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Indem die Deutschen sich mit wachsender Zahl immer enger mit ihrem Boden verbanden, entstand eine ganz neue Landschaft, eine Kulturlandschaft, die voll ist von den Zeichen der Arbeit, die ein Volk in seinen Boden hineinrodet, hineingräbt und hineinpflanzt. Wir sehen viele kleine, einander ähnliche Wirkungen der in vielen kleinen Bezirken mit ähnlichen Mitteln wirkenden Kraft eines arbeitenden und fortschreitenden Volkes. Und diese Wirkungen sind von den in benachbarten Ländern zutage tretenden ebenso verschieden, wie das deutsche Volk nach Art und Geschichte von ihnen verschieden ist.
Das Land, das sich einst einförmig hin erstreckte, ist in eine Menge von Stücken zerteilt worden, die alle im Verhältnis zum ganzen sehr klein sind. In ihnen zeigen die scharfen Furchen der Äcker, die schnurgeraden Gräben der Bewässerungsanlagen und selbst die reinlichen Umrisse der Strohschober die Sorgfalt einer emsigen Arbeit von langer Tradition und Übung, die sich das ganze Land vom Rhein bis zur Weichsel unterworfen hat. Gerade diese Gleichmäßigkeit ist bezeichnend. Es gibt auch in Deutschland Flächen ohne Kultur, aber nur wo der Anbau vollkommen unlohnend ist. Wir haben keine Campagna und keine Despoblados. Das Viertel des deutschen Bodens, das noch mit Wald bedeckt ist, der eingeengte, zusammengedrängte, durch Lichtungen jeder Form und Größe durchbrochne und zerschnittne Rest jenes alten germanischen Urwaldes, der einst undurchdringlich genannt wurde, kann heute ebensogut als Kulturland gelten wie Äcker und Wiesen. Die Waldkultur nützt den Boden aus, der sonst unergiebig wäre, und ist an andern Stellen unentbehrlich für die Erhaltung eines gesunden klimatischen und hydrographischen Zustandes. Ja man wird füglich sagen dürfen, der Ackerbau sei in vielen Teilen Deutschlands schon weiter gegen den Wald vorgedrungen, als Boden und Klima gestatten. Die armen, steinigen Hafer- und Kartoffelfelder auf dem Rücken des Erzgebirges, im Harz, in den südlichen Vorbergen des Thüringer Waldes oder auf manchen steinigen Muschelkalkhochebenen über dem Main und der Tauber bieten ihren Bebauern geringen Nutzen. In die Landschaft bringen diese kärglich bewachsnen Wölbungen mit ihren grüngrauen flechtenbewachsnen Felsgraten oder ihren seit Generationen herausgepflügten und zu breiten Steinwällen aufgeschichteten Kalksteinfladen, die die geringe Tiefe der Ackererde bezeugen, einen Zug von Armut, den in unsrer Zone selbst die Heide nicht kennt. Sie verkünden das Vorhandensein einer dichtern Bevölkerung, als dieser Boden verträgt.
Die ältesten Spuren und Reste der Bewohner des deutschen Bodens in Höhlen, Pfahlbauten, Küchenresten, Gräbern jeder Art zeigen immer nur kleine Völkchen in weiter Zerstreuung. Sie haben auch keine so zahlreichen Steinpfeiler, Steinkreise und Dolmen aufgerichtet wie in manchen Teilen Westeuropas. Wir haben auf deutschem Boden kein einziges prähistorisches Denkmal von wahrhaft monumentalem Charakter. Nur im Tiefland ist noch da und dort eine Steinsetzung an einsamer Stelle erhalten, die das Grab eines großen Mannes bedeckt, und wenige Höhen des Mittelgebirges sind von Ringwällen umzirkelt, deren schönste Beispiele der Altkönig im Taunus bietet. Auch das Fichtelgebirge hat schöne Reste davon. Manche, die in einst slawischen Gebieten gefunden werden, ragen deutlich in die geschichtliche Zeit herein.
Wohl werden auch in grauer Vergangenheit Völkerwellen von Osten, Süden und Norden her das in der Mitte Europas gelegne Land überschwemmt haben; aber sie konnten dieses Land nicht bedecken. Sie breiteten sich auf den natürlichen Lichtungen in den Heiden und längs den Flußläufen aus. Die ältesten Wege auf deutschem Boden können nur Waldpfade gewesen sein, die die, Lichtungen miteinander verbanden. Sie waren ebenso vereinzelt und abgebrochen wie der Verkehr, der sich auf die Verbindung der einander nächstgelegnen, durch alte, geheiligte Formen die Gemeinsamkeit des Ursprungs bewahrenden Stämme beschränkte. Selbst diese ließen weite Wildnisse, die höchstens Jagdgebiete sein konnten, zwischen sich bestehen, in denen an wenig Stellen bewachte Durchgänge offen gehalten wurden. Im Osten dürfte der von der Adria zum Samland die kürzesten Entfernungen suchende Bernsteinhandel am frühesten einzelne Pfade zu einem Wege vereinigt haben, der von der Donau zur Elbe, Oder und Weichsel führte. Im Westen haben zuerst die Römer ihre Verkehrswege in einer Weise durchgeführt, daß noch heute Römerstraßen und römische Warttürme in der historischen Landschaft wirksam erscheinen. Wir haben aber keinen Rest von den alten Knotenpunkten dieses Verkehrs, denn dieser hatte vor der Römerzeit auf deutschem Boden noch nicht die nachhaltige Kraft, die zur Städtebildung notwendig ist. Höchstens zeigt eine auffallend zusammengehäufte Menge von Bronze- oder Bernsteingegenständen an einer Stelle, ein sogenannter Depotfund, den Rastplatz eines Handelsmanns an.
Erst der Ackerbau trug in das Leben der alten mitteleuropäischen Völker eine Entwicklung hinein, durch die die Zahl der Menschen auf demselben Boden immer weiter wachsen und sich zu einzelnen Gruppen zusammenschließen konnte. Da der Ackerbau nicht überall gleichartig war, sondern unter sehr abweichenden klimatischen Bedingungen arbeitete und aus verschiednen Quellen stammte, so sind bis auf den heutigen Tag auch seine Spuren verschiedenartig. Eine große Anzahl von Kulturpflanzen, Geräten und Methoden der Landwirtschaft führt auf römische Einführung zurück. Aber schon vor dieser scheinen die Germanen einen tiefer greifenden Ackerbau getrieben zu haben als die Slawen.
Römische Einflüsse können im Bau und in der Anlage der Wohnstätten und Dörfer in Süd- und Westdeutschland deutlich nachgewiesen werden. Die Unterschiede der Dorf- und Hofanlagen und Gemarkungen (s. o. S. 250) sprechen noch deutlicher von Stammeseigentümlichkeiten, die besonders weit auseinander liegen in den slawischen oder einst slawischen und den germanischen Teilen unsers Landes. Man glaubt sogar keltische Reste in den westfälischen Langhäusern zu erkennen, wo Wohnräume und Stall unter demselben Dach und in einer Flucht liegen. Und von spätern Einwirkungen sind besonders die flandrischen nicht zu verkennen, die durch die mittelalterliche, von Westen nach Osten gerichtete Kolonisationsbewegung ihren Weg bis weit über die Elbe hinaus gefunden haben. Wer sich mitten in Pommern durch Straßenzeilen mit säubern roten Backsteinhäusern mit großen Fenstern, niedern Mauern und hohem Dach angemutet fühlt, steht denselben von Westen her übertragnen Einrichtungen gegenüber, die wir auch in einer bestimmten Gemarkungsform und dann in ganz andrer Ausprägung in den Anklängen an holländische Hafenstadtanlagen finden, wie sie in allen unsern Seestädten wiederkehren.
Nur wenig hat der Boden diese Unterschiede beeinflußt. Das Wohnen in Einzelhöfen und kleinen Hofgruppen (Weilern, Zinken), das der Alpen- und Voralpenlandschaft einen so reich belebten Charakter gibt, ist auch in den Vogesen und im Schwarzwald üblich, aber nur wo Alemannen und Schwaben vorwiegen; es verschwindet in den fränkischen Gebieten und kehrt dann in Nordwestdeutschland, besonders in Westfalen, wieder, allerdings mit einer ganz verschiednen Anlage des Hauses. Den schärfsten Gegensatz zu dieser Zerstreuung, die den engsten Anschluß der menschlichen Wohnstätten an die Natur bedeutet, zeigen die befestigten, auf Hügeln oder halbinselartigen Höhenvorsprüngen zusammengedrängten Dörfer. Diese sind allerdings auf dem eigentlich deutschen Boden nirgends so verbreitet wie in den von Mongolen- und Türkenstürmen bis ins neunzehnte Jahrhundert immer wieder heimgesuchten deutschen Kolonialgebieten Siebenbürgens mit ihren burgenartigen, geräumigen, befestigten Kirchen.
Die weitaus größte Zahl der deutschen Städte und Dörfer reicht um ein Jahrtausend zurück, aber jede einzelne Siedlung, mit wenigen Ausnahmen, ist gewachsen. Man ist erstaunt, wie früh selbst die Namen von Höfen und Hütten der hintersten Alpentäler vorkommen. Eine Karte, auf der jede Siedlung durch einen Punkt bezeichnet wäre, würde für das Jahr 900 viele Teile von West- und Süddeutschland nicht viel anders zeigen, als sie heute sind. Ganz anders, wenn wir die Größe der Wohnplätze berücksichtigen. An die Stelle einer ältern Ungleichheit der Bevölkerungsverteilung, die zwischen den am frühesten urbar gemachten sonnigen Hängen und natürlichen Lichtungen der Flußtäler weite menschenleere Strecken liegen ließ, ist seit Jahrhunderten eine andre immer wachsende Art von Ungleichheit durch den Wechsel von dicht und dünn bewohnten Gebieten getreten. Stärker als je hat der Zug nach den Städten unsre Bevölkerung erfaßt. Das war nicht immer so. Das Deutschland der sächsischen und schwäbischen Kaiser war viel städteärmer, und seine Städte waren eng und von halb dörflichem Wesen und durch weite unbewohnte Räume getrennt. Aber da sich die Städte niemals wie die Dörfer an den Wald und das Feld anschmiegen und gleichsam organisch mit ihrem Boden verwachsen, sondern vielmehr mit der Natur um den Vorrang kämpfen und etwas Selbständiges und Dauerndes in der Landschaft darstellen, so sind aus der frühesten Städtezeit Mauern, Tore, Türme, Brücken, Paläste, Kirchen erhalten, und so aus allen folgenden. Deshalb gehören städtische Bauten aus allen Zeiten zu den hervortretendsten Zügen der deutschen Landschaft und tragen am allermeisten zu ihrem geschichtlichen Charakter bei. Jedes Jahrhundert, jede geschichtliche Gruppierung, jeder Stil hat seine Spuren in ihnen zurückgelassen.
Abstrakt angesehen ist ja jeder Städtebau eine Erhöhung über die Umgebung; aber die alten Burgen, Kirchen, Schlösser suchten von vornherein höhere Punkte auf, von denen sie zu Schutz und Augenlust einen weiten Bereich überblicken konnten. Wenn dann im Laufe der Jahrhunderte das Schutzbedürfnis ab- und die Volkszahl zunahm, stiegen alle die jüngern Teile in die Ebene hinab, und so sehen wir, wie sich in Jahresringen das Wachstum nach unten und außen ausbreitet. Wir gehen in Baden und Heidelberg von den Römertürmen zu den alten Burgen und von diesen zu den neuen Schlössern hinab und sehen heute die einst am Bergabhang aufgebaute Stadt breit in die Ebenen der Oos und des Neckars hinausziehen. Je neuer die Städte sind, desto tiefer liegen sie in der Regel. Die jüngsten Städte, deren Keime der wirtschaftliche Aufschwung des letzten Halbjahrhunderts ausgestreut hat: Bremerhaven, Ludwigshafen, sind von Anfang an breit ans Wasser hingebaut. Die Siedlungen sind nicht bloß hinabgestiegen, sie haben sich auch aus dem Schutze zurückgezogner Lagen hinausgewagt, wie ein Vergleich zwischen Stettin, das eine der natürlich geschütztesten Lagen unter den Ostseestädten hat, und Swinemünde zeigt. Dagegen liegen selbst im Tieflande die alten Städte auf den Wölbungen des Bodens und ragen nicht selten wie türmende Inseln aus flachem Tieflandhorizont hervor. Weite Gebiete von sonst einförmigen Linien gewinnen ungemein durch ihre von weither sichtbaren türmereichen Städte. Und soweit man sie sieht, so weit legt sich auch der Hauch ihrer geschichtlichen Erinnerungen über die Landschaft. So schauen Halberstadt, Merseburg, die Marienburg weit ins Land hinaus, wie Lübeck und Stralsund von der hohen See her lange sichtbar sind, aus der ihre stolzen Türme unmittelbar aufzutauchen scheinen. Deutlich erkennt man vor allem an den ostelbischen Städten den fast allgemeinen Ursprung aus den Befestigungen. Und Leipzig, Brandenburg, Posen liegen wohl inmitten sumpfiger Flußgeflechte, aber doch etwas erhöht. Sehr häufig erinnert daher der Gegensatz der buckligen Straßen der Stadt zu den flach hinlaufenden Chausseen draußen an die unebene Unterlage, auf die der erste Gründer seine Stadt gestellt hat.
Überall in Deutschland haben die zwei das Land beherrschenden Stände des Mittelalters, Kirche und Landadel, die freien, aussichtsreichen Lagen zuerst herausgefunden und verwertet. Daher auch hier die lang nachwirkende Verbindung zwischen den Klöstern, Kirchen, Kapellen, Burgen und den malerischsten Punkten der Landschaft. Das östliche Mitteldeutschland zeigt davon nicht soviel wie das westliche, wo schon die Römer mit ihren Warttürmen und Merkurstempeln vorangegangen waren. Aber die Katharinenkirche über Wunsiedel, die heute als der schönste unter den leicht erreichbaren Aussichtspunkten des Fichtelgebirges gilt, oder die Trümmer von Paulinzelle im Thüringer Walde, die Rudelsburg und Giebichenstein an der Saale, die hochragende Landeskrone bei Görlitz sind aus tausend herausgegriffne Beispiele, wie das moderne Naturgefühl und Erholungsbedürfnis die Wohnstätten der Alten aufsucht.
Diese Alten stellten nicht nur ihre Bauten mit Vorliebe auf erhabne Punkte, sie bauten auch selbst hochstrebende Türme und Giebel. »Scharfzinnige« Gassen sind für Städte wie Nürnberg, Hildesheim, Lübeck ebenso bezeichnend wie eine gewisse Flachheit für die jüngern. Kein Stil hat die deutsche Landschaft so beeinflußt wie der gotische. Kinder der Gotik sind nicht nur die hochragenden Türme von Köln, Straßburg, Freiburg, Ulm, Regensburg und die einfachern Türme der großen Backsteinkirchen des Nordens; auch die schlanken spitzen Türme einfacher Dorfkirchen gehören zu dieser Familie. Der herrliche durchbrochne Turm des Straßburger Münsters herrscht königlich über der Landschaft des mittlern Elsasses. Er ist in dem ebnen Tal des Oberrheins sichtbar vom Fuß der Vogesen bis zum Fuß des Schwarzwalds. So beherrscht aber auch jeder Kirchturm seinen Umkreis, in dem er das hervorragendste und idealste Bauwerk ist. Es ist also wichtig, daß er hoch hervorragt. Im ganzen hat Oberdeutschland mehr hochragende spitze Kirchtürme als Niederdeutschland, und vielleicht sind die schlanksten von allen am Rande der Alpen zu finden. Die grüne Farbe der schmalen spitzen Kirchtürme ist einer der freundlichsten Züge in der Voralpenlandschaft. Am Neckar und am Oberrhein herrschen die Kuppen und Zwiebeltürme von oft sehr feinen Kurven vor. Unter den niederdeutschen sind dagegen die Türme der vorpommerschen und rügischen Dorfkirchen massig; Eckkrönungen sind häufig angebracht, um den schweren Eindruck zu mildern. Fast kastellartig sind in Mitteldeutschland die Kirchtürme des Werralandes, während weiter östlich die Mannigfaltigkeit der Kirchturmformen manch einförmiges Bild des Wellenlandes zwischen Harz und Erzgebirge belebt. Der zwischen zwei einander überragenden langen Höhenwellen hervorragende Kirchturm ist immerhin eine edlere Staffage als die Flügel einer Windmühle.
Die katholischen Gegenden Deutschlands haben allein in ihren Feldfluren und auf ihren Anhöhen manche andern Zeugnisse ihres Glaubens bewahrt, der sich oft wunderbar feinfühlig mit einem alten, unbewußten Natursinn verbindet. Wer wissen will, wie tief das Naturgefühl in der deutschen Seele wurzelt, der sehe sich einmal die Lage der einfachsten Kapellen, Kreuzwege und Wallfahrtskirchlein an; kaum eines, das nicht den Blick über ein weites, fruchtbares Land, oder die von selbst zur Umschau anregende Lage auf einem Gebirgskamm, oder die Schauer einer Waldestiefe mit dem religiösen Empfinden zu vereinigen gesucht hätte. Außerdem hat jeder alte Bischofssitz und haben viele Klöster mit den religiösen auch künstlerische Anregungen ausgestrahlt. Welcher Wandrer, der durch das Rhönland gezogen ist, hat nicht empfunden, wie die von der Bischofsstadt ausgehende Kunstübung in der Gegend von Fulda die »Bildsteine« reicher gestaltet, mit gewundner Säule, Reblaubgewinden und reichem Schmuck kleiner Figuren ausgestattet hat. Die alte christliche Kultur breitet überhaupt einen vergeistigenden Hauch über das ganze Fulderland ans. Der Petersberg mit seinem pyramidenförmigen Aufbau, den die weit überragende Kirche krönt, ist ein echter heiliger Berg. Bis auf die Gipfel der Rhön haben Waller die Pfade gebahnt. Bildsteine und Kruzifixe ersetzen die Wegweiser; die Kapelle und die Steinkanzel auf der stillen Höhe der Milsenburg vollenden diesen religiösen Charakter der ganzen westlichen Rhönlandschaft.
So hat sich auch die geschichtliche Verwandtschaft der Städte in dem Stein der Bau- und Bildwerke dauernde Denkmale geschaffen. Der Charakter der Städte wechselt von Landschaft zu Landschaft. Verwandte Geschicke, verwandte Bilder. Unmittelbare Nachahmung hat in leicht kenntlicher Weise die Ostseestädte einander ähnlich gemacht. Lübeck ist in der zweiten Hälfte des zwölften Jahrhunderts die Musteranlage für zahlreiche Städtegründungen in den Ostseeländern geworden, wie Rostock, Wismar, Stralsund, Greifswald, Stettin, Anklam, Stargard, Kolberg. Die Anklänge an die Lübecker Marienkirche reichen in den alten Hansestädten noch weiter nach Osten und binnenwärts. Wie die Leuchttürme schauen zum Verwechseln ähnlich die Türme der Kirchen auf die blaue Ostsee hinaus. Eine andre Familienähnlichkeit umfaßt tiefergehend alle Seestädte. In den Seestädten riß der Faden der Entwicklung niemals so leicht ab wie in den Binnenstädten. Lübeck und Danzig zeigen unter allem Wechsel der Geschicke eine ruhige Entwicklung, wenn auch ebbend und flutend, während Augsburg und Nürnberg nach regstem Leben in Schlaf sinken. Das Meer erlaubt nicht die vollständige Wegleitung und Abdämmung des Verkehrsstroms. Daher haben die Binnenstädte monumentale Zeugnisse ihrer Blüte aus wenigen Jahrhunderten, oft nur aus einigen Jahrzehnten, während in den Seestädten kein Jahrhundert ohne neue Schöpfungen vorbeigegangen ist, die sich an dem nie ganz abreißenden Lebensfaden aufreihten. Viel mehr Besonderheiten weisen trotz der gemeinschaftlichen römischen Grundlagen die rheinischen Städte auf mit ihren herrlichen romanischen und noch mächtigem gotischen Bauten. Basel, Straßburg, Speier, Worms, Mainz, Köln zeigen, daß der Rhein einst die Lebensader des römischen Germaniens und des Reiches der Karolinger war und es mit Unterbrechungen in der ganzen großen Zeit der deutschen Kaiser aus fränkischem und schwäbischem Stamme geblieben war. Trier und Frankfurt gehören in diese Familie. Daß aber dieser Garten Deutschlands nicht immer eines der blühendsten Länder der Christenheit war, sondern schwere Kriegsstürme über sich hinziehen lassen mußte, das lehrt in ergreifender Weise die schwermutsvolle Größe so manches Bildes, das dort an unsern Augen vorüberzieht, wo auf den altersgrauen Dom die zerstörte Feste hinabschaut.
Die zahllosen Burgen und umtürmten Städtchen am Rhein und seinen Nebenflüssen erzählen eine andre Geschichte: sie sind Zeugnisse der Zerklüftung und Zersplitterung, die mit hundert Schlagbäumen und Sperrketten die mächtige Lebensader unterband und kaum eine Brücke für den Verkehr von Ufer zu Ufer bestehen ließ. Wie anders ist wieder die Sprache jüngerer und jüngster Städte wie Mannheim und Ludwigshafen und der neu hinzugewachsnen Quartiere von Straßburg, Köln und Düsseldorf, in denen der alte Kern der Stadt fast verschwindet: sie sind aus dem Bedarf eines großen fessellosen Verkehrs entstanden, dem die blühendste Vergangenheit nichts an die Seite zu stellen hat, modern, regelmäßig, unmalerisch im höchsten Grade, großenteils Schöpfungen des Augenblicks und nur dem Augenblick aufs stärkste imponierend. In manchen Beziehungen sind ihnen die zahlreichen kleinen und großen Residenzstädte verwandt, die ja zum Teil auch ganz künstliche Schöpfungen sind; aber fast allen fehlte einst das mächtige Verkehrsleben, das durch jene pulst; und manche sind auch, abgesehen von Schloß und Zubehör, nicht viel mehr als Landstädtchen von auffallender Regelmäßigkeit und Stille. Nur wenige hat ein Strahl der Geschichte hell und für immer erleuchtet. Weimar hat seinesgleichen nicht in der Welt. Nur noch wie eine Dämmerung liegt es dagegen auf kleinern der Gattung wie Rastatt, Ludwigsburg, Wolfenbüttel, Blankenburg. Dabei durchdringt der allgemeine Charakter ihrer Landschaft diese Städte. In der Regelmäßigkeit und Breite Karlsruhes und Darmstadts kommt die flache Rheinebene zur Geltung. Haben nicht die thüringischen Städte ursprünglich alle etwas von thüringischer Enge und von der Armut des Gebirges an sich? Man muß nicht die mit Villenkränzen umgebnen neu aufgeblühten wie Eisenach, Weimar, Koburg oder Naumburg, sondern die im alten Zustand erhaltnen wie Schmalkalden betrachten. Dazu trägt ähnlich wie auch in den alten hessischen Städtchen der vorwaltende Fachwerkbau bei, der leichter einen verfallnen Charakter annimmt als der reine Steinbau.
So wie die Städte und Marktflecken durch den Verkehr entstanden oder wenigstens gewachsen sind, so sprechen sich auch in ihrer Anlage die von Jahrhundert zu Jahrhundert wechselnden Richtungen des Verkehrs aus. Die älteste Blüte des Städtewesens finden wir in den Gegenden, wo der Verkehr am frühesten aufblühte, und mit der Verdichtung des Netzes der Verkehrswege wuchs auch die Zahl und Größe der Verkehrsmittelpunkte. Um nur eine neuere, in die Gegenwart hereinragende Entwicklung zu nennen, lagen in dem Netz der deutschen Poststraßen vor der Zeit der Eisenbahnen Tausende von Ruhepunkten des Verkehrs; daher alle zwei bis drei Meilen die mit behaglichen Postwirtshäusern ausgestatteten Städtchen und größern Dörfer, an denen der Eisenbahnverkehr, der so kurze Pausen nicht liebt, nun vorbeisaust, um wenigere, größere Verkehrsmittelpunkte zu schaffen. Ein andrer Unterschied, der schon tiefe Spuren in unsrer Landschaft zurückgelassen hat, liegt darin, daß der alte Wagen- und Botenverkehr in die Städte hinein führte, wo der Marktplatz ihm breiten Raum bot, während sich der viel anspruchsvollere Eisenbahnverkehr seine »Stationen« in der Regel außerhalb der Städte schaffen muß. Daher sehen wir in vielen Städten die Marktplätze oder die in süddeutschen, besonders bayrischen Städten häufigen breiten Straßen, wo einst Märkte gehalten wurden, veröden und an ihre Stelle einen Bahnhofstadtteil treten, der als der Inbegriff des Neuen, Modernen und Unfertigen der alten abgeschlossenen Stadt ganz unorganisch angegliedert ist.
Gehören nicht auch Tausende von Meilen Landstraßen und Wegen samt ihren Brücken aus Holz oder Stein, Fähren usw., die neben den Eisenbahnbrücken wie Spielzeug aussehen, schon zur historischen Landschaft? Ihnen reihen sich die Telegraphenlinien als ein absolut neuer Zug in unsrer Landschaft an. Wenn man erwägt, daß Deutschland heute mehr Eisenbahnen hat als noch im zweiten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts Kunststraßen, und daß die schönsten Straßenbauten heute neben den Aufschüttungen, Einschnitten, Brücken und Viadukten der Eisenbahnen verschwinden, ferner, daß wesentlich den Eisenbahnen die Steigerung der Beweglichkeit der Bevölkerung zugeschrieben werden muß, die eine ganz neue Verteilungsweise über das Land bewirkt, so muß man wohl auch im landschaftlichen Sinne unsre Zeit das Zeitalter der Eisenbahnen nennen.
Die Geschichte jeder Stadt und jeder Landschaft lehrt die fortreißende Gewalt kennen, die in jedem kleinsten Äderchen dieses modernen Verkehrssystems wirksam ist. Sie gehören alle einem einzigen Strome an, und so sind sie auch überall dieselben und streben überall die Ausgleichung der in zwei Jahrtausenden angesammelten Verschiedenheiten an, die den wesentlichen Charakter der deutschen historischen Landschaft, die Mannigfaltigkeit, ausmachen. Später erst werden die Spuren der politischen Mannigfaltigkeit verschwinden, die in der Zeit der staatlichen Zersplitterung den deutschen Boden mit zahllosen politischen Mittel- und militärischen Stützpunkten kleinsten Formats, mit Schlagbäumen und Grenzpfählen in allen Farben und mit allen jenen Abstufungen der staatlichen Leistungen und Attribute bedeckt haben, die wir z. B. noch sehr deutlich in dem Unterschied der Güte der Landstraßen von der Rheinpfalz durch Baden und Württemberg nach Altbayern wahrnehmen. Mit der Zersplitterung zusammen ging ein Überwuchern der politischen Züge in der historischen Landschaft, Zeugnisse der Vielregiererei und Bevormundung, die zum Glück großenteils der Vergangenheit angehören. Es bezeugt ein gesünderes Leben, daß die in der Lage und den Bodenverschiedenheiten liegenden Kulturunterschiede diese Merkmale künstlicher, willkürlicher Sonderungen immer mehr verdrängen, und daß damit die historische Landschaft immer treuer den organischen Zusammenhang des Volkes als eines Ganzen, wenn auch Mannigfaltigen, mit seinem Boden abspiegelt.