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Elegie von der verlorenen Zeit

Du, der du liegst in der Nacht auf der Folter der schleichenden Stunden,
Du, der du wachst und dich wälzest und dem die herdröhnenden Uhren
Aufstehn als steilende Meilenzeiger der schlaflosen Schwärze;
Mensch in der Nacht, der du schaust, was zu schauen dem Menschen nicht mundet:
Sag, wie verhältst du den Schrei, den aufgellenden, und wie zerreißen
Laken und Hemd deine Finger nicht krampfend in jähem Entsetzen
Und wie entraufst du dem Haupt dir nicht heulend die welkenden Haare,
Mensch, wenn's dir ahnt in der Nacht, wie arg deine Zeit du verloren!
Wenn es dein Herz überfällt so jäh wie der Steinschlag den Hirten,
Daß du dein Leben, das nimmer zurückzuholende, achtlos
Ausgestreut in den Wind und daß deine Hände ganz leer sind?
Unübersehbar gereiht in Alleen, in unendlichen Gassen
Siehst du die Monde und Jahre, die Tage, Minuten und Stunden
Mitleidslos flüchtend vor dir, sie, die du vergeudet von Kind auf.
Holdesten Blickes sind alle sie einstmals dir dienstbar begegnet,
Lächelten freundwillig dir, auf daß du sie nähmest und nutztest,
Daß du sie fülltest mit Segen, mit Samen bestreutest die Furchen,
Ach, daß du gössest mit Regen die märzlichen Äcker der Zeit.
Du aber hast sie verwüstet, verjubelt, verweint und vertändelt,
Ließest sie fruchtlos und leer, die sich sehnten, die Wurzeln zu bergen
Langer Geschlechter von blühenden Taten und wehenden Werken.
Was dir verhängt war seit immer als Auftrag und drängende Sendung,
Was du mit kindlichen Augen schon schautest als wandernden Traum,
Mensch du, die Arbeit, die deine, das Werk, das kein andrer dir tun kann,
Siehe, du hast es verkrümelt, du ließest die Zeit es zerfressen,
Denn die wie Sturmwind den Wachsamen hinreißt zum blinkenden Ziele,
Dem, der sie spielend vertut, wird sie zum schlingenden Wurm.
Mensch, der du liegst in der Nacht, was ward aus den Plänen der Jugend?
Hast du dein Werk dir erbaut und steht es mit seligem Turme
Ragend ins Blaue und zeugend von heldisch getreulichem Tun?
Ach, wie du stöhnest im Finstern und wie du dich sehnest zu sterben!
Denn von dem Turme, da blieben nur niedrige Stümpfe von Mauern,
Unkraut und Brombeergerank hüllen sie spielerisch ein.

Weh, und wie hast du so elend die Zeiten der Liebe vergeudet!
Nun, da es dunkelt und Licht nicht noch Lärm dir zu schweifen erlauben
Feig in die billige Ausflucht, nun siehst du sie alle, die Hände,
Ach, die vermoderten, ach die verschwundnen, die nimmer sich strecken,
Nimmer dich streicheln und halten, die guten, bereiten, getreuen,
Die du nicht hieltest in deinen, wiewohl sie so herzlich sich bogen.
Weißt du die Treppen, du Kühler, die zögernd betretenen, hohen,
Weißt du die wartenden Türen noch, die du so selten geöffnet,
Weißt du die Augen der Alten, die schauten aus ohrigem Lehnstuhl,
Immer erhoffend dich Jungen, der ihrer so völlig vergessen.
Dumpfig erschien dir ihr Zimmer, ihr helles, verjährt ihre Worte,
Raub dir am lustvollen Leben, das tänzerisch hinglitt in Buntheit.
Weißt du es heute, daß nimmer so feste Gefolgschaft dir blühte,
Mensch, der du liegst in der Nacht, als die wachsame Treue der Alten,
Ihrer, die früh dich gekannt, die dein erstes Zähnchen bewundert.
Ihrer, die stumpf du vermeint, und die du geflohen voll Hoffart?
Lange schon sind sie dahin und eilige Fremde bewohnen
Lärmenden Tuns das Gelaß, drin sie starben, dieweilen du fern warst.

Jammervoll liegst du, du Mensch, doch die schlimmste der Ängste, sie kauert
Stumm noch im Winkel der Stube und jetzt erst erhebt sie sich zögernd,
Wächst bis zur Decke empor und steht als ein dräuender Riese,
Bannt dich mit forderndem Blick, daß dir's eisig das Rückgrat hinabläuft,
Fragt dich in ehernem Ton, wie weit du im ratternden Leben
Ließest aufsprossen in dir das verborgene Angesicht Gottes.
Hast du begonnen, o Mensch? Versucht die erhabene Braue?
Hast du den herrschenden Blick und die segnende Hand schon gezeichnet,
Wuchs schon die Riesengestalt dir aus begeistertem Stift?
Wie wirst du dastehen am Tag, wenn es gilt, daß dein Ahnen und Glauben
Her du weisest als Fundament für das ewige Bildnis?
Wie? Nicht begonnen bis heut ward in dir das Erspüren der Linien?
Wie? Denn du hattest nicht Zeit und die Vielfalt der Lichter zergrellte
Täglich in dir den Beginn von Gottes gewaltigem Grundriß?
Nie mehr hebt dir das Dasein an; diese Spanne nur ward dir,
Diese und nimmermehr eine, zu bilden das Auge der Seele,
Daß sie im lauteren Lichte zu schauen dereinstens nicht blind sei.
Wie, und du hattest nicht Zeit, da dir Zeit doch in Fülle geschenkt ward,
Zeit nicht, zu suchen den Gott und zu wecken sein Bild dir im Herzen,
Da du in Tagen und Jahren, in Monden, Minuten und Stunden,
Vielerlei tatest und sannst, erschautest, errafftest, erträumtest?
Mensch, der du liegst in der Nacht und dessen Hände ganz leer sind,
Mensch, wie erträgst du den Vorwurf der unerbittlichen Frage,
Ach, und wie drehst du dir nicht einen Strick aus dem schweißigen Bett-Tuch,
Machest ein Ende der Qual und der laut aufheulenden Reue?

Aber indessen du stöhnest und salzige Tränen dir sickern
Nieder aus brennendem Auge, was darfst du aufseufzend gewahren?
Siehe, was naht dort? Was klettert gelinde empor an den Fenstern?
Siehe, was dämmert ganz schwach? Was zerstreut dort allmählich die Schwärze?
Auf reiß die Läden und lasse die nächtlichen Nöte entweichen!
Spring aus den Kissen und tauche ins Wasser des frischenden Mutes!
Mensch du, ein Tag liegt vor dir, ein neuer, daß du ihn nützest,
Daß du ans Werk, ans verlaßne, dich machest mit treuem Gewissen,
Daß du verratene Liebe versöhnest und pflegest aufs neue,
Daß du den göttlichen Umriß noch einmal mit Zittern beginnest.

Mensch, der du lagst in der Nacht und littest unsägliches Leiden:
Mensch du, du hast ja noch Zeit, da du lebest und bist nicht gestorben!


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