da war sein Adjutant Jakob mit Spionierberichten. Dann kam Wilm, um die Ordre de Bataille zu holen. Dann erschienen verschiedene Hanseaten, die bei gefrorenem Stadtgraben eine wichtige Rolle spielten. Es kamen Ewer- und Leichterschiffer und endlich Takel-Jan, der für heute abend die Lieferung von fünfzig Karpfen übernahm und der Akzise am Blockhaus eine ganz besondere Nase zu drehen versprach, indem er sich vermaß, daß ihm die Beamten noch selbst mit durchhelfen sollten. Er bot den Schutenführern eine Wette auf die Wahrheit seiner Behauptung an und setzte eine Bowle Punsch, die von den Herren akzeptiert wurde, und stellte dann die Zeit der Ausführung auf den Anfang des Sperrläutens fest.
Takel-Jan war in solchen Sachen ein Mann von Wort. Wenn er irgend jemand versprach, in seinem Auftrag zur bestimmten Zeit und am bestimmten Orte eine gegebene Menge Tauwerk oder Eisenzeug zu stehlen, so konnte man sich auf pünktliche Besorgung verlassen, im Falle sich die gewünschten Gegenstände nicht über fünfzig Schritte vom Wasser befanden, denn über diese Entfernung vom Strom war Takel-Jan der ehrlichste Mann, den man finden konnte, und hätte die ganze Takelage eines Linienschiffes unangerührt liegen lassen Anm. Reinhardts: »Ein Charakterzug, den ich bei solchen Wasserhalunken mehrfach gefunden habe. – Takel-Jan ist übrigens kein Gebilde meiner Phantasie, sondern wie alle Personen dieses Buches, eine genau nach der Natur gezeichnete Figur, die ich jahrelang in Hamburg studierte.«.
Die Gesellschaft der Schutenführer war um die Zeit der Torsperre am Blockhaus versammelt und machte sich an ihren Fahrzeugen zu tun, um die Ankunft Takel-Jans zu erwarten. Dieser ließ sich jedoch nirgend im Hafen sehen. Die Sperrglocke wurde bereits aus dem Türmchen des Blockhauses gezogen und schickte ihre verhaßten Klänge über den Hafen; die Beamten machten sich fertig, den Baum vor den Hafeneingang zu legen, als Takel-Jan in größter Eile mit seinem Boot um die Ecke des Pfahlwerkes kam. Er stand mit einem Bein auf dem Rand des Fahrzeuges und mit dem anderen auf der Bank, wobei er das Ruder hintenaus gesteckt hatte und das Boot vorwärtswrickte. Er arbeitete ganz verzweifelt, um weiter zu kommen, denn als er an die Zollstätte gelangte, zeigte sich, daß das Boot dreiviertel voll Wasser gelaufen war, in dem sein Hut und seine Jacke umherschwammen.
»Alle Deubel! Jung! Du versupst! Wat hest du makt? Hol di jo nich opp!« schrien die Schutenführer.
»Verflucht! De olle Kasten is leck«, sagte Takel-Jan. »Ik denk' aber doch, ik kam woll bit an de Kajen. Schuv een beeten na!«
»Na, denn man tau!« sprach lachend der wachthabende Zollbeamte, wobei er einen Haken ergriff und damit das Boot längs des Blockhauses vorwärts schob. Daß er dabei die fünfzig Karpfen, die im Wasser des angeblich lecken Bootes versteckt waren, und von der schwimmenden Jacke und dem Hut verborgen wurden, selbst mit durchschmuggeln half, wußte er freilich nicht. Er erfuhr es aber später und schöpfte von Stund' an jedes lecke Boot gewissenhaft bis auf den Grund aus, ehe er es durchließ, was ihn bei den Matrosen in den Ruf eines sehr diensteifrigen Mannes und zu dem Vorteil brachte, daß alle Boote, in denen Wasser stand, an seine Station gerudert wurden. Er schöpfte trotzdem unverdrossen bis an sein Lebensende fort.
Der Winter trat bald nach der gelungenen Karpfenfahrt Takel-Jans ein und zwang ihn, sein Boot an das Land zu ziehen, da jener den Fluß mit Eis und das Land mit Schnee bedeckte. Takel-Jan kehrte das Boot um und nahm einen Schlitten zur Hand, mit dem er abends dem Stadtgraben zusteuerte, wo er verschiedene gute Sachen ablud und den Hanseaten zur Weiterbeförderung übergab, die ihren Schmugglerdienst mit großer Pünktlichkeit besorgten.
Herr Trick war in einer sehr borstigen Laune, weil es ihm nicht gelingen wollte, eine größere Summe von Stubborn herauszupressen, und die kleinen Summen, die im Geschäft mit Wolf abfielen, von seinen Freunden, den Zimmerleuten, in Anspruch genommen wurden. Auch die fidelen Seehunde waren wertlos für ihn, denn sie saßen meist fest, da ihre Eingriffe in die Kassen ihrer Herren an den Tag gekommen waren, oder man hatte sie davongejagt, um Weitläufigkeiten zu sparen. Trick ließ Stubborn Tag und Nacht bewachen und machte es ihm fast unmöglich, zu seinem Geld im Dampfkessel zu gelangen. Er war dadurch nur auf die Geschäfte angewiesen, die der alte Wolf mit den Wechseln machte, und dieser wollte auch immer mehr Kapitalien haben.
Stubborn schmiedete deshalb Pläne, um dem Netz zu entkommen, das ihn von allen Seiten festhielt. Hier Trick mit den Zimmerleuten, dort Kern, Schwarz, Wilm und die teerhosigen Gentlemen, dazu der alte Wolf und der Lotse, der, obgleich unsichtbar, doch zu fürchten war. Dabei widmete ihm Herr Stork eine freundliche, beunruhigende Aufmerksamkeit, die ihn glauben ließ, er habe auch eine Ahnung von dem Geheimnis, obgleich dieser Herr ihn nur für etwas verrückt hielt. Kurz, Stubborn sammelte bereits immer mehr Früchte seiner Saat in der Angst vor Entdeckung und der Schwierigkeit des Entkommens.
Der Winter war vorüber, und der Verbrecher hoffte auf den Frühling, wo er um jeden Preis die Flucht versuchen wollte.
Den Brief von seiner Tochter Berta hatte er damals voll Grimm zerrissen, nachdem er ihn gelesen. Herr Trick fand später die Stücke, suchte sie zusammen und las ihn auch, worauf er sich eine Viertelstunde lang mit der Hand vom Genick aus über den Kopf strich und alle seine Haare mit den Spitzen nach vorn brachte. Dann nahm er das dazu gehörige Manöver vor und klopfte laut an die Nasenrinne, um dem inneren Herrn Trick anzuzeigen, daß wieder jemand da sei, der sein Geheimnis kenne.
»Verflucht!« brummte er. »Die Situation wird immer schlechter. Es muß etwas geschehen. Ich muß herauskriegen, wo er sein Geld hat, muß es haben. So oder so!«
Er blieb im Vorzimmer Stubborns sitzen und machte Entwürfe, worin er indessen bald von Stimmen unterbrochen wurde, die sich der Tür näherten. Er kannte die Stimmen und verbarg sich hinter dem Bettschirm. Die Tür öffnete sich, Schwarz trat herein, dem Kern folgte. Beide gingen sofort nach dem Zimmer Stubborns.
Dieser saß, ebenfalls mit unheilvollen Entwürfen gegen seinen Kompagnon im Vorzimmer beschäftigt, hinter dem Tisch und sah die Eintretenden mit trotzigem Grimm an. Er war gehetzt bis auf das äußerste und bereit, sich wie ein gestellter Eber zur Wehr zu setzen.
»Erbärmlicher Mann!« sprach Schwarz, ihn finster anblickend. »Wir kommen, um Ihnen einen Vorschlag zu machen, den Sie nimmermehr verdienen, denn wie Sie Ihre Mitmenschen in Unglück und Tod gejagt haben, ebenso sollte man Sie jetzt unbarmherzig hineinhetzen. Der letzte gute Engel, den Sie noch an Ihrer Seite hätten haben können, hat sich von Ihnen gewandt. Ihm nur haben Sie es zu danken, daß ich die Toten ungerächt und Ihnen einen Ausweg frei lassen will.«
»Ah! – ah! Also meine liebenswürdige Tochter hat sich der Gesellschaft angeschlossen, die mich ausplündern möchte. Vielleicht wird sie dann mit Ihnen teilen«, entgegnete Stubborn spöttisch.
»Wir wollen Ihnen einen Vorschlag machen,« fuhr Schwarz fort, ohne die Unterbrechung zu beachten, »nach dem Sie wie ein Ertrinkender greifen müssen, wenn Sie nicht ganz wahnsinnig sind, was man, dank den Bemühungen Ihres Freundes Trick, bereits allgemein glaubt.«
»Oh, dieser Schuft! Also damit denkt er mich zu kriegen«, knirschte Stubborn.
»Also kurz und gut. Geben Sie drei Viertel von dem Vermögen heraus, das Sie mir gestohlen haben. Es wird Ihnen dann immer noch eine große Summe bleiben, mit der Sie über das Meer gehen und Ihre übrigen Tage in Ruhe zubringen können, wenn der Zustand Ihres Gewissens einen solchen Platz finden läßt. Ich lasse, wie gesagt, alle meine Rachepläne gegen Sie fallen, mögen mir die Schatten der Gemordeten verzeihen. Der Schuft, der Sie bei Ihren Untaten unterstützt hat, bleibt mir noch übrig.«
Stubborn bog sich bei diesen Worten von Schwarz zusammen, als habe er Gift erhalten. Er sah hier einen Ausweg, aber der Geiz wühlte in seinen Eingeweiden, indem er sich der Herausgabe des erschwindelten Mammons entgegensetzte, und machte dem Elenden wirkliche Schmerzen. Er wimmerte: »Ich kann nicht. Ich habe nichts mehr. Man hat mir alles gestohlen. Und wenn ich wirklich wollte, das heißt, wenn ich wirklich was hätte, dann würde dieser Schuft, dieser Trick, mit mir teilen wollen und mit seinem verfluchten ›halb und halb‹ kommen. Oh, schafft mir erst diesen Schurken, diesen Teufel vom Halse, der mich noch wirklich wahnsinnig macht. Schafft ihn beiseite. Laßt ihn mit einem Strick um den Hals in die Elbe werfen oder drüben im Ried anbinden, wenn die Flut kommt, wie den Zollwächter. Dann kommt wieder. Aber ich habe nichts mehr! Nichts! Gar nichts!«
»Wir wissen zu genau, daß Sie Ihr Vermögen versteckt haben. Die Ausrede mit dem Diebstahl nützt Ihnen nichts. Was übrigens Trick und seine Bande betrifft, mit der er Sie umstellt und bewacht, so will ich Ihnen davon helfen, sobald Sie mein verlangtes Vermögen herausgeben. Ich will Trick samt seiner Diebesbande wegfangen und festhalten lassen, bis Sie auf dem Ozean schwimmen und nicht mehr verfolgt werden können. Aber meine Forderung muß erst erfüllt sein«, entgegnete Schwarz.
»Ich habe nichts mehr. Nichts als ein paar tausend Mark. Ich kann mich zu nichts entschließen«, jammerte der Geizhals.
»Wer recht hat, kann warten. Habe ich so lange gewartet, nun, dann warte ich auch noch länger«, sprach Schwarz.
»Auch ich«, fuhr Kern fort, »gebe meine Rache gegen Sie auf, und zwar diesem jungen Mann und Ihrer guten Tochter zu Liebe. Die Rache hat Sie schon hart genug getroffen. Denken Sie an die Toten, zu denen Sie Ihren eigenen Sohn mit in die Tiefe hinabgeschickt haben.«
»Mei–nen – Sohn?« flüsterte Stubborn erschrocken. »Ich weiß nichts von ihm. Seit anderthalb Jahren, wo er mir mit Geld und Zurücklassung von großen Schulden entlief, habe ich nicht das geringste von ihm gehört. Ich habe ihn nirgendwohin geschickt.«
»Dann will ich Ihnen sagen, daß er bei Cuxhaven an Bord der ›Gebrüder‹ kam, um, wie er angab, in Ihrem Auftrage mit nach Singapore zu gehen. Nach den Mitteilungen Nielsens scheint ihm Ihr wackerer Kompagnon Trick diese Idee beigebracht zu haben. Er ist also in Ihrem Auftrage mit untergegangen. Glauben Sie nun an eine Vergeltung?« sprach Kern ernst.
»Nein, ich glaube nicht daran. Das ist Zufall. Der Taugenichts dachte mich auch zu betrügen und betrog sich selbst. Nun, er ist dahin, wo ich euch alle, alle hinwünsche. Seid alle verdammt!« schrie Stubborn wütend, weil er fühlte, daß Kern mit seinem Hinweis auf die Vergeltung recht habe.
Kern fuhr ruhig fort: »Sie haben mich in eine Schule geschickt, wo ich gar oft die wunderbaren Wirkungen des Strafgesetzes beobachtet habe, das der Schöpfer zur Erhaltung der menschlichen Gesellschaft in das Böse selbst verwebt hat. Mit dem Beginn einer bösen Tat legen Sie zugleich den Keim Ihrer Strafe und werden zehnmal mehr Scharfsinn brauchen, das Aufgehen dieses Keimes zu verhindern, als die Tat selbst zu begehen. Die Hölle, die in Ihnen wohnt, hat schon ihre Zeichen auf Ihr hohles Gesicht gebrannt! Wir brauchen für Sie keine größere Strafe mehr zu suchen, als daß wir Sie zwingen, das, wofür Sie so lange gesündigt, herauszugeben und dem Guten sein Recht zu lassen. Das ist die ärgste Strafe für Bösewichter wie Sie. Die Hölle, und es gibt eine fürchterlich heiße Hölle schon hier oben, bleibt Ihnen doch hier und jenseits!«
»Lassen Sie mich mit Ihrem dummen Schreckbild für alte Weiber verschont!« grollte Stubborn. »Ich glaube an keine Hölle. Ich verlache Hölle und Teufel und werde mit ihnen fertig. Das lassen Sie meine Sorge sein. Wenn Ihr eine Hölle wißt, so schafft den Teufel Trick hinein. O ja, in die Hölle mit ihm! Dann kommt wieder. Dann will ich herausgeben, was ich kann. Wahrhaftig. Eher aber nicht, und eher seid alle verdammt!«
»Nun, wir können warten!« sprach Schwarz, den erschöpft niedersinkenden Stubborn mit Abscheu anblickend. »Besinnen Sie sich und nehmen Sie unsern Vorschlag an. Entkommen können Sie uns nicht, dafür ist gesorgt, deshalb machen Sie nur gar keinen Versuch dazu. Ich sage Ihnen nochmals: sobald Sie das meinige herausgeben, steht Ihnen der Weg übers Meer offen und Trick mit seiner Bande verschwindet, bis Sie in Sicherheit sind.«
Mit diesen Worten entfernten sich Schwarz und Kern. Sie ließen Stubborn in tiefem Nachdenken zurück.
Als die Schritte beider verklungen waren, öffnete sich die Tür leise, und Herr Trick erschien in ihr. Er lachte auf eine unnatürliche Art und zeigte mit dem Daumen über seine Achsel nach den Abgegangenen, wobei er krähte: »Jetzt haben wir auch die. Hahaha! Haben sich selbst in unsere Hände gegeben. Wollen Ihnen übers Meer helfen und machen sich dadurch zu unsern Mitschuldigen. Wollen mich fangen und hernach die Suppe auslöffeln lassen. O ja! Da müßt ihr früher aufstehen. Entweder wir kommen beide fort, oder essen beide die Suppe aus. Ich verlasse Sie von heute an Tag und Nacht nicht. Sie kommen nicht ohne mich zu Ihrem Geld, das schwöre ich Ihnen. Sie möchten mich umbringen, wenn Sie nicht zu feige dazu wären. He? Ho! Sie verdammter Schuft!« Hier sprang Trick auf ihn ein und packte ihn bei der Gurgel, an der er ihn hin und her schüttelte. »Ich sage Ihnen, halb und halb, oder ich ermorde Sie, oder zeige Sie selbst an. Halb und halb! und bald, denn meine Geduld ist zu Ende. Ich kann nicht warten, wie der gute Schwarz.«
»Oh, Sie Schurke«, keuchte Stubborn, als er sich aus den Fingern Tricks losgemacht hatte. »Ich glaube, Sie haben gehorcht.«
»Ah – hohoho!« brach Trick lachend heraus. »Glauben Sie etwa, ich werde nicht horchen? Nein, das ist denn doch zu kindisch – zu dumm!«
Herr Trick ging hinaus, denn er hörte jemand im Vorzimmer. Es war Herr Stork, der einmal nachsehen wollte, wie es stand. Trick teilte ihm mit, das Stubborn schlimmer als je sei und die genaueste Aufsicht brauche, weshalb er selbst hier schlafen wolle. Er bat ihn, ein Viertelstündchen dazubleiben, damit er sich mit einigem Proviant versorgen könne, weil er seinen alten lieben Prinzipal bis zur Besserung keine Minute mehr allein lassen wollte.
Er ging und teilte den Zimmerleuten mit, daß jetzt eine doppelte Wachsamkeit nötig sei, damit Stubborn, der in der nächsten Zeit sicher sein verborgenes Geld holen werde, nicht entwische und man ihm alles abnehmen und ihn beiseite bringen könne.
Dann ging er zu Stubborn zurück, um ihm wie sein Schatten zu folgen.