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Eines Nachmittags saß der Domine mit Doktor Crustarius und dessen Diakonus Paul de Leonardis in seinem Altanzimmer beim Weine. Es war am Sonntag nach dem Johannisfeste, und der ehrwürdige Oberpfarrer hatte, wie immer an diesem Tage, viel zu klagen über die unausrottbaren Zauberbräuche, die sich zur Sonnwendfeier aus urgermanischer Zeit ins Christentum gerettet hatten und auch der Reformation standhielten. »Sie werden mir wieder von Heidelberg aus einen ordentlichen Rüffel senden, daß es so etwas noch immer bei uns gebe,« meinte er. »Aber deshalb ist es mir noch nicht so verdrießlich. Das Schlimmste ist, daß sich über kurz oder lang hinter dem Feuertanzen, Viehsegnen und Wundenbesprechen auch der scheußliche Hexenwahn sachte einschleichen wird. Ein Aberglaube zieht den anderen nach. Unsere Leute sehen nicht umsonst drüben im Mainzischen und Trierischen Jahr für Jahr die Scheiterhaufen rauchen.«
»Da habt Ihr leider Gottes recht, Herr Bruder,« meinte der Domine. »Unser Hans kann ein Liedchen davon singen, wie leicht einen die Leute mit dem Teufel zusammenkuppeln. Aber um von ihm zu reden, – zu einem Diener der Kirche, wie sie heutzutage zum Beispiel Euer Oberkirchenrat in Heidelberg verlangt, ist der so wenig zu gebrauchen wie ich. Und zu einem Kaufmann auch nicht, obzwar er in Herrn Adriaan den besten Lehrer fände. Bei Licht besehen, – ich glaube, er taugt nur zum Kriegsmann.«
»Das ist ein Beruf voll Anfechtung und Beschwerden der Seele,« meinte Doktor Crustarius kopfschüttelnd. »Die das Schwert führen, werden durch das Schwert umkommen.«
»Ist wohl nicht so ganz wörtlich zu nehmen,« erwiderte der Domine. »Bis jetzt sind doch noch immer einige übriggeblieben.«
»Es ist aber noch etwas anderes dabei zu bedenken,« versetzte der Diakonus bedächtig. »Die Vorurteile des Standes –«
Ein lautes Freudengebell unterbrach ihn, vermischt mit dem drohenden Baß einer kräftigen Kommandostimme.
»Der kommt gerade zur rechten Zeit,« meinte der Domine und eilte dem Junker Amtmann entgegen, der mit fröhlichem Gruß eintrat, umtollt von zwei mächtigen Doggen, die an dem Domine ungestüm emporsprangen.
»Wollt ihr Ruhe geben, ihr Lümmel,« wetterte der schwarzbärtige Junker. »'s ist aber deine Schuld, Domine Govaert, warum hast du mir sie so verwöhnt! – Ihr entschuldigt die zwei Kerle wohl, ehrwürdige Herren? In die Kirche darf man sie ja nicht mehr mitbringen, wie es vor Zeiten Brauch war, aber sie sind fromm erzogen, ich bürge für sie. – Wart ein wenig, Domine, ich hab' mir den Brummkasten nachbringen lassen, nicht wahr, es paßt dir doch?«
Die beiden Geistlichen blickten etwas verlegen auf den Violakasten, den der alte Diener des Domine hereinbrachte. »Ach ja,« lachte der Junker, »Verordnung vom hohen Oberkirchenrat in Heidelberg, nicht wahr? Die Diener am Wort sollen sich des Lautenierens und aller weltlichen Musika enthalten. 's ist doch fast zu streng. Der Doktor Luther hat's anders gehalten und war doch auch ein Mann nach dem Herzen Gottes, wie Ihr selber sagt, Herr Doktor.«
»Laß gut sein, Hans Erhard,« meinte der Domine und schob seinem Freunde Sessel und Humpen zurecht, »zuhören dürfen sie ja doch.«
»Was ich sagen wollte,« bemerkte der Oberamtmann, »ich muß auch wegen deines jungen Schützlings mit dir sprechen.«
»Eben redeten wir von ihm,« erwiderte der Domine, während er seinem Freund eine gefüllte irdene Tabakspfeife reichte und sich selber seine Pfeife an einem kleinen Becken voll glühender Kohlen frisch anzündete. Auch die beiden anderen Geistlichen nahmen an dem neumodischen Vergnügen teil und hatten jeder seine lange holländische Thonpfeife in der Hand. In diesem Punkte war die Verführungskunst des Domine und seines Kumpans gegen die Bedenken des hohen Oberkirchenrats zu Heidelberg siegreich geblieben.
»Der Junge muß Soldat werden, glaube ich,« fuhr der Domine fort. »Und dazu solltest du uns helfen, Hans Erhard.«
»Will ich auch. Hat er denn schon mit dir gesprochen?«
»Nein.«
»Aber mit mir. Darum komm' ich ja eben. Heute vormittag nach der Predigt war er deswegen bei mir. Strammer Bursche; gefällt mir.«
Der Domine ließ vor Erstaunen fast die Pfeife fallen und sah den geistlichen Herren fragend in die lachenden Gesichter. »Hat man so etwas je gehört?« rief er. »Da sitze ich hier und simuliere, und derweil geht er hin und zerhaut den Knoten selber.«
»Wie Alexander,« ergänzte der Oberamtmann. »Er greift stracks durch, geht an die Quelle. Gefällt mir.«
»An eine bessere Quelle konnt' er ja freilich nicht gehen,« meinte der Domine, »er hätte denn gleich heimlich nach dem Haag zu deinem Lehrmeister, unserem Prinzen Moritz von Oranien, reisen müssen, was ich ihm beinahe auch zutraue. Na, also dann wären wir über das Gröbste hinaus. Weißt du, ich dachte mir schon, du solltest ihn ganz richtig in die Lehre nehmen. Von unten herauf, natürlich.«
»Ganz von unten herauf,« bestätigte der Junker Hans Erhard und leerte seinen Becher. »Wen ich lehre, dem wird nichts geschenkt. Drum hab' ich auch seit vier Jahren und drüber keinen einzigen von meinen jungen Herren Vettern und Gefreundten bei der Garnison im ganzen Oberamt. Das geht lieber an den Hof und bewundert die Hoffräulein unserer schönen Engländerin, oder umgekehrt. Und dann avanciert es, heidi, hast du nicht gesehen.«
»Das ist eben, was ich vorhin sagen wollte,« meinte der Diakonus bescheiden. »Wenn ein junger Kriegsmann noch so tüchtig ist und nicht von Adel, so kommt er, wie die Welt einmal ist, doch nicht über den Feldwebel hinaus, es sei denn, daß es Krieg gebe, wovor uns Gott bewahren wolle.«
»In unserem Kurstaat ist's leider so, Euer Ehren,« bestätigte der Junker seufzend, »und wir werden ja sehen, wohin das führt, wenn erst der Krieg da ist. Aber anderswo ist man bescheidener. In den Städten zum Beispiel. Und wenn mir der Domine da seinen Hans in die Lehre gibt, so soll es mir keine Kunst sein, ihn in ein paar Jahren für ein reichsstädtisches Fähnlein kapabel zu machen, wenn er nicht höher hinaus will. Freilich ein Stück Geld wird's alsdann noch kosten; denn da macht alles hohle Pfoten.«
»Ich will aber höher hinaus, Hans Erhard,« sagte der Domine. »Was das Geld angeht, dafür stehe ich dir, ich und wenn's not thut, Mynheer van Tessel dazu. Das genügt schon. Aber meinst du, du sollst mir aus dem Jungen einen Tagedieb machen, der so ein Häuflein städtischer Krachwedel lehrt, die Köpfe hintern Wall ducken, wenn die Feinde draußen ein Feldstück auffahren? Dafür ist er mir zu schade und du auch. Das kann er auch bei dem einarmigen Feldwebel lernen, der dir mit seinen vier Invaliden die Pfalz im Rhein da unten bewacht. Nein, er soll bei dir lernen von unten auf, damit er hernach auch in einer anständigen Armee die Feldbinde tragen kann. In fünf Jahren läuft unser Stillstand mit dem Hispanier ab. Da sollst du sehen, wie unsere Hochmögenden nach Offizieren schreien. Und wir Holländer sind nicht so. Wir messen die Leute nicht nach dem Wappen.«
»Ereifere dich nicht, Alter,« meinte der Junker. »Wenn ich Pfalzgraf wäre, ich suchte mir meine Lieutenants auch nicht wie die Stiftsdamen aus, nach der Zahl ihrer Ahnen. Also kurz, ich nehme den jungen Herrn. Die Vollmacht hab' ich für solche Fälle. Morgen tritt er mir oben auf Stahleck an. Urlaub will ich ihm bisweilen geben, daß du und unser Doktor Crustarius hier ihm ab und zu noch einiges aus eurer Gelehrsamkeit beibringt. Denn darin bin ich schwach. – Uebrigens, paß auf, er macht sich. Ich habe meinen Blick dafür. Und dann –« er flüsterte das folgende geheimnisvoll, mit erhobenem Zeigefinger sich vorbeugend – , »ich weiß ja, ihr glaubt nicht dran, aber wahr ist's doch: ich habe mir seine Geburtsstunde geben lassen, sein Vater hatte sie zum Glück in einem kleinen Gesangbuch notiert, das er bei sich führt, – es stimmt alles. Er ist unter den günstigsten Aspekten geboren, Venus ist ihm hold und der rote Mars obendrein. Da kann es ihm gar nicht fehlen.«
»Na, so gratuliere ihm nur,« erwiderte der Domine ruhig. »Ich will dir aber auch etwas anvertrauen, Hans Erhard. Ich hab' mir das Datum in dem Büchlein auch angesehen, und bei mir paßt's auch. Denn dasselbe Datum ist mir tief ins Herz geschrieben. Er ist just am selben Tage selbigen Jahres geboren, wo mein einziges Kind zur Seligkeit entschlief. Siehst du in den Sternen Gottes Willen geschrieben, warum soll ich ihn nicht auch aus dem Zufall lesen, wo meines Herzens Neigung dazu ja und Amen sagt? Und also, ihr Herren, wenn der Junker hier den Hans zum Lehrling nimmt, so will ich ihn zum Sohn nehmen, ich hoffe, er wird auch dazu nicht nein sprechen. Das ist mein Entschluß, und nicht erst seit heute.«
»Ich glaube, Ihr thut wohl daran, Herr Bruder,« meinte Doktor Crustarius nach einer kleinen Pause; auch sein Diakonus nickte freundlich, und der Junker drückte seinem Freunde ganz gerührt die Hand. »Wie diese Holländer mit Namen umspringen.« rief er. »Großartig. Der eine verwandelt vor den unfehlbaren Augen meines galanten kurtrierischen Amtsbruders in Boppard den Hans Maybrunn oder wie er hieß in ein Wächterlein, und nun will uns der hier nächstens aus dem Wächterlein einen Mynheer Jan Friso machen. Aber recht hast du, Bruder; gefällt mir sehr. Uebrigens, wer will nun noch zweifeln, daß die Sterne recht haben, he? – Aber nun laß ihn einmal antreten, meinen Rekruten, wenn er hier im Hause steckt, oder soll ich ihn ausschellen lassen?«
»Ich ruf' ihn, Euer Gnaden,« sagte der alte Diener, der während der letzten Reden mit frischem Wein eingetreten war und an seinem Kredenztisch freudestrahlend gelauscht hatte, und alsbald kehrte er mit Hans zurück.
Es dauerte eine ziemliche Weile, bis man aus dem Gewirre von Ankündigen, Danken, Glückwünschen und Minnetrinken wieder hinlänglich zur Ruhe gekommen war, »um die Geister mit Tönen zu besänftigen«, wie sich der Junker ausdrückte. Seinem neuen Rekruten wies er als erste Dienstleistung zu, derweil für die Becher und Pfeifen zu sorgen und den eigenen Durst mit Maß zu stillen. Die geistlichen Herren lauschten den kunstreichen Duetten mit großem Behagen. Nach dem dritten oder vierten Stück meinte der Junker, sich den Schweiß abtrocknend: »Sie hat ihre Reize, die Frau Musika, aber auch ihre Malicen. Aber hier, ihr Herren, haben wir etwas, das wird euch einfacher eingehen, und wir sind es dem Domine schuldig, ja auch dem neuen Holländer da. Der muß doch auch etwas zum Ruhme seiner neuen Nation hören. Er kann uns übrigens mit seinem Hörnlein dabei helfen, so weit reicht seine Kunst und sein Naturinstrument schon.«
»Dann wollen wir aber ganz bis ans Fenster gehen, daß die draußen auf dem Rheine auch ihre Freude haben,« meinte der Domine lächelnd und deutete nach dem Zollstapel hinaus, wo ein schmucker Zweimaster lag, mit zwei großen bunten Wappenschildern am Bug. Hans holte sein Hörnchen, sie rückten ihre Noten zurecht, und feierlich gemessen, fast wie ein Choral, und doch wieder trotzig machtvoll wie eines Helden Rede klang die Melodie in den stillen Sommerabend hinaus. Merkwürdig aber war ihre Wirkung auf dem Schiffe. Nach den ersten Tönen belebte sich das Deck mit breitnackigen Burschen in ungeheuer weiten Hosen und Teerjacken, stolz flatterte die Flagge am Heck empor, und ein kräftiger Chor stimmte in die Weise ein. Denn es war die Weise, zu der die Worte im Herzen jedes braven holländischen Soldaten und Matrosen eingeschrieben standen:
Wilhelmus van Nassouwe
ben ick, van duitschen bloet,
Den Vaderlant ghetrouwe
blijf ick tot in den doet.
Een prince von Oraengien
ben ick vrij onverveert,
Den coninc van Hispaengien
heb ick altijt gheëert
In Godes vrees te leven
heb ick altijt betracht,
Daerom ben ick verdreven,
om lant, om luit ghebracht.
Maar God sal mij regheren
als een goet instrument,
Dat ick sal wederkeren
in mijnen reghiment. –
»Und nun, ihr Herren,« sagte der greise Doktor Crustarius, nachdem sie noch eine Weile plaudernd gesessen hatten, »zum Abschied noch ein geistlich Lied! Dawider hat auch der Oberkirchenrat nichts. Seht, drüben die Berge leuchten schon rötlich. Es will Abend werden. Setzt Euch an Eure Hausorgel, Herr Bruder, Ihr kennt mein Lieblingslied, – wißt Ihr, das vom Doktor Martinus Luther.«
Der Domine nickte, klappte seine kleine Hausorgel auf, ein kurzes Vorspiel, und sie sangen:
Mit Fried' und Freud' ich fahr' dahin,
Ist's Gottes Wille;
Getrost ist mir mein Herz und Sinn,
Sanft und stille.
Wie Gott es mir verheißen hat:
Der Tod zum Schlaf ist worden.
Der alte Geistliche hatte dem Gesange der anderen still gelauscht; seine Augen leuchteten wunderbar. »Mit Fried' und Freud' ich fahr' dahin,« wiederholte er leise. »Es wird nicht mehr lang währen. Gottlob, daß ich dann sagen kann: Der Tod zum Schlaf ist worden. Unser großer Lehrer Doktor Ursinus zu Heidelberg, da er im Sterben lag, ließ sich noch einmal den Artikel von der ewigen Seligkeit vorlesen und flüsterte: › Certissimus, – des bin ich gewiß.‹ Möchtet auch Ihr es allezeit und auch im Tode noch sagen können, mein lieber junger Kriegsmann. Das ist der beste Segen, den Euch ein alter Theolog mit in Euer neues Leben geben kann.«