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Achtzehntes Kapitel.

Vollkommen bewies die Reichsstadt in den nächsten Tagen, daß sie sich auf das Totengräberamt verstand, das ihr Meister Baltzer zugewiesen. Mit einer Mäßigung, in der die Lehren des weiland Bürgermeisters Sebaldus von Halveren noch einmal einen vollen Triumph feierten, schied der Rat aus den Enthüllungen des lahmen Hieronymus und seiner Genossin alles aus, was geeignet schien, »das Ansehen der Obrigkeit beim gemeinen Mann zu schädigen«. Man stellte der Bürgerschaft bereitwillig die in einem Versteck des Martinsturmes gefundene Verkleidung zur Ansicht aus, in welcher der lange Pilger den Doktor Sanatas gespielt hatte. Aber man verschwieg ihr, daß die Fäden des verbrecherischen Netzes über diesen Helfershelfer hinweg bis in die Geheimzimmer kaiserlicher und kurfürstlicher Räte und vielleicht auch in die Zellen klösterlicher Fanatiker führten. Diese Entdeckungen sparte man sich zu gelegentlicher diplomatischer Verwendung auf und ließ die gemeinen Werkzeuge als die eigentlichen Verbrecher erscheinen.

Es wäre bei aller Umsicht die größte Schwierigkeit für den Rat geblieben, ein Verfahren gegen den vornehmen Hauptschuldigen zu finden, das der Gerechtigkeit Genüge leistete und doch dem Ansehen des Standes nicht zu nahe trat. Aber diese Schwierigkeit löste Herr Sebaldus von Halveren selbst. Am zweiten Morgen, wenige Stunden nach der nächtlichen Beisetzung seines Sohnes, fanden ihn die Wachen entseelt in seinem Sessel. Man erinnerte sich seiner Worte, daß er dem Sohne bald nachreisen werde; und der Inhalt des Bechers, der zu Dreiviertel geleert vor ihm stand, bewies unschwer, welchen Weg er gewählt habe. Der Rat gewährte ihm ein stilles Begräbnis und ein geweihtes Grab, auf die Versicherung gefälliger Aerzte hin, daß der Selbstmord im Wahnsinn geschehen sei; und er hatte auch nichts gegen ihre weise Vermutung einzuwenden, daß der Verstorbene wohl schon längst gestörten Geistes gewesen sei und in diesem Zustande Thaten versucht habe, die von seinem früheren segensvollen Streben so unerklärlich abstächen. Somit konnte der Ratsschreiber noch am Mittag vor Weihnachten das »Erkenntnis unserer gnädigen Herren« veröffentlichen, wonach Herr Sebaldus von Halveren »in offenkundig erwiesenem Irrsinn«, mit dem langen Pilger zusammen den lahmen Hieronymus und dessen Weib verleitet habe, durch ihre schändlichen Lügen viele hochweisen, beziehungsweise tugend- und ehrenreichen Herren, Frauen und Fräulein ohne allen Grund eines Bündnisses mit dem ††† Teufel zu bezichten und solchergestalt das Wesen und die Regierung hochpreislicher Reichsstadt grausam zu verwirren. Der Scharfrichter hatte dafür gesorgt, daß von dem lahmen Hieronymus und dessen Weibe keine Ergänzung zu diesem obrigkeitlichen Befund mehr zu befürchten war. Die von den Verbrechern verdächtigten Standespersonen hatte der Rat natürlich feierlich allen Verdachtes ledig gesprochen und die auf sie bezüglichen Akten verbrennen lassen. Die Bürgerschaft gab sich mit dem Ausgange zufrieden. Dem Teufels- und Hexenwahn aber vermochte auch dieser so merkwürdig aufgelöste Hexenprozeß nichts anzuhaben. In der Auffassung des Volkes und seiner meisten geistlichen Berater verwandelte sich der angebliche Irrsinn des Herrn Sebaldus sogleich in Besessenheit. Während die ehrsamen Hausfrauen ihren großen Weihnachtshausputz vollendeten und den Weihnachtsschmaus rüsteten, vertieften sich ihre Männer beim Abendtrunk in die traurige Entdeckung, daß der Teufel einen weisen Ratsherrn und Altbürgermeister unvermerkt in Besitz nehmen und zum Hexenriecher machen könne. Und der gelehrte Pater Kleutermann, der geistliche Hofhistoriograph des Teufels, schnitt sich in seiner stillen Zelle eine frische Feder und schrieb, großer Gedanken voll, den Titel einer neuen Untersuchung nieder: » Diabolus se ipse accusans, das ist kurze, doch gründliche Betrachtung, wasmaßen der Teufel einen klugen, frommen und angesehenen Mann berücken und gleichsam verhexen kann, daß er überall Teufelswerk wittert und viele unschuldige Seelen als vermeintliche Hexen in Leibes und Lebens Gefahr bringt.« – –

So begruben die Toten ihre Toten, indes das reinste Leben, aus ihrem Bannkreise erlöst, neuen, seligen Küsten zustrebte. Wenige Stunden nach der Rückkehr von ihrem Trauerbesuch hatte sich Mechthildis mit ihren Reisegefährten, im Geleite des Domherrn und der Stiftsdamen nach dem Mechterhofe hinausbegeben, wo Cordova sie, feldmäßig ausgerüstet, empfing. Dort, nachdem sie von den Freunden und ihrem Dienstvolk Abschied genommen, wartete ihrer ein gedeckter, köstlich mit Pelzwerk und Decken ausgepolsterter Schlitten, in dem sie mit dem Meister Baltzer Platz nahm. Ein zweiter Schlitten trug, unter der Obhut des Hausmeisters und des Knaben Hendricus, die wenige Habe des Meister Baltzers und Mechthilds Gepäck; was ihr sonst noch von ererbtem Hausrat und Andenken in die neue Heimat folgen sollte, war unter der Fürsorge der neuen Besitzerinnen ihres Hauses sicher verwahrt, bis es der Hausmeister bei bequemerer Gelegenheit abholte. Ein starker Trupp spanischer Reiter stand als Bedeckung der Schlitten bereit; mit Verwunderung gewahrte Mechthildis, wie auch Cordova zu Pferde stieg und sich anschickte, den Zug zu führen. »Was heißt dies, Excellenz?« rief sie. »Ich habe Euch schon Lebewohl gesagt.« Er salutierte mit einem ernsten Lächeln. »Ihr werdet nicht erwarten, Sennora, daß Cordova eine übernommene Geleitspflicht anderen überläßt,« sagte er und gab das Kommando zur Abfahrt. »Laßt ihn,« sagte Meister Baltzer. »Er ist, wie er sein will.«

Es war eine schnelle, glatte Fahrt über den gefrorenen Schnee, durch das weite, ebene, weißschimmernde Land, über Brücken und Brückchen; durch viele kleine Dörfer, aus deren Hütten furchtsame und verblüffte Gesichter dem klirrenden Geschwader nachstarrten; durch größere Dörfer und Städte mit spanischer Besatzung, wo man kurz Halt machte. Ueberall frische Pferde zum Vorspann und Aufmerksamkeit für jeden Wunsch der Reisenden: eine mächtige, sorgsame Hand hatte hier im voraus gewaltet, um Mechthildis die Reise leicht zu machen.

Im ersten Nachtquartier stand ein reichliches Mahl für Mechthildis und ihren Begleiter bereit; Hendricus wartete auf. »Ihr müßt ihm das schon erlauben,« meinte Meister Baltzer, »er will zeigen, daß er es doch allmählich lernt, und er hat sich so darauf gefreut.« – »Wo ist Cordova?« fragte Mechthildis unruhig. Meister Baltzer zuckte die Achseln. »Er wird draußen speisen, bei seinen Kürassieren, wenn er nicht vorzieht, allein mit Cervantes' Geist zu Nacht zu essen.« – »Führt mich zu ihm und laßt hier für ihn mitdecken,« forderte Mechthildis. »Thun will ich es ja, aber helfen wird es Euch nichts,« erwiderte er. Und es half wirklich nichts, so herzlich Mechthildis auch mit Worten und Blicken bat. »Möge mir Eure Gnade verzeihen, Sennora,« erklärte Cordova. »Wenn ich einmal wieder unter Eurem Dache weilen darf, so werde ich es als die größte Ehre ansehen, Euch zu Tisch geleiten zu dürfen, und sollte Euch einmal Euer Weg auf eines meiner Schlösser in Spanien oder in meinen Palazzo zu Mailand führen, so bitte ich Euch, meine geringe Gegengabe nicht zu verschmähen. Hier aber bin ich nur der Führer einer salva guarda, übel stände es mir, wollte ich meinen Reitern ein schlechtes Vorbild geben und mit der sorglos plaudern und tafeln, deren Mahl und Ruhe ich zu bewachen habe.« Dabei blieb er, und Mechthildis mußte sich zufrieden geben, einen Reisemarschall zu haben, der für jeden ihrer Winke Erfüllung im voraus bereit hielt, aber ihren Dank, ja ihre Nähe sorgsam mied.

Am dritten Tage, nach der Mittagsrast, deutete Meister Baltzer vor dem Einsteigen nordwärts: »Da liegt unser Ziel,« sagte er lustig, »ein vier Meilen und drüber sind's immer noch, aber könnt Ihr das Nest nicht schon sehen? Das Auge der Liebe sieht ja so ausgezeichnet.«

Mechthildis schüttelte betrübt den Kopf. Nun, so nahe dem Ziele, war es ihr beinahe unerträglich, zu warten. Sie starrte hinaus in die weite Schneelandschaft. »Ist es das?« fragte sie ein paarmal, wenn wieder ein Häuserhaufe, ein Kirchturm vor ihnen auftauchte, und sie ärgerte sich fast, daß Meister Baltzer bei seinem Nein immer noch so vergnügt lächeln konnte. Zuletzt, vom Schnee geblendet, fielen ihr die Augen zu, ihr Haupt lehnte sich zurück und sie sank in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Der alte Freund zog leise, sanft wie mit Mutterhänden, die Pelzdecke fester über ihre Kniee und betrachtete die schönen schlummernden Züge. So vieles hatte sie in diesen letzten Wochen erduldet und erlebt, so tapfer hatte sie stand gehalten; nun, in der Gewißheit des nahen Zieles, schlief sie ein wie ein müdes Kind, das vom ersten Ausflug heimkehrt und auf den Armen des Vaters entschlummert.

Der Tag neigte sich, in der Ferne, jenseits eines kleinen Flusses, wurden Mauern und Türme einer Stadt sichtbar. Von der anderen Seite näherte sich ein Trupp bewaffneter Reiter der Brücke, zwei, einer in glänzender Offizierstracht und ein Trompeter, lösten sich von der Masse ab und trabten bis in die Mitte der Brücke; auch Cordova war mit einem einzelnen Begleiter den Seinen voraufgesprengt. Es gab ein kurzes Zwiegespräch, der holländische Führer schien sehr überrascht, gerührt, der Spanier wehrte höflich, gemessen ab; dann ein Händereichen, ein kurzes Salutieren, noch ein Ruf von drüben: »Auf Wiedersehen!« – »Im Felde, so Gott will!« rief Cordova zur Antwort und ritt zurück, dem Schlitten entgegen, der sich in langsamerem Gange der Brücke näherte. Meister Baltzer deutete auf die Schlafende. »Weckt sie nicht!« raunte Cordova, »lebt wohl!« Er deutete dem Fuhrmann hastig vorwärts, der Schlitten fuhr schneller, während die spanischen Reiter auf den Wink ihres Generals Kehrt machten und zurück trabten.

Jenseits der Brücke hielt der Schlitten. Mechthildis erwachte von dem Ruck. Schlaftrunken blickte sie um sich.

Sie hörte ein tiefes, wohllautendes Summen, das von den Türmen der Stadt herüberzog. »Ach, die Weihnachtsglocken!« sagte sie. »Aber wo sind wir denn, Meister Baltzer?« Da erkannte sie den Offizier, der von seinem Roß gesprungen war und vor ihr stand. Sie warf die Decken zurück, und mit einem hellen, seligen Rufe sank sie an die Brust des Geliebten: erlöst nun, ganz erlöst in seiner Liebe, aus der dumpfen, beklemmenden Schwüle, in die sie Herkunft und Schicksal bisher gebannt hatten, – erlöst vom heißen Stein.

 



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