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Am folgenden Morgen stieg die Sonne heiter und aufmunternd über der Reichsstadt empor; aber sie fand ein anders gestimmtes Geschlecht. Die politischen Zwistigkeiten waren wieder einmal beigelegt. Der Rat hatte sich noch in der Nacht mit den Zünften ausgeglichen und ihre Forderungen zumeist bewilligt; einige Haupthähne waren obendrein mit einem Brocken Regierungsherrlichkeit kirre gemacht, und bei den übrigen sorgte der Katzenjammer, vielfach auch eine gehörige Gardinenpredigt ihrer Frauen dafür, daß sie einstweilen genug hatten. Dazu aber kam eine große Neuigkeit, die den verlorenen politischen Aufregungsstoff reichlich ersetzte: die alte Brigitte Fischer, des vorlängst und hoffentlich selig verstorbenen Feuerwächters eheleibliche Witwe, war als eine greuliche Hexe überführt worden.
Einstweilen allerdings nicht überführt, nur angeklagt. Aber für die Auffassung der Bürger floß das zusammen, und diese Auffassung entsprach durchaus dem sinnreichen Gange des Hexenprozesses, nach welchem ein hartnäckiges Leugnen der peinlich Verhörten einem Geständnis gleichzuachten war: denn, so begründeten die gelehrten Väter der Prozeßordnung diesen merkwürdigen Grundsatz, wenn die Angeklagte gesteht, so ist sie schuldig, und wenn sie leugnet, so kann dies nur durch Hilfe und auf Anraten des Teufels geschehen, der sie wider die peinliche Befragung unempfindlich macht: also ist sie dann erst recht schuldig.
Die alte Brigitte hatte in dieser Nacht den Wandel der Menschengunst erstaunlich tief erfahren müssen. Als sie, halbtot vor Müdigkeit und Schrecken, aus ihrem Turme trat, war sie mit einem Sturme heiteren Beifalls empfangen worden, dem ihre Nerven kaum mehr gewachsen waren; eine halbe Stunde später saß sie in einem anderen Turme hinter Schloß und Riegel, und als sie nach dreistündigem Warten aus diesem geführt wurde, um in einem feierlich erleuchteten Saale vor den Schranken einer in schwarze und scharlachne Mäntel gehüllten Ratsversammlung Bericht zu erstatten, hätte sich kein Mensch wundern dürfen, wenn sie der Sprache nicht mehr mächtig gewesen wäre. Statt dessen hatte sie einen Bericht gegeben, der sich in der Form ganz klar, inhaltlich aber freilich sehr wunderbar erwies. Ihr entschwundener Neffe Hans Maybrunner sei allezeit ein Träumer gewesen. Anstatt den Tag über zu schlafen, habe er ganze Nachmittage über den Büchern gesessen, die noch von ihrem seligen Manne da waren, und dann habe er wieder stundenlang auf seinem Waldhörnchen musiziert oder mit seinem zahmen Raben über das, was in den Büchern stand, diskutiert wie mit einem Menschen, oder er sei in tiefen Gedanken auf und ab gelaufen in seinem Turmgelaß wie in einem Käfig. »Sonderlich hat er viel von einem Buche geschwärmt, worin geschrieben stehe, wie eine gefangene Prinzessin ihrem Ritter durch eine Taube Botschaft sendet und ihn herbeiruft. Es gibt ja solcher Schnurren mehr aus der alten Zeit. Er hat es mir vorgelesen, bis ich mir die Ohren zuhielt, und dann hat er mit dem Raben drüber geredet und hinausgeschaut über die Stadtmauern hinaus und gerufen: ›Ha, wenn mir die Botschaft käme! Wenn ich so gerufen würde!‹ und solches Zeug mehr. Und eines Tags, vorigen Dienstag war's, ich hatte gerade wieder gebacken, da kommt er und sagt, er habe die Botschaft erhalten, die Taube habe sie ihm gebracht, und er müsse nun fort, durchs Severinsthor und weiter, der Taube nach. Gar nicht beruhigen hab' ich ihn können; so hab' ich ihm schließlich gesagt: ›In Gottes Namen, so geh, aber wart bis zum nächsten Quatember, da ist dein Lohn bei den Herren fällig, und mir ist es auch recht‹; denn, ihr Herren, ich bin doch schon recht schwach in den Beinen, und ich muß sagen, daß mir das Altfrauenhaus jetzt lieber wäre als der hohe Turm. Aber am zweiten Tag drauf in der Früh, es fing kaum an hell zu werden, da steht er auf einmal vor meinem Bett, ganz fertig, mit dem Raben auf der Schulter, und sagt: ›Muhme, jetzt muß ich fort! Sie ist gestern wieder da gewesen und hat gemahnt, und es ist etwas in mir, das drängt mich fort und läßt mir keine Ruhe mehr hier oben. Bringt dem Herrn Bürgermeister die Schlüssel und haltet Euch gut, so Gott will, bin ich bald wieder da!‹ Und wie ich mich besinne, da war er schon fort. Ich auf und angezogen und will schon zu Seiner Gestrengen, aber wie ich mir vorstelle, was der dazu sagen wird, da läuft's mir siedig übern Rücken, und ich getrau' mir's nicht. Wart einen Tag, sag' ich zu mir, der kommt schon wieder, und im Notfall kannst du auch die Wache halten, hast's ja manche Nacht für den Matheis selig gethan. Und so hab' ich mich einen Tag um den anderen weiter gefürchtet und eine Nacht um die andere weiter gemacht, aber gekommen ist er nicht. Bis diese Nacht, da seh' ich auf einmal überm Brautlaufhaus zwei Flammen aufsteigen, – Herr Gott im siebenten Himmel, denk' ich, da brennt's! Und stecke die Fackel aus, und dann an die Glocke und den Hammer gerührt und immerzu so, bis die Männer kamen. Und nun möcht' ich bloß wissen, wo der arme Narr sich herumtreibt.«
Dieser Bericht, den die alte Brigitte in ihrer oberländischen Mundart höchst treuherzig vortrug, hatte für Ratsherrenohren immerhin einiges Ueberraschendes mehr als für einen Dichter oder Gemütsarzt. Wenn aber zu jener Zeit etwas überraschend erschien, so fand sich immer wenigstens einer, der die Sache ganz einfach mit einem Wort erklärte. Der Bürgermeister Sebaldus war es diesmal nicht, – ein junger Ratsherr, der seine Dummheit sonst standhaft in Schweigen hüllte, rief das Wort aus: »Wenn das keine Hexerei ist!« Als die alte Brigitte das schreckliche Wort hörte und sah, wie sich verschiedene der Herren bekreuzten, fiel sie in Ohnmacht, und mit dieser verdächtigen Handlung hatte sie eigentlich schon ihr Schicksal besiegelt. Während etliche mitleidige Ratsknechte ihr draußen im Vorzimmer wieder auf die Beine halfen und sie mit einigen Bissen labten, schossen drinnen im Saale die Verdachtsgründe gegen sie auf wie Fliegenpilze in einer warmen Septembernacht, und nun war es allerdings der Bürgermeister Sebaldus, der die unverhoffte Entdeckung eifrig und umsichtig ausnutzte. Als der Morgen graute, war die Brigitte Fischerin bereits zu sicherem Gewahrsam im sogenannten Hexenkeller, über der Folterkammer, an den Stadtfron Meister Frauentrost ausgeliefert und hatte die bestimmteste Aussicht, binnen kurzem noch eine Treppe tiefer zu gelangen; denn so viel stand bereits so gut wie fest, daß sie ihren Neffen erstlich durch den Raben, der ein verkappter Buhlteufel gewesen, an sich gelockt und nunmehr durch denselben Raben »gesterbt« und den toten Leichnam fortgeschafft hatte, und zwar in der Walpurgisnacht! Für eine solche Hexenthat lagen verschiedene ganz gleiche Präcedenzfälle vor, darunter einer aus dem benachbarten kurfürstlichen Gebiete; ein Ratsbote war bereits mit der Bitte um Ueberlassung der Akten unterwegs. Im Laufe des Tages aber sammelte sich eine große Anzahl weiterer Inzichten gegen das alte Weiblein an, und es war noch nicht das Schlimmste darunter, daß sie während der jüngsten Kinderseuche verschiedene kerngesunde Kinder auf dem Markte oder in Kramläden angesehen und gestreichelt hatte, die dann noch selbigen Tages von der Seuche angesteckt und bald darauf gestorben waren.
Die ganze Stadt sprach davon, und der Bürgermeister Winand Aare von Mechter sprach auch mit dem Meister Baltzer davon, als ihm dieser nach dem Mittagsmahl seine beiden Bilder brachte. »Da seht Ihr, wie wunderlich es sich oft ändert in der Welt, Meister Baltzer. Gestern noch oben auf dem Feuerturm, sozusagen die höchste in der ganzen Stadt, und heute unten im Hexenloch. Aber es gibt freilich der Beispiele viele für solchen Luciferssturz. Schon die alten heidnischen Dichter wissen vieles davon zu erzählen.«
»Jawohl,« versetzte Meister Baltzer, »die Menschen sind allezeit wunderlich miteinander umgegangen. Ihr nehmt das Ding wie ein Gelehrter, gestrenger Herr, und sozusagen als Philosoph. Aber ich muß sagen, mir ist einiges noch nicht klar. Ist es denn auch sicher, daß dieser Hans Maybrunner mit seinem verwünschten Raben die Stadt nicht einfach zu Fuß und durch das Severinsthor verlassen hat, wie es ihm seine verrückte Abenteuerlust eingab?«
Der Bürgermeister sah ihn überrascht an. »Wo denkt Ihr hin, Meister Baltzer? Alsdann müßten ihn doch unsere Thorwächter gesehen und aufgehalten haben. Die haben aber ausdrücklich bezeugt, daß sie sich keiner strafbaren Unachtsamkeit schuldig gemacht haben. Wie hätte auch ein Kerl mit einem Raben auf der Schulter soldatischer Wachsamkeit entgehen können?«
»Na,« murrte Meister Baltzer, »was diese Wachsamkeit betrifft – ! Ich bin auch schon ein paarmal zwischen Nacht und Morgen zum Mechterhof durch das selbige Thor hinausgezogen, ohne daß mich die Kerle anhielten.«
»Weil sie es Euch ansahen, daß Ihr einen Freipaß habt. Nein, davon kann keine Rede sein. Denkt nur, was das wieder für ein Geschrei unter den Zünften gäbe, wenn die Wachsamkeit städtischer Thorwachen in Frage gestellt würde! Unsereins hat ohnedies Schererei genug, und ich bin nur froh, daß ich mit der weiteren Untersuchung nichts zu thun habe. Zum Glück hat mein Vetter Sebaldus von Halveren heuer den Vorsitz in Malefizsachen.«
»Der wird's schon ausrichten,« versetzte Meister Baltzer. »Aber bei alledem, gestrenger Herr, wenn die alte Brigitte nun doch unschuldig wäre, solltet Ihr Euch ihrer nicht annehmen?«
»Ich weiß nicht, was Ihr wollt,« erwiderte Herr Winand sehr verdrießlich. »Ihr seid gerade wie meine Nichte, die hat mir schon bei der Morgensuppe mit Seufzen und Bitten in den Ohren gelegen, und jetzt sitzt sie in ihren Gemächern und schmollt; Ihr seht ja, nicht einmal Eure Bilder können sie herunterlocken. Was geht Euch und sie und mich das alte Weib an? Es hat ein jeglicher genug für sich selber zu sorgen in der Welt.«
»Das ist gewiß,« gab Meister Baltzer zu. »Ich zum Beispiel muß wieder einmal wandern, und ich darf denn wohl gleich von Euch Urlaub nehmen, gestrenger Herr. Der erlauchte Graf zu Nassau braucht meine Kunst in Diez, und ich kann es ihm nicht weigern, maßen er doch mein erster Landesherr war.«
»Es gefällt mir nicht, daß Ihr Euch so viel mit dem ketzerischen Herrn abgebt,« bemerkte Herr Winand. »Aber schließlich, es ist Eure eigene Sache, und die Kunst ist frei, das habe ich in Welschland gelernt, und Ihr seid ja auch dort gewesen. Wie lange wollt Ihr denn dort bleiben?«
»Fürs erste nur ein paar Tage. Wenn ich aber mit dem erlauchten Herrn eins werde, gehe ich wohl zum Sommer wieder hin, auf etliche Monate wenigstens. Ich werde mir alsdann dort ein Häuslein mieten, und eine Haushälterin brauche ich auch dazu; denn es taugt einem Maler nicht, wenn er zu viel an der Herren Tafeln herumschmaust.«
»Nun,« sagte Herr Winand gutmütig, »so geht mit Gott und hütet Euch vor Erkältung und Hexenwerk.«
Mechthildis war während dieses Gesprächs nicht zum Vorschein gekommen; aber als Meister Baltzer die Gemächer ihres Oheims verlassen hatte, fand er draußen eine Zofe, die ihn zu ihrer Herrin hinaufbat. Er kannte schon den Weg zu dem Wohngemach Mechthildis', das vor Zeiten ihrer Mutter angehört hatte; er kannte auch die einzelnen Stücke der prunkvollen, alten Ausstattung bis zu dem zierlich geschnitzten Betpulte in der einen Ecke.
Das war alles unverändert geblieben; andere Dinge aber waren mit der neuen Herrin eingezogen, die man sonst nicht gewohnt war, in den Schmollstuben der jungen vornehmen Reichsbürgerinnen zu finden: eine kleine Staffelei, etliche Reihen dickleibiger Bücher in ungeheuer soliden Einbänden und sogar ein kleines Schreibepult mit silberbeschlagenen Fächern.
Mechthildis sah blaß und betrübt aus; ihre Augenlider waren gerötet, und es war sehr unrecht von dem alten Meister, daß er sich erst mit wortreichen Wendungen über ihre fast allzu gelehrten Studien ausließ und schließlich sogar ein Buch aus der Reihe zog, um zu sehen, was sie denn studiere. »Ach so, die alten Dichterfabeln aus den ritterlichen Zeiten,« sagte er, indem er sie ganz eigen anlächelte, »wo die Helden so kühn und die Mägdlein so minniglich waren und fromme Tauben Botschaft trugen von einem zum anderen? Nehmt Euch in acht, hochgeneigtes Fräulein, ich fürchte, das paßt nicht mehr in die Zeit, und man kann Ungelegenheiten damit machen.«
»Laßt das,« sagte Mechthildis errötend, »was Ihr von der Sache denkt, will ich wissen.«
»Von den Fabeln da? Ei, ich denke, es sind ergötzliche Phantasien – «
»Von der – der Hexengeschichte,« unterbrach sie ihn fast schluchzend. »Ihr habt mir doch selber von der Alten erzählt und von dem – «
»Ich?« fragte Meister Baltzer sehr erstaunt. »Ich gebe mich nie mit Hexen ab. Bin ihnen noch nie begegnet. Den Teufel habe ich schon öfters getroffen, – Ihr wißt, was das Sprichwort sagt: Maler, Frauen, Teufel, Pfaffen haben überall zu schaffen, – und so treffen sie auch einander. Und es kann ja sein, daß der Teufel sich die alte Brigitte holt. Herr Sebaldus von Halveren wird schon das Seine dazu thun. Vielleicht nimmt ihm aber der Teufel auch die Mühe ab. Aber thut nur nicht so,« setzte er hinzu und faßte sanft die Hand Mechthildis', »seht Ihr, der Teufel hat heutzutage Auswahl, warum sollt' er just die Aeltesten holen? Und wenn Ihr hört, daß er sie doch unversehens geholt, so denkt in Gottes Namen, daß er sie nicht gleich zu seiner Großmutter gebracht hat. Vielleicht hat er sie nur irgendwohin versetzt, wo es auch ganz nett ist, um sich von ihr Apfelkuchen backen zu lassen; aber sagt's niemand, daß Ihr so freundlich vom Teufel denkt, und nun gebt mir günstigen Urlaub, denn ich muß abreisen zu meinem gnädigen Herrn zu Diez, der noch keine Hexe in seinem Ländchen hat verbrennen lassen und es auch ferner nicht thun wird.«
Es mußte etwas eigen Beruhigendes in dem Blick liegen, mit dem der alte Maler diese wunderlichen Reden begleitete, denn das schöne Fräulein sah ihn fast schalkhaft lächelnd an, und als er sich verabschiedete, schaute sie ihm mit so dankbaren Blicken nach, wie sie sich seit ihrer Muhme-Aebtissin keiner mehr von ihr verdient hatte. Ihr Abendgebet an diesem Tage war länger und ihr Schlaf kam später als sonst. Es waren aber viele geringe Frauen in der Stadt, die in dieser Nacht gar keinen Schlaf fanden, weil sie sich mit Schaudern erinnerten, daß die alte Brigitt auch mit ihnen oftmals gesprochen und ihren Namen oft genug grüßend genannt hatte, um ihn auch unter der peinlichen Befragung einmal unversehens zu sprechen – und sie damit als Mitschuldige zu bezeichnen.