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Nichtdeutsche in deutschen, Deutsche in fremden Ländern

Die Deutschen berühren sich auf dem Boden des Reiches mit Nichtdeutschen, die von den Nachbarländern, wo ihr Schwerpunkt liegt, herüberreichen. Und umgekehrt erstreckt sich das Wohngebiet der Deutschen in die Nachbarstaaten hinein. Das ist für unsre ganze Geschichte in so hohem Grade bezeichnend und erfüllt uns täglich neu mit Stolz, aber auch mit Sorgen, daß wir nicht die einzigen Deutschen in Europa sind. Das macht auch die Betrachtung der Lage der Deutschen zu ihren mitteleuropäischen Nachbarvölkern zu einer notwendigen Voraussetzung des Verständnisses der Stellung Deutschlands in Europa. Es gibt mehr als dreißig Millionen Deutsche außerhalb Deutschlands: gegen 11 Millionen in Österreich und Ungarn (11,3 nach der Zählung von 1900), 2,3 in der Schweiz, 3 in Belgien und Luxemburg, 5 in den Niederlanden, 7 in Nordamerika, 1 in Rußland, 2 in der Welt zerstreut.

Mit diesen Zahlen ist aber nicht das Wesentliche ausgesprochen. Österreich-Ungarn ist bis auf den heutigen Tag ein Land deutscher Herrscher, deutschen Heeres, deutscher Art in Verwaltung, in Handel und Wandel. Sind auch nur elf Millionen Deutsche, die sich so fühlen, im Lande, die Zahl derer, die deutsch sprechen, und die deutsche Bildung in sich aufnehmen, auch ohne es zu wollen und zu wissen, ist viel größer. Man spricht deutsch bis an die Donaumündungen, und das Deutsche behauptet sich als Verkehrssprache in vielen Teilen der Balkanhalbinsel. 200 000 Deutsche, die mit rührender Treue an ihrer Sprache, ihrer Sitte und ihrem Glauben hangen, halten die Grenzwacht seit dem zwölften Jahrhundert in Hermannstadt, Kronstadt, Bistritz, den guten, alten Sachsenstädten. So ist in der Schweiz zwar neben dem Deutschen das Französische und Italienische gleichberechtigt. Aber die Schweiz ist ein aus urdeutscher Verfassung der Talschaften um den Vierwaldstätter See herausgewachsener Staat, und deutsch ist der Geist ihrer Verfassung und ihres politischen Lebens; so wie ihr Ursprung, liegt auch ihr politischer Mittelpunkt auf deutschem Boden. Rußlands Entwicklung zeigt die Deutschen an der Kulturarbeit in allen Sphären und in allen Provinzen; neben dem Russischen ist nur das Deutsche als Verkehrssprache allgemein bis in das äußerste Sibirien hinein verbreitet. In Belgien zählte man 1900 28 000 nur deutsch, 2,8 Millionen nur flämisch, 7000 deutsch und flämisch und gegen 800 000 französisch neben deutsch oder flämisch Sprechende. Außerdem leben in Belgien und Frankreich 800 000 Angehörige Deutschlands, der Schweiz, Luxemburgs und Österreich-Ungarns. Die Flamen Belgiens haben in den letzten Jahren gegen die Zurückdrängung ihrer Sprache durch das Französische mit Erfolgen, wenn auch noch nicht mit dem endgiltigen Erfolg gekämpft. Die Niederländer fühlen sich als Sondervolk. Wer möchte die hohe geschichtliche Berechtigung dieses Gefühles bestreiten? Aber ihre Lage setzt sie ebenso wie die Skandinavier in die engste geistige und wirtschaftliche Beziehung zu den Deutschen; eines Tags werden sie von selbst einsehen, daß in die heutige Weltlage wenigstens ihre wirtschaftliche Sonderexistenz nicht mehr paßt.

Wie steht nun das Gebiet der Deutschen zu den Gebieten der Nachbarvölker? Die Lage und Gestalt des von Deutschen bewohnten Gebiets in Europa ist im ganzen der Lage und Gestalt Deutschlands ähnlich. Die Hauptunterschiede sind aber folgende: Das Gebiet der Deutschen erstreckt sich im Nordwesten in einem Keil bis an den Kanal, im Süden erreicht es oder überschreitet den Hauptkamm der Alpen zwischen dem Monte Rosa und der Ostabdachung des Gebirges. Der böhmische Keil ist im Gebiet der Deutschen weniger scharf und dringt nicht so tief ein wie in Deutschland, umgekehrt ist der polnische Bogen größer in jenem als in diesem. Das Gebiet der Deutschen greift am weitesten über die politische Grenze hinaus gegen die Niederlande, Belgien, Luxemburg, die Schweiz, Österreich und Rußland. Diese Länder haben in ihrer Bevölkerung mehr oder weniger starke deutsche Elemente, deren Stärke dadurch wächst, daß sie sich an das politische Gebiet des Deutschen Reichs anlehnen. Es sind also nur Frankreich und Dänemark selbständige Nachbarländer, deren Sprachangehörige teilweise auf politisch deutschem Boden sitzen.

Die Nachbarvölker

Noch beschwerlicher als die große Zahl der Nachbarstaaten (S. 9) ist die bunte Reihe der Nachbarvölker. Das deutsche Sprachgebiet berührt sich mit Franzosen, Italienern, Romanen, Slowenen, Magyaren, Slowaken, Tschechen, Polen, Litauern und Dänen, also zehn Völkern, wobei kleinere Zweige, wie Wallonen oder Wenden, gar nicht gerechnet sind. Dieser großen Zahl der Grenzstämme entsprechen zahlreiche und mannigfaltige Beziehungen geistiger Natur; es werden Kenntnisse hervorgerufen, die anderwärts fehlen; die Völkerkenntnis wächst, die für den Staatsmann oft wichtiger als die Menschenkenntnis wird. Aber wer möchte zweifeln, daß ihr auch ebenso viele und vielartige Reibungen entsprechen müssen? Darin liegt einer der Gründe, warum wir eine gewisse Abneigung und Mißgunst gegen die Deutschen so weit verbreitet finden. Wir finden Franzosenfreunde in Brüssel und Luxemburg, auch in der deutschen Schweiz, Italianissimi in Trient und Triest, Magyaronen in Ungarn und Siebenbürgen, Panslawisten in Posen und Bromberg, Panskandinavier in Schleswig. Die Bestrebungen dieser Gruppen sind mannigfaltig, aber die Abneigung und zur Not der Kampf gegen das Deutschtum ist in der Regel ihr nächstes und das sie einigende Ziel.

Die großen Nachbarn der Deutschen sind die Völkerfamilien der Romanen und Slawen. Die Slawen sind gegen die Deutschen in drei Kolonnen vorgeschoben: im Weichselland die Polen, im Elbgebiet die Tschechen und in den südöstlichen Alpen die Slowenen. Die Wenden sind gleichsam nur ein in Stillstand geratner vereinzelter Posten. Am breitesten dringt in großem Bogen die polnische Kolonne vor, am geschlossensten und tiefsten, keilförmig die tschechische; und die an sich schwächste, die slowenische, hat den Vorteil einer trefflich gelegnen Meeresküste. Im Besitz des Küstenlandes von Triest werden die Slowenen sogar zu einem für das Deutschtum höchst wichtigen Nachbarn. Polen, Tschechen und Slowenen lehnen sich an die große Slawenmasse Osteuropas an, die vom Weißen bis zum Schwarzen Meer und vom Bug bis zum Ural reicht; Deutsche und Russen berühren sich infolgedessen nur an wenigen Stellen unmittelbar. Ihre geschichtliche Stellung bleibt immerhin die, daß sie Vorposten des großen osteuropäischen Slawentums sind. Im einzelnen ist der Verlauf der deutsch-slawischen Sprachgrenze höchst unruhig durch Tausende von Ein- und Aussprüngen, großen und kleinen Sprachinseln: Zeugnisse der Unfertigkeit der Beziehungen dieser beiden Völkerfamilien, Ursachen endloser Reibungen.

Zwischen Tschechen und Slowenen greift ein breiter Streifen deutschen Gebiets in das magyarische ein. Das Donau-Raab-Dreieck mit der Spitze Raab ist fast ganz deutsch.

Das romanische Gebiet umfaßt das deutsche in einem rechten Winkel, in dessen Scheitel der Monte Rosa steht, der zugleich auch der Grenzstein zwischen dem Französischen und dem Italienischen ist. Außer diesem Winkel ist ein zweiter im Norden vorgeschoben, der durch das niederländische und flämische Gebiet gebildet wird, und dessen Spitze bei Gravelingen in der Nähe von Dünkirchen liegt. Unbedeutende Ausbeugungen liegen vor Luxemburg und Basel, während ein schärferer Winkel im Etschtal gegen Trient vorspringt. Auf der französischen Seite tritt das wallonische Südbelgien bei Lüttich tief herein, dann springt noch einmal ein stumpfer Winkel in der Linie Nancy-Straßburg vor. Auf der Südseite ragt in Graubünden das Romanische, das sich indessen im Rückgange befindet, und in Südtirol das Ladinische herein. Im allgemeinen bezeichnet aber ein glatter Verlauf die deutsch-romanische Sprachgrenze, in deren Grenzgebieten seit langem nicht mehr von Kolonisationen in erheblicherm Maße die Rede gewesen ist. Leicht erkennt man: das ist die Grenze zwischen zwei alten hochkultivierten Völkergruppen, die mehr im ganzen und nur durch die politische oder Kulturüberlegenheit der einen oder der andern sich noch langsam verschieben wird. So ist das Französische seit Jahrhunderten auf der ganzen Strecke von Luxemburg bis Dünkirchen in langsamem Vordringen gewesen und dann in Stillstand geraten.

Die Geschichte der Goten und Langobarden erinnert an eine einst viel weitere und dichtere Verbreitung der Germanen südlich von den Alpen. Wo die Geschichte schweigt, reden die Namen Dietrich von Bern, Ortnit, Rosengarten. Christian Schneller hat an den Gardasee Kaiser Ortnits Wort in der Heldensage angeknüpft:

Es steht ein Turm auf Garten, darinnen liegt mein Hort,
Er ist gefüllt mit Schätzen vom Boden bis zum Bort.

Steub will in Gossensaß Gotensaß erkennen und in den freien stolzen Bauern des mittlern Tirols Gotenenkel. Die Schnalser und Sarntaler waren ihm Reste einer »rätischen Gemsenwacht« Theoderichs. Sogar bis auf die Cimbern hat man die Sieben Gemeinden im Vicentinischen zurückführen wollen, die noch Reste der deutschen Sprache haben, während die Dreizehn Gemeinden fast ganz verwelscht sind. Von den im Welschtum der Südalpen zerstreuten Gemeinden liegen Gruppen am Monte Rosa, im Nonsberg, im Fersinatal, im Tal der Brenta, einzelne an der kärntnerisch-friaulischen Grenze. Sicherlich ist es von hohem Wert, dieses zerstreute und vielfach bedrängte Deutschtum zu schützen und zu erhalten. Aber dieses Bestreben darf nicht von der unhistorischen Voraussetzung ausgehn, daß der Südabhang der Alpen und ein großer Teil Oberitaliens einst deutsch gewesen sei. Selbst die öfters mit Sicherheit ausgesprochne Behauptung, Trient sei noch im sechzehnten Jahrhundert zur Hälfte deutsch gewesen, kann nicht begründet werden. Es war schon damals nicht viel anders als heute, wo in den italienischen Städten Welschtirols nur Beamte und Garnison einen deutschen Rückhalt bilden. Die Langobarden und ihre Genossen beherrschten eine überwiegend romanische Bevölkerung. Ihre Reste muß man nicht in einigen deutschen Bauernschaften von großenteils späterer Einwanderung, sondern hauptsächlich in den den Norditaliener auszeichnenden wirtschaftlichen und politischen Eigenschaften suchen.

Die Sprachverhältnisse im nordöstlichen Schleswig, wo Deutsche mit Dänenzusammenstoßen, liegen heute folgendermaßen: Was südlich und östlich von einer Linie Flensburg-Husum liegt, ist niederdeutsch. Niederdeutsch ist auch Bredstedt mit einem ans Meer reichenden Gebiet und die Inseln Nordstrand und Pellworm. Ein Gebiet, wo Deutsch und Dänisch in wechselnden Verhältnissen nebeneinander gesprochen werden, zieht sich dann von Bau (nördlich von Flensburg) bis südlich von Tondern und Hoyer. Nördlich von diesem Mischgebiet wird Dänisch gesprochen. Aber in diesem Gebiete herrscht das Deutsche vor oder hat eine beträchtliche Minderheit in Hoyer, Tondern, Lügumkloster, Apenrade, Hadersleben, Christiansfeld, Sonderburg, Augustenburg und Norburg (auf Alsen). Das Dänische hat besonders in Angeln im Laufe des letzten Jahrhunderts an Gebiet verloren und geht auch auf dem Mittelrücken Schleswigs zurück. Mehr gewinnt allerdings das Deutsche dem Friesischen ab.

Endlich wird im äußersten Nordosten ein schmaler Zipfel des Reichsgebiets von dem Litauischen eingenommen, das nördlich von einer Linie Labiau-Pillkallen gesprochen wird. In Resten kommt das Litauische bis Goldap vor. Die nächsten Verwandten der in diesem Nordostwinkel ausgestorbnen Preußen sind die paar hundert Letten oder Kuren auf der Kurischen Nehrung.

Fremdsprachige Bürger des Reichs

Deutschland zählt ungefähr ein Zwölftel Nichtdeutsche in seiner Bevölkerung (gegen 4,5 Millionen in den 56,3 Millionen der Zählung von 1900). Ziehen wir davon 600 000 Juden als Deutschredende und 500 000 Bürger fremder Staaten ab, so bleiben gegen 3½ Millionen fremdsprachige Bürger des Deutschen Reichs übrig. Davon waren 1900 rund drei Millionen Polen, Kassuben und Masuren, 140 000 Wenden und Tschechen, 211 000 Franzosen in Elsaß-Lothringen sowie 12 000 Wallonen in der Rheinprovinz, 140 000 Dänen und 106 000 Litauer. Den Boden Deutschlands bewohnt also eine so überragende Mehrzahl von Deutschen, daß Deutschland fast ein nationaler Staat wird; aber doch kann es nicht mit demselben Rechte wie Frankreich mit seinen anderthalb Millionen Kelten, Basken und Italienern so genannt werden. Leider entscheiden hier die Zahlen nicht allein. Es kommt auch die Lage, die geschichtliche Vergangenheit und der Volkscharakter ins Spiel. Es wäre töricht, zu leugnen, daß gerade diese aus den Polen, den Franzosen und den Dänen Deutschlands drei auf selbständige Entwicklung oder wenigstens Erhaltung hinzielende und damit Keile in den Stamm des Reichs treibende Volksbruchstücke machen. Diese darf man nicht vergleichen mit den Kelten oder Basken, an das einsame Meer hinausgedrängten, harmlosen Völkersplittern. Die Polen sind ein Teil eines noch immer zahlreichen Volkes, das eine große Vergangenheit hat, die es verhindert, seine Zukunft aufzugeben. Sie gehn nicht zurück wie die Wenden, Litauer und Friesen, sondern ihr Wachstum in dem letzten Menschenalter war durch Geburtenüberschuß, Zuwanderung aus Rußland und Polonisierung von Deutschen sehr beträchtlich. Einmal findet dieses Wachstum in dem Hauptwohngebiet statt, und dann führt es zu einem Hinausströmen nach Westen, das bis nach Westfalen hin starke polnische Gemeinden geschaffen hat. Der konfessionelle Gegensatz der katholischen Polen zu den in der Mehrheit protestantischen Deutschen der Ostprovinzen verschärft den Gegensatz der beiden Völker. Das Polnische ist nicht bloß die Sprache einer einzigen Schicht der Bevölkerung, eine Bauernsprache, wie das Litauische und Wendische oder wie der masurische Dialekt. Die Polen bilden einen vollständigen gesellschaftlichen Aufbau von den Bauern bis hinauf zu einer stolzen Aristokratie. Das einst fast noch fehlende Bürgertum hat sich nach deutschem Beispiel und unter dem Schutze der preußischen Verwaltung kräftig entwickelt. In Posen, Westpreußen und Schlesien gibt es 78 Städte und Städtchen mit polnischen Mehrheiten, die Stadt Posen ist der einzige nichtdeutsche Stadtkreis Preußens, und endlich gibt es in Kreisen, die der Mehrzahl nach deutsch sind, sechs polnische Städte.

 

Wie auch die Zahlenverhältnisse der Deutschen und der nicht deutsch Sprechenden im Reiche sein mögen, alle andern Sprachen, die auf deutschem Boden heimisch sind, stehen hinter der deutschen dadurch zurück, daß diese die Sprache der Regierung, der Schulen – die fremdsprachigen Rekruten machen nicht einmal ganz zwei Prozent der Gesamtzahl der Eingestellten aus –, der Armee, des großen Verkehrs und der Gebildeten ist, und überhaupt dadurch, daß es eine von etwa achtzig Millionen auf der Erde gesprochne Sprache ist. Das nimmt nun eigentümliche geographische Formen an, die dem allgemeinen Gesetze folgen, daß der Deutsche in der Regel die politisch, kulturlich und wirtschaftlich bessern Stellen inne hat. Eine so ganz im Rückgange befindliche Sprache wie das Friesische hat nur noch einen kleinen Küstenstrich und ein paar kleine Inseln. Auch das Wendische, das Kassubische und das Masurische sowie das Tschechische: sie alle sind bei uns nirgends die Sprachen der Städte, sie werden auf Dörfern gesprochen, und man hört sie nicht an den großen Verkehrswegen. Ist eine Sprache, wie das Dänische und Polnische, noch weit genug verbreitet, daß sie größere Städte in ihrem Gebiete hat, dann sind diese Städte zweisprachig, wie Posen oder Hadersleben. Dabei schichtet sich die Bevölkerung nach den Sprachen so, daß die herrschende Sprache immer auch die Sprache der mit der Regierung und dem Verkehr in Verbindung stehenden oder von ihnen abhängigen Kreise, die andre hauptsächlich die des Landvolks und der Kleinbürger ist, jene die Sprache des öffentlichen Lebens, diese die Sprache der Familien.


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