Alexander Moszkowski
Entthronte Gottheiten
Alexander Moszkowski

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Collegium Idioticum

Im klassischen Drama des Altertums folgte das Satirspiel auf die Tragödie. Und just im Höhepunkt dieser Übung erblühte dieser Regel eine Ausnahme, die das Verhältnis umkehrte: der großen und menschlich echten Tragödie »Tod des Sokrates« ging ein Satirspiel voran, zu dem der Verurteilte selbst den Text geliefert hat. Er konnte es nicht unterlassen, selbst unter den Schauern des herannahenden Endes, als schon der Schierlingsbecher für ihn bereit stand, der Vernunft Gewalt anzutun; und den Beweis zu liefern, daß er ohne Anwandlung gemeiner Menschenfurcht entschlossen war, dasjenige aufzugeben, was er nie besessen hatte, nämlich den Geist.

Sein Freund Kriton besuchte ihn im Gefängnis, aufs höchste bekümmert und in der wohlmeinenden Absicht, ihn zur Flucht zu bereden. Alle Vorbereitungen waren getroffen, das Gelingen verbürgt, Sokrates brauchte nur zu wollen, und er war frei, zum Genuß seiner Freunde, zur Vermeidung unendlichen Trübsals; und vor allem: seine Zustimmung hätte den Volksgenossen die Vollstreckung eines Fehlurteils erspart, das als die Schande der Athener in seiner Verwirklichung untilgbar bleiben mußte. Sokrates wollte nicht. Soweit ganz tragisch. Und die von Plato aufgezeichnete Szene Sokrates-Kriton hätte, wenn sie etwa von einem Sophokles aus freier Phantasie gestaltet worden wäre, recht bedeutsam werden können. Aber es kam anders. Der große Moment fand ein kleines Geschlecht minderwertiger Dialogsprecher; erstlich den Kriton, einen Hanstaps erster Ordnung, und zweitens den Sokrates, der sich auch diese letzte Gelegenheit nicht entgehen ließ, um in gewohnter Weise unabsehbaren Unsinn zu schwatzen.

Es ist möglich, daß die Dichter der Weltliteratur das instinktiv herausgefühlt haben. Die letzten Stunden des Sokrates, sonst der geborene Dramenstoff, ist nicht oft auf die Bühne gebracht worden. Gewiß, man hat es versucht, sogar mit Musik. Aber selbst ein Genie müßte an der Hauptszene scheitern, wenn es der Vorlage Platos treu bleiben wollte. Es ist unmöglich, ein Haupt mit dichterischem Trauerflor zu kränzen, das sich selbst als mit einer Schellenkappe bemützt vorstellt.

Im Anfang des berühmten Gespräches im Gefängnis geht es noch ganz leidlich zu, und Kriton findet sogar einige Herzenstöne, ehe er in den Malstrom der Sokratischen Dialektik hineingewirbelt wird und ehe die gallertartigen Massen der Begriffe aus Sokratischer Küche über seinen armen Kopf ausgegossen werden.

Sokrates: Bist du jetzt eben gekommen oder schon lange?

Kriton: Schon ziemlich lange.

Sokrates: Warum also hast du mich nicht gleich geweckt, sondern dich so still hingesetzt?

Kriton: Nein, beim Zeus, Sokrates, ich wollte wohl selbst lieber nicht gewacht haben in dieser Betrübnis. Aber dir habe ich schon lange verwundert zugesehen, wie sanft du schliefest; und recht wohlbedächtig habe ich dich nicht geweckt, damit dir die Zeit noch gar lieblich hingehe. Denn oft schon freilich, auch sonst im ganzen Leben habe ich dich glücklich gepriesen deiner Gemütsart wegen, bei weitem aber am meisten in dem jetzigen Unglücke, wie leicht und gelassen du es erträgst.

Sokrates: Es wäre ja auch verkehrt, o Kriton, wenn ich in solchem Alter mich unwillig gebärden wollte darüber, daß ich eben schon sterben muß.

Kriton: Werden doch auch andere, Sokrates, ebenso bejahrte, von solchem Unglück bestrickt; aber ihr Alter schützt sie nicht davor, daß sie sich unwillig gebärden, wenn nun das Schicksal herantritt.

Nach diesem Auftakt hätte der Geist eines Seneca einsetzen müssen, eines Montaigne, eines Shakespeare, eines Lessing! die größte und schönste Sonate über das Thema Leben und Sterben, Opfertod im Dienste einer höheren Idee konnte sich da entwickeln. Auch Plato hätte sie aufbauen können, wenn ihn nicht die unbesiegliche Natur seines Modells auf den Zwangsweg gedrängt hätte. Aus klarer Menschenrede werden wir herausgerissen in einen grauen Nebel von »Begriffen«, der sich um so dicker ballt, je weiter wir vordringen. Alles wird uferlos, breiig, gestaltlos. In wirren Flocken von gut und böse, Lob und Tadel, schändlich und schön, schüttet sich ein Wortgestöber über uns aus, das uns den Atem versetzt und jede Aussicht auch nur auf die Möglichkeit eines schließlichen Gedankenlichtes benimmt. Des langen Gewäsches kurzer Sinn ist aber der, daß Sokrates, der Obersophist aller Sophisten im übeln Sinne des Ausdrucks, dem Kriton beweisen will: er würde ein großes Unrecht begehen, wenn er nicht den ihm fälschlich zudiktierten Henkertod über sich ergehen ließe. Betrachten wir einige Fragmente des Gesprächs, die infolge äußerster Verkürzung wenigstens die Hochflut der Langeweile abwehren sollen:

Sokrates: Wohlan denn, wenn wir das, was durch das Ungesunde zerrüttet, durch das Gesunde aber gebessert wird im Gehorsam gegen die Meinung derer, welche nichts von der Sache verstehen, zerrüttet haben, lohnt es nun wohl noch zu leben nach dessen Zerrüttung? Dies ist aber doch der Leib? oder nicht?

Kriton: Ja.

Sokrates: Lohnt es wohl nun zu leben mit einem abgeschwächten und zerrütteten Leibe?

Kriton: Keineswegs.

Sokrates: Allein, wenn jenes zerrüttet ist, soll es doch noch lohnen zu leben, was eben durch Unrechthandeln beschädigt wird, durch Rechthandeln aber gewinnt? Halten wir das etwa für schlechter als den Leib, was es auch sei von dem unsrigen, worauf Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit sich beziehen?

Kriton: Keineswegs.

Sokrates: Sondern für edler?

Kriton: Bei weitem.

Sokrates: Also keineswegs, o Bester, haben wir das so sehr zu bedenken, was die Leute sagen werden von uns, sondern was der Eine, der sich auf Gerechtes und Ungerechtes versteht, und was die Beschaffenheit der Sache selbst. So daß du schon hierin die Sache nicht richtig einleitest, wenn du vorträgst, wir müßten auf die Meinung der Menge vom Gerechten, Schönen und Guten und dem Gegenteil Bedacht nehmen. Aber hier könnte eben jemand sagen, sie hat es ja in ihrer Gewalt, die Menge, uns zu töten.

Kriton: Offenbar, auch das könnte jemand sagen, o Sokrates.

Sokrates: Ganz wahr; aber, du Wunderlicher, dieser Satz selbst, den wir durchgenommen, erscheint mir wenigstens noch ebenso wie vorher. Und betrachte nur noch diesen, ob er uns noch feststeht oder nicht, daß man nämlich nicht das Leben am höchsten achten muß, sondern das gut leben.

Kriton: Freilich besteht der.

Sokrates: Und daß das Gute mit dem Gerecht- und Sittlichleben einerlei ist, besteht der oder besteht er nicht?

Kriton: Er besteht.

Sokrates: Also dem Eingestandenen zufolge müssen wir dieses erwägen: ob es gerecht ist, daß ich versuche von hier fortzugehen, ohne Zulassung der Athener oder nicht gerecht . . .

Multiplizieren wir das in Sätzen und Zeilen ungefähr mit zehn, so gelangen wir ungefähr an das Längenmaß der Einleitung des schauerlichen Kollegs. Denn um ein Kollegium handelt es sich auch hier. Ein braver, besorgter Freund hat sich angestrengt, um Hilfe zu bringen, Antwort: eine Vorlesung, bestehend aus einem Gespinst von tautologischen Redensarten, die sich öde, grau und unermeßlich abhaspeln. Aber während sonst irgendein Professor Unrat mit tautologischem Geschwafel immer wieder bei Tautologischem, d. i. identisch Selbstverständlichem mündet, bringt es Sokrates gleich im Anlauf fertig, das glatte Gegenteil dessen zu beweisen, was er seiner logischen Schraube ohne Ende ursprünglich aufgegeben hatte. Es möchte noch hingehen, aus fortgesponnenem Stumpfsinn immer wieder Stumpfsinn herauszuquälen; es wäre öde wie ein hundertmal wiederholtes zwei mal zwei gleich vier, aber eben doch selbstverständlich. Sokrates allein versteht es, seinem eigenen Stumpfsinn so lange zuzusetzen, bis er das Unvermutete von sich gibt, nämlich den Widersinn. Hatte er nicht eben noch entwickelt, man dürfe sich nicht nach den »Leuten« richten, nach der unverständigen Menge, sondern nur nach dem »Einen«, dem Sachverständigen? und wobei landet er, nachdem er die Tretmühle der Identitäten so und so oft herum gestampft hat? bei der Menge, bei der Masse als Autorität, bei den Athenern, ohne deren Zulassung er im Sinne der Gerechtigkeit nicht das Gefängnis verlassen dürfe, – wie er bald noch weit ausführlicher in einem wahren Platzregen von Fehlschlüssen entwickeln wird. Er selbst ist der Eine, der zwischen Recht und Unrecht zu sichten weiß, sollte es wenigstens sein, – im Gegensatz zu ihm stehen die Vielen, die Beschränkten, – also? – also? – ergo: die Vielen, die Vielzuvielen haben zu entscheiden, was dem Einen erlaubt und verboten ist! Ach dieser Eine! es genügt ihm nicht, daß er nun bald den Gifttrank schlürfen soll, er selbst tritt als Henker auf, schlägt noch einmal der Vernunft einen Kopf ab, der langlebigen Todfeindin Vernunft, gegen die er zeitlebens im Herkuleskampf gestanden hat.

Und der arme Kriton meckert sein Ja und Amen dazu. Kriton ist kein Protagoras, der den Faden der Unterhaltung in der Hand behält und sich auf Widerspruch einzurichten versteht. Sobald er nur in den Dunstkreis des Meisters gerät, betäubt ihn der Wortschwall, er stellt sein bißchen Eigenverstand auf Null und weiß nur noch mit »Ja freilich« und allen Varianten dieses »Ja freilich« zu reagieren. Leuchtet ihm etwa das alles ein, was ihm aus Sokrates' Munde als ein Gemisch von Plattheit und Widerspruch ansprudelt? Nein, ihm leuchtet überhaupt nichts mehr ein, er ist hypnotisiert, zu einer Interjektionspuppe erstarrt. Und Plato brauchte hier gar kein Versteckspiel zu treiben wie in den Sophistengesprächen, er hatte freie Bahn für den Original-Sokrates; der konnte sich hier, wo es ans Sterben ging, in all seiner grandiosen Torheit frei ausleben; massenhaft gezüchtete Unsinnsbazillen in Reinkultur aufzeigen! Den Tod wünschen, nachdem man die Nichtigkeit des Lebens erkannt, – gut. Dies sinnvoll begründen, – noch besser. Aber solche Litanei anzustimmen im trockensten Vorlesungsstil, solche Kinderei, Worte umherzukreiseln mit beständig sich verheddernder Peitsche, – das mußte ein Satirspiel vor der Tragödie liefern, und hat es geliefert.

Aber Tausende haben das gelesen, die keine Kritons waren, die zu den Ereignissen Distanz besaßen, und die trotzdem nicht irre wurden an ihrem historischen Sokrates. Dies konnte nur geschehen, weil sie an einer Stelle hängen blieben und dieser Stelle zuliebe das Übrige überlasen, übersahen, jedenfalls nicht für wichtig genug hielten, und weil sie in dieser einen Stelle die Vorahnung weiterer neuplatonischer und späterer welterobernder Heilswahrheiten erblickten:

Sokrates: Ist das Unrechttun dem, der es tut, schädlich und schändlich auf alle Weise? Wollen wir dies sagen oder nicht?

Kriton: Das wollen wir.

Sokrates: Auf keine Weise also soll man Unrecht tun?

Kriton: Nein, freilich.

Sokrates: Also auch nicht der, dem Unrecht geschehen ist, darf wieder Unrecht tun, wie die meisten glauben, wenn man doch auf keine Weise Unrecht tun darf?

Kriton: Es scheint nicht.

Sokrates: Und wie doch, darf man Übles zufügen oder nicht?

Kriton: Man darf es wohl nicht, Sokrates.

Sokrates: Aber wie? Übles wiederum zufügen, nachdem man es erlitten, ist das, wie die meisten sagen, gerecht oder nicht?

Kriton: Auf keine Weise.

Sokrates: Denn jemand Übles zufügen, ist nicht unterschieden vom Unrechttun.

Kriton: Wahrgesprochen.

Sokrates: Also weder wiederbeleidigen darf man, noch irgend einem Menschen Übles zufügen, und wenn man auch, was es immer sei, von ihm erleidet . . .

Abermals kürzen wir den geredeten Bandwurm ab, dessen zahlreiche übrige Glieder einander alle so ähnlich sehen, wie die hier vorgelegten. Der Gedanke, um einen militärischen Ausdruck anzuwenden, tritt auf der Stelle, täuscht wie üblich bei Sokrates Bewegung vor, ohne auch nur im geringsten vom Fleck zu kommen. Aber immerhin, der Bandwurm hat hier wenigstens einen Kopf, und in diesem Kopf scheint ein organischer Prozeß vorzugehen, den man bei gutem Willen auf »Ethik« deuten könnte. Es will sich so etwas wie eine sittliche Substanz entwickeln, und wir ahnen wohl, daß in diesem Stoff, hier noch Rohstoff, der Keim einer Moral stecken soll, um derentwillen Sokrates später als ein Sittenlehrer der Menschheit berühmt geworden ist.

Prüfen wir genau. Das Beweisthema hat sich ja nicht geändert. Es lautet unabänderlich: man darf sich aus Todesgefahr nicht retten, sobald einmal gerichtliche Formalien gegeben sind, denn – und hier wird der moralinsaure Beweis angeschlagen: man würde damit jemand ein Übles zufügen; und das darf, – ja freilich! – unter keinen Umständen geschehen; auch dann nicht, wenn man Unrecht litt. Das Prinzip der Vergeltung wird geleugnet, das mit Bewußtsein Unrecht erleiden zu wollen erhebt sich zur Norm, die sich dereinst zu dem Gebot »Liebet eure Feinde« auswachsen kann.

Das unmittelbare Empfinden konzentriert sich in dieser Situation auf Sokrates' Freunde, zudem auch, wie Kriton im unverkürzten Original ganz sachgemäß hervorhebt, auf seine Kinder, auf Personen also, die Sokrates niemals ein Übel zugefügt haben, und denen nur ein großer Schmerz widerfahren kann: sein unverdienter Tod. Nun predigt Sokrates: man dürfe niemand ein Übel zufügen, selbst nicht dem Feinde; während er drauf und dran ist, die Freunde, die Getreuen, die Besten, die er kennt, mit dem entsetzlichsten Übel heimzusuchen. Sein Kriton befindet sich hier in der Lage des reinen Toren Parsifal, dem die einzige selbstverständliche Frage nicht einfällt:

Sage doch, Sokrates, warum willst du denn uns Übles versetzen, ausgerechnet uns, die wir doch in dieser Beweisführung höher stehen müßten, als dein ewiger, namenloser, böswilliger Jemand??!

Aber wir haben ja allmählich begriffen, wie die Dinge in Wahrheit liegen: Zum Idioten Nummer eins gehört der Idiot Nummer zwei; und der Unteridiot Kriton darf die Frage nicht stellen, weil sonst der Oberidiot »auf keine Weise« eine auch nur halbwegs mögliche Antwort wüßte, und der längliche Dialog an dieser Stelle seinen verblüffenden Schluß fände. Das darf natürlich nicht geschehen. Plato hat die Drähte in der Hand, und das von seinen Spielpuppen dargestellte Stück ist noch lange nicht zu Ende. Und an dem Leitmotiv darf natürlich nicht gerüttelt werden, an dem dramatischen Grundgedanken: Sokrates muß schließlich recht behalten, allen Widersinn zum Trotz.

So nur erklärt es sich, daß der Unteridiot auch eine zweite Frage verabsäumt, die ihm unbedingt ankommen müßte, wenn er nur einen Augenblick von seinem maschinellen Zustimmungskoller loskommen könnte. Er hätte zu fragen:

Sage doch, Sokrates: wie vereinbarst du wohl deine seltsame Lehre von der Feindesliebe mit deinem persönlichen Verhalten? Hast du Liebe geübt, als du dem Feinde im Handgemenge entgegenstandest? Hast du dich der Feldschlacht entzogen, um dem feindlichen Jemand nur um Gotteswillen kein Übles zuzufügen?

Sokrates wäre vielleicht nicht ungern daran erinnert worden. Hatte er doch selbst kurz zuvor in der unerschrockenen Apologie (Verteidigungsrede) vor Klägern und Richtern sein kräftiges Verhalten im Felde betont; in der einzigen Rede übrigens, die bei ihm von einem Schimmer der Logik erhellt wird und die sich im wesentlichen Thema »Leben–Tod« über die platteste Plattheit erhebt. Sokrates war tapfer. In mehreren Feldzügen während des peloponnesischen Krieges schwang er die Waffe, den Freunden zu Nutz, dem Feinde zum Trutz. In dem Treffen bei Potidäa deckte er mit seinem Schilde den verwundeten Alcibiades und entsagte zu seinen Gunsten dem Preise, der dem Tapfersten zuerkannt wurde. Bei der Niederlage zu Delion war er unter den wenigen Tapferen, die in fester Haltung den Rückzug bewirkten, und hier eilte Alcibiades zu Pferde herbei, um seinen Lehrer zu beschützen. Bei einer anderen Kampfhandlung trug Sokrates seinen Schüler Xenophon auf den Schultern aus dem Schlachtgetümmel. Weit entfernt war er also von der verblasenen Moral der Feindesliebe, die er im Gefängnis vor Kriton salbadert, von jener Wortmoral, die noch nie der Wirklichkeit standgehalten hat, wo es hart an hart ging. Begreift sie heute nach den im Weltkrieg aufgesammelten Empfindungen kein Europäer, mußte sie sogar auf geistlichen Kanzeln verstummen und der Haßmoral weichen, so war sie im Munde eines antiken Griechen ein Unding, das sich aus jeder Phase des Lebens als Lächerlichkeit erwies. Welche Annehmlichkeit hätte wohl Sokrates seinen Feinden bei Potidäa und Delion bereiten wollen? und weiterhin: welche Annehmlichkeit wollte er im Gerichtsverfahren seinen Gegnern, den Anklägern Melitos und Genossen, zufügen? Wir wissen es aus der »Apologie«: er überhäufte sie mit Schmähungen und war durchaus nicht aufgelegt, ihnen, die ihm unrecht taten, irgendein Übles zu ersparen.

Und das geschah ja unmittelbar vorher in der Gerichtsverhandlung, aus der das Gespräch mit Kriton erst wie ein Anhang hervorwuchs. Dort bekannte er sich noch zu der Denkart, die in der Neuzeit die populäre Form annahm: »Wer nur dem lieben Gott vertraut und immer kräftig um sich haut – – –« Und die Tugend des Sokrates erschien noch in voller Wehr, zu Schimpf und Unglimpf dem Gegner. Unverschämte nannte er sie, Lügner und Verleumder! Warum erinnert ihn Kriton nicht daran? Immer aus demselben Grunde: weil Plato eine sophistische Gesprächsführung vorgesehen hatte, und weil der Ultrasophismus des Sokrates in der Sekunde hilflos zusammenbrechen mußte, da ihm nur eine vernünftige Gegenbemerkung den Weg versperrte. Plato sorgt also dafür, daß sie unterbleibt; und so gewinnt er den Raum für die letzte Sophisterei des Sokrates, in der das vortreffliche Schulpferd »Paranoia« wieder in den schwierigsten Gangarten geritten wird:

Sokrates: Erwäge es denn so: wenn, indem wir von hier entfliehen wollten, die Gesetze kämen und das städtische Gemeinwesen, und uns mit der Frage in den Weg träten: Sage doch, Sokrates, was hast du im Sinn zu tun? Ist es nicht so, daß du durch deine Tat uns, den Gesetzen und also dem ganzen Staat den Untergang zu bereiten gedenkst? Oder dünkt es dich möglich, daß jener Staat noch besteht und nicht in gänzliche Zerrüttung gerate, in welchem die abgetanen Rechtssachen keine Kraft haben, sondern von Einzelmännern können umgestoßen werden? Was sollen wir hierauf sagen, Kriton? . . . Oder sollen wir zu ihnen sagen: »Ja, die Stadt hat uns unrecht getan und in der Klage unbillig gerichtet?« Dies? oder was wollen wir sonst sagen?

Kriton: Dies, beim Zeus!

(Also selbst Kriton, der Automat, zeigt hier eine blitzartige Regung der Selbständigkeit; und sein Schwur »Beim Zeus!« bekräftigt die letzte Gegenwehr seines armen Verstandes, der sich dem Unfaßbaren gegenüber auf das Selbstverständliche besinnt. Abermals indes fängt ihn Sokrates in seiner Umklammerung mit unermüdlichen Beweisen, das Vaterland müsse zugrunde gehen, wenn nicht dem Unrecht der Verurteilung auch die Schmach der Vollstreckung folgte):

Sokrates: Oder – so sprächen die Gesetze – bist du so weise, daß du nicht weißt . . ., daß Gewalt nicht ohne Frevel gebraucht werden kann gegen Vater und Mutter und noch viel weniger gegen das Vaterland? Was sollen wir hierauf sagen, o Kriton, daß es wahr ist, was die Gesetze sagen oder nicht?

Kriton: Mich deucht ja!

. . . . . .

Sokrates: Du, Sokrates, – sprächen die Gesetze – hast weder Sparta (als Aufenthalt) vorgezogen noch Kreta, die du doch sonst immer rühmst als wohlgeordnete Staaten, noch irgend einen andern von den hellenischen oder nichthellenischen Staaten, sondern weniger hast du dich entfernt, als die Lahmen, die Blinden und andere Krüppel. So vorzüglich vor allen Athenern hat dir die Stadt gefallen, und wir, die Gesetze, also auch . . . Und nun willst du doch dem versprochenen nicht treu bleiben? Doch! wenn du uns nämlich folgst, o Sokrates, und dich nicht lächerlich machen willst durch deine Flucht aus der Stadt . . . Also Sokrates gehorche uns, deinen Erziehern, und achte weder die Kinder noch das Leben höher als das Recht, damit, wenn du in die Unterwelt kommst, du dies alles zu deiner Verteidigung anführen kannst bei den dortigen Herrschern, . . . wenn du jetzt hingehst, so gehst du hin als einer, der Unrecht erlitten hat, nicht zwar von uns Gesetzen, sondern von den Menschen. Entfliehst du aber und vergiltst so schändlich Unrecht und Böses mit gleichem, deine eigenen Versprechungen und Verträge mit uns verletzend, und allen denen Übles zufügend, denen du es am wenigsten solltest, dir selbst nämlich, deinen Freunden, dem Vaterlande und uns, so werden nicht nur wir auf dich zürnen, so lange du lebst, sondern auch unsere Brüder, die Gesetze der Unterwelt werden dich nicht freundlich aufnehmen, wenn sie wissen, daß du versucht hast, uns zugrunde zu richten. Dies, lieber Freund Kriton, glaube ich zu hören, wie die, welche Ohrenklingen haben, die Flöte zu hören glauben . . . Also wisse nur, was meine jetzige Überzeugung betrifft, daß, wenn du etwas hiergegen sagst, du es vergeblich reden wirst. Dennoch aber, wenn du glaubst, etwas damit auszurichten, so sprich.

Kriton: Nein, mein Sokrates, ich habe hiernach nichts mehr zu sagen.

Der Automat, der eine Sekunde lang »Beim Zeus!« Mensch werden wollte, funktioniert wieder vollkommen, und Sokrates genießt den Triumph, seine rechthaberische Konfusion mit dem Tod zu besiegeln. Fiat injustitia! Bösartige Ankläger waren aufgetreten, hatten mit verleumderischer Tücke das Gesetz gekränkt, – das schadete dem Staat nicht, verhinderte ihn nicht am Weiterexistieren; ein Gerichtshof hatte in Verbohrtheit und Ärger ein zum Himmel stinkendes Unrecht verkündet, – kein Grund zum Widerspruch für die Gesetze. Aber wenn der verurteilte Tugendmann das einzige Mittel ergreift, um der Stadt die Schande zu ersparen, um vielleicht das niedergestoßene Recht in einem Nachverfahren wieder aufzurichten –, dann verfällt er in Lächerlichkeit und bereitet obendrein dem ganzen Staat den Untergang! Aber weshalb hat er selbst dann bis übers 70. Lebensjahr schwatzend gelehrt? Es war doch Gesetz, oberstes von ihm selbst anerkanntes Göttergesetz, daß Unwissenheit der Menschen Los sei? Und warum wurde er nicht müde, die Jünger zu belehren, um sie wissend zu machen? Daß jedes Gesetz nur eine Abstraktion ist, daß es Sinn und Verstand erst von seiner Anwendung und Wirkung empfängt, fällt ihm nicht ein. Er sieht ein Gespenst und hält es für einen lebenserfüllten Körper, eine Macht, eine Erhabenheit. Nun, wenn ihm Majestät zukommt, weshalb setzt es sich denn nicht durch gegen die Toren und Verbrecher, die es an Gewalt so ungeheuer überragt? Weshalb streckte es nicht die Ankläger und Richter zu Boden und wartete mit seinen Offenbarungen auf die letzte Stunde des Einen, des Unschuldigen, der niemals Gesetze verletzt hatte, höchstens die der Logik?

Umgekehrt – wenn sein Verstandesschema Gültigkeit besäße, so wäre nicht nur Stadt und Staat, sondern die Menschenwelt dem Untergang verfallen, ja sie hätte sich erst gar nicht entwickeln können. Prometheus, der das Feuer vom Himmel stahl, um es den Menschen zu geben, handelte gegen das Gesetz. Und der Athener, der einen Hausbrand löschte, ebenso, denn das Naturgesetz will, daß der Blitz das Haus verzehrt. Nach dem Naturgesetz, – das doch wohl einer athenischen Paragraphenrolle noch vorgeht – ist die Pest mächtiger als der Menschenleib. Aber Sokrates lobte doch die Ärzte, die dieses Gesetz bekämpfen. Das Naturgesetz statuiert durchweg das Recht des Stärkeren, und wo ist Platz in der gesamten Morallehre des Sokrates für dieses Gesetz?

In weiser Ironie hat das Schicksal den Sokrates vor einem Freispruch behütet, um jenes letzte Gespräch zu ermöglichen und daran den wichtigen Satz zu erhärten, daß ein Ideolog unter allen Umständen ein Ideolog bleibt. Wäre er eines natürlichen Greisentodes gestorben, so hätte vermutlich irgend einer seiner Freunde sein letztes seniles Gestammel aufgezeichnet, wovon sich vielleicht ein loser Splitter für ein späteres Gymnasialbuch geeignet hätte. Das Gespräch mit Kriton aber stellt in ganzer Ausdehnung eine lehrsame Ungeheuerlichkeit dar. Es zeigt uns zunächst, daß Denken und Moralisieren in ganz verschiedenen Ebenen liegen, und es durchleuchtet zudem den geistigen Organismus des Sokrates wie mit Röntgenstrahlen. Die Tragik der Stunde verschwindet vollkommen, nur ein knöchernes Gerüst von Begriffen wird sichtbar, zusammengenietet von einem, der sich lieber opfert, als daß er in letzter Stunde die Beweismeierei aufgibt. Eine in der Niederung des Denkens umherkrabbelnde Idee soll Flügel bekommen, soll Ideal werden; nur daß man vom Ideenflug nichts zu bemerken bekommt, desto mehr aber von Ideenflucht. Die Güte der sokratischen Empfindung verlangt hier durchaus nach dem griechischen Ausdruck: εὐηϑης (euethes), dem Ethischen in höchster Potenz; und es ist kein Zufall, daß das nämliche griechischeWort, wie dir jedes Lexikon sagt, auch mit »töricht«, »albern« übersetzt werden kann; was wohl damit zusammenhängt, daß Geistesdinge bei höchster Überspitztheit in ihr Gegenteil umschlagen. Das erleben wir hier: statt das goldene Tor der Freiheit zu sehen und zu begrüßen, schwelgt er in der Entzückung, zu der sein Beweiskoller ihn stachelt; die Tragik schlägt in Komik um, und als Ergebnis haben wir das zwiegesprächige Satirspiel mit einer in Worten regellos flatternden, im Kern aber »fixen ldee«.Am 7. Juli 1917 erschien im roten »Tag« eine Abhandlung von Professor Josef Kohler »Der Tod des Sokrates«, deren Ausführungen sich mit den hier vorgetragenen in bemerkenswerter Weise berühren. Um jede schiefe Deutung von vornherein auszuschließen, sei hier festgestellt, daß das vorliegende Buch schon mehrere Wochen vorher fertig abgeschlossen war, zu einer Zeit also, da der Verfasser noch von keiner Silbe der Kohlerschen Schlüsse Kenntnis haben konnte.

 


 


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