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Auf der Freitreppe vor dem Domportal, links vom Eingang, standen zwei Bettelweiber in grauen Kapuzen, mit Rosenkränzen in den Händen. Sie standen hier schon seit manchem Jahrzehnt Tag für Tag und hatten sich mit der Zeit eine Rundung erworben, die deutlich von der Ergiebigkeit ihrer Pfründen zeugte. Denn diese Bettelplätze zu beiden Seiten der Kirchenthüren gehörten reichsstädtischem Brauche gemäß zum erblichen Besitz ihrer Inhaberinnen, und je schlechter die Zeiten, je frömmer und opferwilliger folglich die Kirchgänger waren, um so reicher war der Ertrag dieser seltsamen Erbposten.
Augenblicklich war die Treppe von Besuchern leer; unter dem Portal stand nur der Meister Baltzer, den irgend ein malerischer Grund dorthin geführt hatte. Mit vielem Wohlgefallen betrachtete er die beiden Weiber, und da er merkte, von wem sie sprachen, hielt er es nicht unter seiner Würde, ein wenig zu lauschen.
»Nein,« meinte die eine, »das macht mir keiner weiß, daß so ein vornehmes Fräulein bloß aus Liebhaberei unsereinem was schenkt. Wenn das Fräulein von Mechter sich im Himmel lieb Kind machen will, so wird sie auch wissen, warum. Sie wird irgend etwas Schweres auf dem Gewissen haben. Du lieber Gott, man weiß ja, wie das bei den reichen Leuten geht.«
»Da habt Ihr wohl recht,« erwiderte die andere. »Aber ein Unrecht ist es doch, daß so eine, die weiß Gott was verbrochen hat, dann den Heiligen mit allerhand Gutthat unter die Augen gehen kann, und armes Volk, wie wir, kommt ins Feuer, nur weil es seine paar Groschen für sich selber nötig hat. Und dann, warum macht sie es nicht wenigstens ordentlich? Warum gibt sie nicht gleich alles der Kirche und geht ins Kloster, wo sie doch selber nichts von dem Geld hat?«
»Vielleicht thut sie's noch,« tröstete die erste. »Sie hat ja schon zwei Nonnen aus Marienforst bei sich.«
»Das ist mir auch das Rechte,« brummte die andere. »So einem reichen Stift fällt schon viel zu viel zu. Den armen Leuten sollte sie's geben. Uns gebührt es.«
»Das ist wohl wahr,« gab die erste zu. Dann schwiegen sie beide, blickten, mit den Lippen mümmelnd, vor sich hin und wiegten sich in seligen Traumbildern, wie auf einem schönen hellen Platz, ganz zerknirscht und demütig, zwischen ein Häuflein armer Leute ein sehr Reicher tritt, ihnen all sein Geld und sein Ueberflüssiges an Gewand und Schuhen austeilt und als ein ganz armer Teufel weggeht, wie es sich von Rechts wegen für ihn schickt. Sie gaben sich diesem holden Traume so lange hin, daß Meister Baltzer bequem Zeit hatte, sie von seiner Nische aus, zwischen zwei Bündeln gotischer Säulen mit kauzenden Heiligenbildern, unbemerkt zu studieren, um sie daheim sogleich seinem Buche einzuverleiben. Nachher, an Mechthildis' Tafel, zeigte er das Bildchen zum Nachtisch vor und gab das Gespräch mit schönem Nachahmungsgeschick wieder. Mechthildis schüttelte den Kopf und lächelte ein wenig, die beiden alten Stiftsdamen aus Marienforst, die in Geschäften des Stiftes von der Aebtissin abgesandt waren und an nichts so wenig dachten, als ihre mütterlich geliebte frühere Schülerin ins Kloster zu stecken, kicherten wie ein paar angenehm angeregte Tauben, und die schöne Frau Johanna Kannemann, die heute bei ihrer Freundin zu Gast war, bat sich das hübsche Bildchen von Meister Baltzer zum Geschenk aus, Ihr Tischherr aber, der General Don Gonsalvo Fernandez de Cordova, sagte mit ernsthafter Miene eine Stelle aus dem Don Quixote über die Frechheit der alten Kirchenbettlerinnen her.
»Da hat Euer berühmter Dichter wohl recht,« meinte die junge Ratsherrnfrau, nachdem ihr der General das spanische Citat freundlich verdeutscht hatte. »Mein Jobst sagt auch, man müßte eigentlich einmal schärfer unter dieses Volk greifen. Wer weiß, was sie für Unfug und Teufelswerk unter ihren Kapuzen treiben. Es nimmt gar kein Ende mit den Hexereien. Heute verhandeln sie wieder im Rat über sechs Weiber, es kann bis Abend dauern, sagt mein Gemahl. Und er hatte sich doch so darauf gefreut, mit hierher zu kommen. Es wird zu arg.«
»Vielleicht liegt es auch daran, daß man so viel darüber verhandelt und untersucht,« versetzte Meister Baltzer. »Manche bildet sich zuletzt vor lauter Gerede selber ein, daß sie vom Teufel geplagt sei. Und mit solchen ist es dann freilich nicht ratsam, sich abzugeben.«
Mechthildis blickte ihn ein wenig unmutig an. »Ich weiß, worauf das geht, Meister Baltzer. Ihr meint meine treue Gehilfin – die Laienschwester, die Gertrudis. Es ist wahr, als ich sie aus dem Sankt Clarenkloster in meinen Dienst nahm, weil mich die Priorin darum bat, war sie noch arg geplagt von ihren Einbildungen, sah Gespenster, zukünftige Begräbnisse und was weiß ich am hellen Tage. Darum hatte sie sich ja zu den Nonnen geflüchtet, ein armes verwaistes Ding vom Lande wie sie war. Aber die Priorin meinte, wenn sie in einen stillen Dienst käme, wo sie sonderlich zu Werken der Barmherzigkeit beihülfe, würde es sich legen. Und es hat sich gelegt. Ein wenig kopfhängerisch ist sie ja wohl noch, aber treu und fleißig, dazu unermüdlich als Krankenpflegerin. Sie hat mich selber gar treu versorgt, als ich unpäßlich war, und ich kann sie jetzt ruhig zu meinen Armen schicken.«
Meister Baltzer schien von der Verteidigungsrede noch nicht recht überzeugt, der spanische Herr aber blickte seiner Wirtin mit solch andächtiger Aufmerksamkeit in das von edlem Eifer leicht gerötete Antlitz, daß es seiner hübschen Tischdame fast zu viel dünkte. Mit einer anmutigen Bewegung der kleinen ringegeschmückten Hand ließ sie ihr Glas an das seine anklingen. »Ihr scheint ja viel Anteil an der frommen Gehilfin meiner Freundin zu nehmen, Excellenz,« lachte sie. »Gibt es bei Euch in Eurem schönen Spanien auch solche Besessene, die der Böse plagt, daß sie Vergangenes und Zukünftiges leibhaft zu sehen glauben?«
Der Spanier blickte ihr ernst, fast traurig in die lachenden blauen Augen. »Ich weiß nicht, ob es eben der Teufel eingibt, Sennora,« erwiderte er in seiner etwas steifen, langsamen Weise. »Was mich angeht, ich bin ein treuer Sohn unserer allerheiligsten Kirche, und mit dem Bösen« – er faßte nach der goldenen Reliquienkapsel, die an breitem Bande über seinen Spitzenkragen herabhing – »hoffe ich keine Gemeinschaft zu haben. Und doch sehe ich auch vom Zukünftigen oft mehr, als mir lieb ist. Ich lese es in den Augen.«
Frau Johanna zuckte spöttisch mit den vollen Schultern. »Wie die Herren alle,« lachte sie. »In den Augen der Damen wollen sie alle ihr Schicksal lesen.«
Ueber das verwitterte, gelbliche Gesicht des Generals huschte ein wehmütiges Lächeln. »Das meinte ich nicht,« sagte er. »Oder vielleicht auch das. Ein schlechter Kavalier, der nicht gern Amors Schrift in schönen Augen läse! Aber die Lettern, die ich lesen muß, hat nicht immer Amor geschrieben.«
Er strich sich über die Stirn und wandte sich halb ab, als verdrieße es ihn, weiterzureden. Meister Baltzer rückte unruhig auf seinem Stuhl. Er wußte, was Cordova meinte. Aber Frau Johanna ließ nicht locker: »Wer anders denn, Excellenz?« fragte sie neckend.
»Der Tod,« antwortete Cordova leise mit einem Tone, daß es die Hörer schaudernd überlief. Die Stiftsdamen schrieen auf, auch Mechthildis erbleichte und sah ihren Gast ängstlich an. Er schien es nicht zu bemerken, während er, starr vor sich niederblickend, wie im Selbstgespräch fortfuhr: »Und es läßt sich nicht abwenden. Die Schrift ist sicher.... Mein armer Page Martino Lopez! So jung, so brav und so schön! Er hatte so treue, fröhliche Augen. Aber als er mich damals, am Morgen vor der Höchster Schlacht, lachend weckte, sah ich es wieder.... Sie waren gebrochen.... Ich ließ ihn zurück im Quartier, und er hatte sich doch so darauf gefreut, mit dabei zu sein, wie wir die Braunschweiger schlugen!... Als ob das Geschick nur einerlei Weg wüßte! Derweil ich ihn den Kugeln und Schwertern entzog, stürzte die Decke über ihm zusammen,.. und ich habe seine Augen nicht mehr gesehen.« Er schüttelte hastig den Kopf und blickte auf. »Verzeiht, Sennora,« sagte er mit veränderter Stimme, sich vor Mechthildis verneigend. »Eine trübe Erinnerung, – die letzte seitdem. Wenigstens unter Eurem Dache hoffe ich nur Gutes in der Zukunft zu lesen!«
»Ich hoffe es mit Euch,« erwiderte Mechthildis freundlich. Das Gespräch belebte sich wieder, auch die Stimmung des Generals heiterte sich schnell auf. Als er sich mit dem Meister Baltzer zurückzog, blickte ihm Frau Johanna Kannemann fast ebenso bewundernd nach wie die beiden Stiftsdamen, die vom ersten Tage an für ihn schwärmten und ihn in ihren guten alten Herzen nur noch mit Judas Makkabäus, Sankt Georg und anderen frommen Glaubenshelden verglichen.
Es war merkwürdig, wie schnell sich der spanische Herr während dieser vierzehn Tage in dem Mechterhause heimisch gemacht hatte. Sonst pflegte Seine Excellenz die Mußestunden im Winter- und Erholungsquartier außer mit Staatsbesuchen nur mit Fechtübungen, Besichtigung von Bildern und Festungsplänen und Durchlesen des Don Quixote, den er schon halb auswendig wußte, zu verbringen, vor allem aber alle Damengesellschaft möchlichst zu meiden. Für dies und alles andere hätte er in seinem jetzigen Quartier Freiheit und Raum genug gehabt, denn Mechthildis hatte ihm und seinem Gefolge den größten Teil des weitläufigen Gebäudes überlassen. Aber in die Excellenz war auf einmal ein anderer Geist gefahren. Der Damendienst hatte ihn wieder so ganz in der Gewalt wie vor dreißig Jahren, als er frisch aus der Schulzucht des Jesuitenkollegs an den Königshof zu Madrid gekommen war, das junge Herz voll von Liebesträumen, Serenaden und Sonetten. Nur natürlich benahm sich der gestrenge Herr Feldherr jetzt anders als damals der milchbärtige Page, seine Galanterie marschierte jetzt so gemessen und wohlgeordnet wie seine besten Kompanien, und manchmal erinnerte er an Don Quixote, auch ohne ihn zu citieren. Bei alledem aber lag so viel Adeliges und fast Ehrfürchtiges in seiner Huldigung, daß Mechthildis sie gern ertrug und mit freundschaftlicher Teilnahme erwiderte.
Mit dem Meister Baltzer stand Cordova seit langem auf gutem Fuße. Er hatte die Unterhaltung des alten Meisters an Orten schätzen gelernt, wo es sich erheblich weniger bequem und ungefährlich plauderte als im Ahnensaale des Mechterhauses. Sein eigener Gesprächsstoff war freilich etwas einförmig; wenn es sich nicht um Bilder handelte oder um die Schönheiten des Don Quixote, so blieb für die Excellenz nur ein Thema, das sie unermüdlich variierte: das Lob der reizenden Hausherrin und ihrer gastfreundlichen Aufmerksamkeit.
Auch heute hatte er dieses Thema wieder aufgegriffen, sobald er mit dem Meister Baltzer allein vor seinem Kamin saß. Der Meister hörte ihm eine Weile behaglich zu. Dann bemerkte er: »Eigentlich habt Ihr dies schöne Quartier doch nur der Politik zu verdanken. Ihr kennt doch den Ratsherrn Sebaldus von Halveren? Den Oheim unseres Fräuleins, der Euch bei Eurem Einzug so überfreundlich begrüßte.«
»Ich erinnere mich,« antwortete Cordova. »Ein unangenehmer Herr. Er hat so etwas Lauriges im Gesicht und Wesen, ich weiß nicht recht, woran es mich erinnerte –«
»Vielleicht an einen Großinquisitor?« half Meister Baltzer ein.
Cordova warf ihm einen entrüsteten Blick zu. »Was denkt Ihr, Meister? Ein solcher Vergleich ... Ueberhaupt, was hat mein Quartier mit diesem Herrn von Halveren zu thun?«
»Nun,« erklärte Meister Baltzer, »der Herr hatte sein Haus als Quartier für Euch angeboten. Aber der Rat traut ihm nicht. Es heißt, er stehe im heimlichen Einverständnis mit Euren und den kaiserlichen Ministern, um diese ehrsame Stadt von der Neutralität abzuziehen und sich wieder zum Bürgermeister zu machen, und da hat der Rat wohl gedacht, es wäre besser, Euch anderswo einzuquartieren, wo Ihr nicht Gefahr lauft, mit dem Herrn Sebaldus – heimliche Politik zu machen.«
Cordova sah schon sehr unwillig aus, als er erwiderte: »Ich will nicht hoffen, daß man mir eine solche Sendung zutraut.«
»Je nun,« versetzte Meister Baltzer friedlich, »Eure Excellenz ist berühmt wegen Ihrer Klugheit. Wenn das Ding wahr wäre, würdet Ihr es doch nicht zugestehen. Aber was geht's mich an? Ich denke wie Euer Don Quixote: Es wird schlimmer, wenn man dran rührt.«
»Und ich sage Euch, Sennor,« rief Cordova in vollem Zorn, »wenn mich mein Herr, der König, sendet, eine Stadt wegzunehmen, so hoffe ich, daß er mir Kanonen und Soldaten dazu gibt und nicht ein Kreditiv an irgend einen ungetreuen Ratsherrn selbiger Stadt. Ich bin Soldat, Sennor, und Edelmann!«
»Die Welt kennt keinen besseren,« erwiderte Meister Baltzer artig. »Aber dann muß ich doch von dem guten Herrn Sebaldus sagen wie Sancho Pansa: ›Es glaubt mancher zu fischen und krebst.‹ Denn umsonst läßt er doch nicht Tag für Tag ein Häuflein von seinen Parteianhängern vor dem spanischen Wappen, das Euch zu Ehren jetzt am Haus draußen hängt, Parade machen und Hoch rufen. Ihr habt die Leute doch schon bemerkt? Die feinsten Brüder sind es eben nicht, Bankerottierer, Branntweinzapfer und dergleichen mehr; aber bei Stimme sind sie. Nun, und er selber ist ja auch schon ein paarmal hier gewesen, ohne Euch zu treffen, wie ich von Eurem Adjutanten höre. Es scheint ihm doch viel daran zu liegen, als Euer guter Freund zu erscheinen. Oder sollte er Euch nur bitten wollen, daß Ihr bei unserem Fräulein ein gutes Wort für seinen langen Sohn einlegt?«
»Was sagt Ihr da?« fuhr Cordova auf. »Der soll unsere Wirtin – dieser – wie heißt er doch –«
»Junker Lambertus von Halveren. Ganz derselbe. Ihr erinnert Euch seiner vom Ratsbankett zu Euren Ehren, wo er mit anderen Edelreisern dieser Stadt Spalier machte. Ja, gewiß, – einmal hat er schon um sie angehalten; drei Tage nach dem Tode ihres Oheims, – und einen Korb bekommen. Ich weiß es von ihm selbst; er ist eine offene Seele. Aber Hoffnung macht er sich noch immer, und wer weiß? Etwas verwandt sind sie ja, und das liebt man unter dem Stadtadel hier. Wenn der Alte erst mit seiner Partei obenauf kommt, – wie gesagt, ich glaube, er baut auf Euren freundlichen Beistand, es sollte mich wundern, wenn er Euch heute nicht wieder aufsuchte –«
»Thut mir den Gefallen, Meister, und bescheidet die Diener draußen sogleich, daß ich für diesen Mann stets abwesend bin,« sagte Cordova hastig.
»Das will ich sehr gern thun,« versicherte Meister Baltzer und empfahl sich.
»Eigentlich soll man nie rachsüchtig sein,« brummte er, als er auf dem Heimweg an dem Hause Halveren vorüber kam. »Aber dem Andenken meiner guten alten Brigitt war ich doch noch ein Kränzlein schuldig. Und dann, – dafür ist mir der brave spanische Geisterseher doch zu schade, daß dieser Erzschelm mit seinem Namen im Trüben fischt.«