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Wenn ich sage: Europa liegt zwischen den nördlichen Breitegraden 72 und 35, Deutschland aber zwischen 55 und 48, so weiß ich, daß mein Land auf der Nordhalbkugel liegt; ich weiß zugleich, daß es, als ein europäisches Land, der östlichen Halbkugel angehört, daß es geschichtlich zur Alten Welt gehört. Ich sehe ferner, daß, wenn es auch in der gemäßigten Zone liegt, seine Entfernung vom Wendekreis doch viel größer ist als vom Polarkreis, daß es, mit andern Worten, ein Land des kalten gemäßigten Klimas ist.
Europa ist aber auch ein völkerreicher Erdteil. Wie liegt nun Deutschland zu den großen Völkergebieten? In Europa liegt nördlich vom 50. Breitegrad eine Gruppe von Ländern mit vorwiegend germanischer Bevölkerung: Großbritannien, die skandinavischen Königreiche, die Niederlande; der weitaus größte Teil von Deutschland gehört zu dieser Gruppe nördlicher germanischer Staaten. Wie feindlich sich auch Nord- und Südgermanen, Ost- und Westdeutsche manchmal gegenüber gestanden sein mögen, immer bilden sie eine Familie; und so wie ihre Völker stammverwandt sind, können wir ihre Staaten als lageverwandt bezeichnen. Es ist sehr wichtig, daß ebenso die Romanen und die romanischen Staaten in Europa eine südliche Gruppe bilden, in der Portugal, Spanien, Italien, der weitaus größte Teil von Frankreich und Rumänien südlich vom 50. Grad nördlicher Breite liegen. Nur das halbgermanische Belgien liegt nördlich davon. Und endlich ist es eine ebenso wichtige Tatsache, die in der Zukunft noch wichtiger werden wird, daß die Masse der Slawen in Europa östlich vom 17. Grad östlicher Länge wohnt; von dieser Masse ragen nur die Tschechen in Böhmen wie ein Keil nach Mitteleuropa herein. Die Deutschen sind also in der Hauptsache ein Volk des nördlichen und westlichen Mitteleuropas. Durch die deutsche Geschichte ist oft der Zug zur Losreißung von diesem Grunde und zur Verpflanzung in ein andres Land gegangen; aber alle die nach West- und Südeuropa ausgesandten Eroberungs- und Kolonisationsscharen sind gestorben und verdorben. Und so liegen denn auch heute die Sitze der Deutschen nicht gar viel anders als zu der Zeit, wo Tacitus ihnen Weichsel und Rhein zu Grenzen gab, und wo sie für die spätern Römer zwischen Alpen und Nordsee saßen. Es liegt etwas Großes, Beherzigenswertes in dieser Beständigkeit, die nach allen Ausbreitungen in die alte Schwerpunktslage zurückkehrt. Es ist auch eine tröstliche Lehre, die Deutsche nicht vergessen sollten, daß das Leben ihres Volkes immer am gesundesten war, wenn es fest dieses sein altes Gebiet zusammenfaßte. Wenn Italien, Spanien, Frankreich, als von der Natur selbst umgrenzte Länder, sich seit vielen Jahrhunderten wesentlich in derselben Lage und Größe erhalten haben, so liegt darin kein Verdienst; daß aber die Deutschen ihren alten Boden behauptet und immer wiedererworben haben, ist ein Werk der Kraft und Ausdauer, auf das sie stolz sein können.
Mit seiner nördlichen Lage erwirbt Deutschland den Vorzug, dem Ausstrahlungsgebiet der stärksten, über die ganze Erde wirksamsten geschichtlichen Kräfte anzugehören, wo die mächtigsten Staaten, die tätigsten und reichsten Völker wohnen, wo darum auch die meisten Fäden des Weltverkehrs zusammenlaufen und die Gewinne des Welthandels sich ansammeln.
Mit seiner Zugehörigkeit zur Alten Welt steht Deutschland in der Reihe der Länder, die als alte den jungen Gebilden des Westerdteils gegenüberstehen. Es trägt daher im Vergleich zu diesen die Merkmale der Reife, aber auch die Zeichen des Alters. Es ist ein Land der alten Geschichte, der geschichtlichen Landschaften, des dicht besetzten Bodens, zahlreicher Städte, der starken, ununterbrochnen, längst zur Notwendigkeit gewordnen Auswanderung. Unzählige Erinnerungen umweben seine Züge, in denen fast nichts Unorganisches mehr ist; jeder Berg, jeder Fels spricht zu uns und hat aus vergangnen Zeiten zu erzählen.
Deutschland hat mit den andern Ländern ähnlicher Lage und Geschichte in West- und Mitteleuropa gemein, daß man seine Bedeutung weniger in der Weite seines Raumes als in der Zahl, Tätigkeit und Bildung seiner Bevölkerung suchen muß. Dabei ist es sehr wichtig, daß die natürliche Gliederung dieses Teils von Europa die Bildung mehrerer Staaten begünstigte, die in dem Wettstreit um Macht zu ähnlicher Größe herangewachsen sind. Dadurch entstand das, was die Politiker das europäische Gleichgewicht nennen. Wichtiger scheint uns, daß die Ähnlichkeit der Machtstellung die Völker, in deren Mitte Deutschland liegt, ebenso wie die Deutschen selbst, zwingt, danach zu streben, daß ihre Kräfte nicht erlahmen, und besonders daß die von der Überlegenheit ihrer Kultur genährten Quellen ihrer Macht nicht versiegen.