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Deutschland ist umgeben von drei Großstaaten: Rußland, Österreich-Ungarn, Frankreich, von drei kleinern Königreichen: Holland, Belgien und Dänemark, und von der Schweiz und Luxemburg. In Freud und Leid hat es die Folgen davon zu empfinden gehabt, daß es so das nachbarreichste Land Europas ist. Wenn sich die Nachbarn befehdeten, fochten sie ihre Streitigkeiten am bequemsten auf dem Boden aus, der sie trennte; vertrugen sie sich dann wieder, so lag es nahe, daß sie einander Zugeständnisse auf Kosten dieses Bodens machten, den sie fast schon wie ein gemeinsames »Niemandsland« ansahen. Im weiten Umkreis Europas gibt es kein Volk, von den Spaniern bis zu den Mongolen und von den Finnen bis zu den Mauren, das sich nicht auf deutschem Boden geschlagen hätte. Und wie zahlreich sind allein seit dem Westfälischen die Friedensschlüsse, aus denen unser Boden verkleinert hervorging. Das Wort Völkerschlacht ist bezeichnenderweise ein eigentümlich deutsches; leider gilt es nicht bloß von dem viertägigen Ringen bei Leipzig. Denn wie viele Schlachten sind seit den Hunnen- und Ungarneinfällen auf deutschem Boden mit und von nichtdeutschen Völkern geschlagen worden!
Die Natur und die Geschichte geben den Beziehungen Deutschlands zu jedem einzelnen Nachbarn besondre Merkmale und Folgen, die man am besten versteht, wenn man das Beisammenliegen Deutschlands und seiner Nachbarländer in Mitteleuropa, dem engern wie dem weitern, betrachtet. Sehen wir zunächst Rußland. Das ist der größte und nach Natur, Geschichte und Zukunft fremdeste Nachbar, den Deutschland hat, denn an der deutsch-russischen Grenze grenzen Mittel- und Osteuropa aneinander. Osteuropa ist aber nicht von Asien zu trennen. So spinnen sich durch Rußland die einzigen Fäden unmittelbaren Zusammenhangs von Europa zu seinem großen Nachbarkontinent. Die selbständige Entwicklung Rußlands hat von Mitteleuropa asiatische Einflüsse abgehalten, und in dieser Beziehung stimmt die geschichtliche Stellung Rußlands mit der Österreichs und Ungarns überein. Aber zugleich ist damit auch das Wachstum Deutschlands nach der einzigen Seite gehemmt worden, wo Europa an Weite und Breite, kurz an Wachstumsmöglichkeiten gewinnt. Rußlands neueste, auf den Ausbau seiner innern und besonders der europäisch-asiatischen Verbindungen gerichtete Phase birgt für Deutschland die Hoffnung auf eine Aufschließung seiner bisher fast verschlossen gelegnen Ostseite nach Asien hin, zugleich aber die Gefahr eines neuen, nachhaltigem Druckes lang aufgesammelter europäisch-asiatischer Massen auf dieselbe Ostseite. Österreich-Ungarns Lage zu Deutschland ist in manchen Beziehungen der Rußlands ähnlich. Österreich-Ungarn trennt Deutschland vom Orient; während es früher Vormauer war, ist es in der Entwicklung zum Durchgangslande schon viel weiter fortgeschritten als Rußland. Aber so wie die Donau Deutschland und Österreich verbindet, sind sie auch in andrer Beziehung aufeinander hingewiesen. Beide liegen in Mitteleuropa, wo ihre heutige Lage die Folge eines bis in die Neuzeit fortgesetzten Ostwachstums deutscher Völker in slawische Gebiete ist. Sie sind im alten und im neuen römischen Reiche beisammen gewesen. Darum ist auch in dem Allianzvertrage von 1879 das feste Zusammenhalten beider Reiche »ähnlich wie in dem frühem Bundesverhältnis« ausgesprochen worden. Während aber Rußland über Deutschland nach Norden hinausragt, bedeutet Österreichs Überragen in südlicher Richtung die Verbindung mit dem Mittelmeer. In dieser Beziehung gleicht die Nachbarschaft der Schweiz der Österreichs. Beide Länder haben bei ihrer Loslösung aus dem Deutschen Reiche die alte Verbindung Deutschlands mit dem Mittelmeer abgeschnitten, die einst eine Lebensverbindung war. Daher sind sie auch heute die wichtigsten Durchgangsländer für den deutsch-mittelmeerischen Verkehr. Außerdem aber umschließt die Schweiz noch Teile des alten Burgund, der natürlichsten Verbindung Mitteleuropas durch Rhône und Saône mit dem westlichen Mittelmeer, zugleich der einzigen außeralpinen. Der größere Teil Burgunds ist an Frankreich gefallen. Deutschland und Frankreich liegen nebeneinander wie zwei Blätter eines Fächers, dessen Stiel einst beider Alpenanteile und Burgund gebildet haben. Süddeutschland und Nordfrankreich entsprechen einander in der Zonenlage, daher auch im Klima. Norddeutschland hat nichts ähnliches in Frankreich, Südfrankreich nichts in Deutschland; Frankreichs Eigentümlichstes liegt also im Süden, Deutschlands im Norden. Nordfrankreich wäre dafür Norddeutschland näher gerückt durch das Meer und das gemeinsame Tiefland, wenn nicht Belgien dazwischen läge, dessen ausgezeichnete, tief in der Richtung auf Deutschland einschneidende Scheldebucht den nordwestlich gerichteten Verkehr Deutschlands mächtig anzieht. Die Linie Berlin-Paris schneidet Brüssel. Belgien, überwiegend germanisch, aber leider auch überwiegend französiert, wird dem deutschen Verkehrsorganismus als Weg zum Meere für dessen gewerbtätigste Provinzen immer enger angegliedert. Luxemburg ist durch die Eisenbahnen und industriell ein Teil dieses Organismus, was die Zugehörigkeit zum Zollverein verbrieft. Von Aachen bis zum Dollart legen sich die Niederlande vor Deutschland, das sie von den Maas- und von den Rheinmündungen trennen. Dadurch entsteht Deutschlands unorganischste, in jedem Sinne schlechteste Grenzstrecke. Belgien, Luxemburg, die Niederlande sind Stücke des alten Lotharingen und des jüngern burgundischen Reichs, und deshalb sind sie Länder der deutsch-französischen Übergänge, Übergriffe, Kämpfe und Verdrängungen. In dieser Hinsicht haben sie viel Ähnliches mit Elsaß-Lothringen und der Schweiz. Daß die Schweiz, Belgien und Luxemburg neutrale Staaten sind, macht, daß sie, um mit Clausewitz zu reden, wie große Seen an unsrer Grenze liegen. Solange diese Neutralität aufrecht erhalten wird, liegt darin eine Verbesserung unsrer Lage zu diesen Ländern, die unser Reich wie herabgefallne Trümmer einen alten Turm umlagern. Als letzten Nachbar müssen wir Dänemark nennen, das sich unmittelbar nur in einem schmalen Streifen der cimbrischen Halbinsel mit Deutschland berührt. Der Schwerpunkt Dänemarks liegt aber auf den Inseln, von denen Fünen in Sicht der schleswigisch-jütischen Grenze, Seeland vor dem Eingang in die Ostsee, Bornholm der Odermündung gegenüberliegt.