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Stoßgebet eines Christen in diesen Tagen

O lieber Herr, Du sanftgemuter Hirt,
Der Du voll Freude das verirrte Schaf
Im Ödland unter Dörnern wiederfandest; –
Der milde Du die Ehebrecherin
Vor ihrer Richter harter Wut errettet
Mit neuem, nie gehörtem Wort: »Es werfe,
Wer ohne Sünde ist, den ersten Stein!« –
Der Du, zur Schmach des Sklaventods verdammt,
Durchbohrt von Nägeln, durstgedörrt, vom Vater
Vergebung Deinen Henkern noch erbatest: –
O Herr, wir schmücken uns mit Deinem Namen
Und möchten Christen heißen, doch wir handeln
so bös, als hätten wir von Deiner Botschaft
Noch nie auch nur den schwächsten Laut vernommen.
Wir dürfen uns zu bitten nicht erdreisten
Um heilige Schau, um innere Gesichte,
Wie Du sie Deinen Auserwählten gönnst.
Uns Ängstlichen im Pfuhle der Zerstreuung,
Anfangenden und Stümpern, zeig uns Du
Von deiner Wahrheit nur das Vorderste,
Das Leichteste, daß wir's vielleicht begreifen.
Das erste Zeichen deines Alphabets
Laß uns erlernen, uns verstockte Schüler,
Daß wir in eine Welt von Gram und Grau'n,
Von Haß und Rachsucht, Eiter, Blut und Tränen,
Staubenden Trümmern, Krücken, Massengräbern,
Selbstmord und Totschlag, Raffgier, wüster Schändung
Ein wenig kühle Sänftigung hauchen mögen,
Ein wenig Trost in höllenheiße Qual.
Laß uns vergeben unsren Schuldigern,
Auf daß der Vater unser sich erbarme;
Gib uns von deiner Liebe einen Schimmer
Und eine Spur nur von Gerechtigkeit,
Damit wir völlig unwert deines Namens,
Ach, deines ernsten, mildereichen Namens,
Du hochgelobter Christ, nicht seien. Amen.


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