Alexander Moszkowski
Entthronte Gottheiten
Alexander Moszkowski

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Das Tonwunder

Alle Orientierung geht verloren, wenn man in den Malstrom gerät, dessen schwindelerregender Wirbel durch jene zwei widerspruchsvollen, einander durchkreuzenden Strömungen hervorgerufen wird. Die eine Strömung ist die Formalästhetik, die andere die Gefühlsästhetik. Jene betrachtet die Tonkunst als bewegte Form, diese verwandelt das Passiv in ein Aktivum, sie sieht in der Musik ein Bewegendes, ja den Urquell aller Bewegung. Eines hat sie unbedingt vor ihrer feindlichen Schwester voraus: die Autoritätsfülle und das ehrwürdige Alter. Von den Heiligenbüchern aller Völker angefangen bis zu den ganzmodernen Poeten vereinigen sich alle Stimmen, um der Musik die gewaltigsten bewegenden Kräfte zuzuerkennen. Ja, sogar der Formalästhetiker kommt von jener Grundanschauung nicht durchweg los: sobald er nur einen Augenblick von der durch schärfstes Denken gewonnenen Nordlinie abweicht, sobald er nur einen Blick von dem Kompaß wendet, der ihm die Richtung zum Eispol des Formalen weist, gerät er unweigerlich in jene kochende Strömung; und aus dem Musikanatomen wird im selbigen Moment ein Schwärmer, der alle Vorstellungen des Übernatürlichen in seine Betrachtungen hineinträgt.

Von den Tonwundern des Orpheus und Arion brauche ich Ihnen wohl nicht erst zu erzählen. Aber es verlohnt der Mühe, anderen Quellen nachzuspüren, die von Urzeiten her das Paradies des musikalischen Wunders berieselten. In einem alten, heiligen Buche der Chinesen, dem Chouking, wird berichtet, daß die Bewohner des himmlischen Reiches sich eines besonderen Musikministers erfreuten. Das Attribut des musikalischen Hohepriesters war der Klingstein, Ming-Kieou, ein altklassisches Musikinstrument, in dessen Klängen Akustik und Politik zu einer höheren Einheit verschmolzen. Nach dem Text jener Chinesenbibel versichert der Minister: »Wenn ich meinen Klingstein schlage, stark oder schwach, springen die wilden Tiere vor Freude, und alle Beamtenhäupter stimmen überein.« Der Konzertminister präludierte, gab die motivische Begründung seiner Gesetzentwürfe, und alle politische Dissonanz wich vor dem Zauber des Instrumentes. In schwachen Sprachreflexen spiegelt sich diese Chineserei noch heutzutage. Die erste Geige des Ministerpräsidenten klingt noch bisweilen, aber sie beschwört nicht mehr die Divergenzen der Gesetzgeber, und im europäischen Konzert sieht sich der Tonangebende oft genug gezwungen, die Flöte niederzulegen.

In einer sehr gelehrten Chronik aus dem 17. Jahrhundert, deren Verfasser zweifellos aus guten Quellen des Altertums schöpfte, finde ich weitere Belege für die politische Wirkung musikalischer Kundgebungen: »Cajus Gracchus hat durch die Music die Römer offt auf seine Meinung gebracht«; von Thimotheus dem Milesier heißt es in dieser Chronik: »daß er durch seine Kunst im Singen, welches hoch zu verwundern, den Alexandrum bald zu Kriegen, bald die Waffen abzulegen gezwungen«. Wie bescheiden erscheint an dieser Tatsache gemessen die Schillersche Forderung: »drum soll der Sänger mit dem König gehen«, da es eine Zeit gab, in der der König mit dem Sänger bis zur ultimo ratio marschierte.

Zahllos sind die Fälle, in denen die Musik als Allheilmittel oder wunderwirkendes Spezifikum angerufen und gepriesen wird. Die Seelenkur des Königs Saul durch David erwähne ich als ein Beispiel mit bestimmt benannten historischen Größen. Wie eine große Seuche durch musikalische Einflüsse gebannt wurde, erfahren wir im ersten Kapitel des Ilias. Apollo hatte durch seine sengenden Pfeile die Epidemie entfesselt und beharrte als Krankheitserreger, bis der Zauber einer Gesangsmelodie dem Wüten der Pestilenz entgegengestellt wurde:

Jene den ganzen Tag versöhnten den Gott mit Gesange
Schön anstimmend den Päan, die blühenden Männer Achajas,
Preisend des Treffenden Macht; und er hörete freudigen Herzens.

Als klassische Gewährsmänner für die Heilkraft der Musik werden Thales, der Kretenser, und Ismenias von Theben angeführt. Der eine heilte durch tonkünstlerische Produktion die Hüftsucht, der andere die Pest. Dem Xenokrates gelang es auf konzertantem Wege, den Irrsinn zu beseitigen; vielleicht similia similibus, durch eine Musik, die normale Hörer zum Irrsinn trieb. Philippus Camerarius schreibt, daß der giftige Biß der Tarantel nur durch eine bestimmte Musikart geheilt werden könne. Wir wissen, daß diese Ansicht sich zum allgemeinen Volksglauben entwickelte und in der »Tarantola« (Tarantella) ihren sinnfälligen Ausdruck gefunden hat. Die Chinesen rühmen ihre alte Musik geradezu als eine makrobiotische Wohltat; sie sagen, daß einer ihrer Könige, namens Tcho-Yank, ungefähr 3000 Jahre vor Chr. auf den Gesang der Vögel lauschte und danach eine Musik zusammenstellte, die des Körpers Säfte ins Gleichgewicht brachte und das menschliche Leben verlängerte. Der Autor der Schrift vom Musikalisch-Schönen nennt zahlreiche Beispiele, die uns zeitlich wie räumlich näher liegen. Peter Lichtenthal erzählt mit ausführlicher Begründung, wie durch die Macht der Töne Gicht, Hüftweh, Epilepsie, Starrsucht, Pest, Fieberwahnsinn, Konvulsionen, Nervenfieber, ja sogar Dummheit (stupiditas) geheilt wurde. Der berühmte Arzt Baptista Porta vereinigte die Begriffe von Medizinalpflanze und Musikwerkzeug und kurierte die Wassersucht mittelst einer Flöte, die aus dem Stengel des Helleborus verfertigt war. Ein aus bestimmter Pappelart hergestelltes Musikinstrument sollte Seitenschmerzen, ein aus Zimmtrohr geschnitztes Ohnmachten zum Verschwinden bringen.

Bei allen Veranstaltungen der Magie und besonders der Nekromantie ist die Tonkunst von jeher als Werkzeug und illusionsförderndes Mittel in Anspruch genommen worden. Mag einer im Leben getrieben haben was er wolle, wird er als Geist beschworen, so erscheint er mit musikalischem Akkompagnement. Die vierte Dimension ist von Klangwellen erfüllt. Der Zusammenhang übersinnlicher, spukhafter Vorstellungen mit den emotionellen Wirkungen der Musik braucht nicht erst bewiesen zu werden; hat doch die Komposition selbst aus dem Ideenkreise der Mystik die wertvollsten Anregungen gezogen und nach Ausweis der Opern- und Konzertliteratur wahre Schätze für die eigenen Ausdrucksmittel gewonnen. Aber lange bevor Weber, Marschner, Berlioz, Meyerbeer, Saint-Saëns, Ducas die Fähigkeit der Musik für das Unheimliche und Gespenstische zur kunstromantischen Blüte entwickelt hatten, benutzte man die Zeichen und Laute der Musik als kabbalistische Beschwörungsformeln zur Anrufung der Geister. Der vorerwähnte Chouking erzählt: »Wenn man die Ming-kieou ertönen läßt oder die Kin oder die Se spielt und sie mit Liedern begleitet, so kommen Vater und Großvater, und die Toten nehmen an dem Fest teil«; die Geister verstorbener Herrscher wählen ihren Platz in der Runde der Hörer und beanspruchen den Mitgenuß der musikalischen Darbietungen. In diesen Berichten herrscht ersichtlich das Bestreben, die Wertschätzung der Musik selbst, als einer Schönheitsoffenbarung, mit möglichst starken Akzenten vorzutragen. Die Geister erscheinen, nicht weil sie mit vorbestimmter Absicht durch die Melodien gerufen werden, sondern weil es sich des Konzerts wegen verlohnt, die weite Reise ins Diesseits zu unternehmen. Diese magische Kunst, zum sinnlosen Gebimmel erniedrigt, sendet ihre letzten Ausläufer bis in die Spiritistensitzungen der Neuzeit, wo sie sich in frei umherschwebenden Harmonikas und anderem tönenden Hokuspokus instrumental verkörpert. Zur liturgischen Musik erhöht ist sie einer der stärksten Machtfaktoren der Kirche geworden.

Die Musikgeschichte macht uns einige ernst zu nehmende Tonkünstler namhaft, die hinter den wahrnehmbaren Erscheinungen der Musik das Walten geheimer Zauberkräfte vermuteten und bestimmten Formen einen mysteriösen Priesterdienst widmeten. Giuseppe Sarti, der Lehrer Cherubinis, gab seine kontrapunktischen Unterweisungen in einem verfinsterten Raume, dem von einer Seite her durch besondere Vorrichtung ein bläuliches Licht zugeführt wurde. Vielleicht besaß er eine Vorahnung von der merkwürdigen Rolle, die dem Kontrapunkt in der Spukmusik späterer Zeiten zugefallen ist. Fast ausnahmslos stellt sich beim Komponisten, der Gespenster und Hexen kolorieren will, der fugierende Pinsel ein. Der Fugenstil setzt eine ernste Grundlage voraus und erzeugt auf seiner natürlichen Basis gehobene Empfindungen. Das immer wiederkehrende Zauberkunststück der Modernen besteht nun darin, jene Basis unmerklich zu entfernen und durch motivische Stützen von schneidigem oder barockem Rhythmus zu ersetzen. So eröffnet das Formale in beständigen Anläufen eine weihevolle Stimmung, die durch den materiellen Toninhalt fortwährend in entsetzlicher Weise zerrissen wird. Der parodistische Kontrast zwischen der hervorgelockten und im selben Atem verspotteten Empfindung erzeugt im Hörer die Vorstellung des gespenstischen Zaubers, auf die es der Komponist abgesehen hat. Hierdurch erklärt es sich auch, daß diese mit allen technischen Mitteln raffinierte Zaubermusik sich so gern an den Melismen der Kirche vergreift. Als Beispiel nenne ich das »dies irae«, welches parodistisch verzerrt im Totentanz von Liszt sowie in der phantastischen Sinfonie von Berlioz auftritt.

Aber auch das moralische Wunder ist der Tonkunst vertraut. Schon Plutarch rühmt, ohne verspäteten Widerspruch fürchten zu müssen, ihre auserlesene erziehliche Wirkung; man werde, musikalisch durchgebildet, immer das Schöne loben, unedlen Handlungen fernbleiben und den Vorteil des Vaterlands vor Augen haben. Terpander habe einst unter den Lacedämoniern durch Musik einen Aufruhr gestillt. Von Pythagoras wird erzählt, er habe einen Jüngling, der von Eifersucht gestachelt das Haus seiner Angebeteten anzünden wollte, durch die Gewalt einer Melodie von diesem Vorhaben abgebracht. Ein klassischer Vorläufer des Stradellamotivs. Der Held Achill beschwichtigte seinen Zorn gegen Agamemnon durch eine hellklingende Harfe mit silbernem Steg. Und für den innigen Zusammenhang kriegerischer Impulse wie strategischer Erfolge mit der Tonkunst liegen von Jericho und Troja bis Gravelotte zahllose Zeugnisse vor.

Aus der anerkannten sittlichen Wirkung entwickelte sich die ästhetische Wertung nach dem unerschütterlichen Prinzip der Kalokagathia, der Zusammengehörigkeit des Guten und des Schönen. In oberster Instanz wird nicht die Gehörempfindung, sondern der sittliche Effekt angerufen, in den Erkenntnissen die Schablone nachgepinselt: diese Musik veredelt, also ist sie gut, jene verdirbt, also taugt sie nichts. Und nicht alle Autoritäten teilen da den Standpunkt Homers. Ja einige der besten Denker verkünden im Widerspruch zu der herrschenden Meinung das ketzerische Dogma: Gute Menschen haben keine Lieder. Aristoteles voran. Er macht der Muse zwar eine erzwungene Verbeugung, indem er die dorischen Melodien als Erziehungsmittel empfiehlt; aber an anderer Stelle öffnet er seinem Haß gegen die klingenden Kundgebungen alle Schleusen; »er zehlet diese Kunst«, so schrieb der gelehrte Harßdörffer vor 200 Jahren, »unter die wollüstigen, überflüssigen und unnützen und schändet die Mahler, daß sie die Götter mit musikalischen Instrumenten gebildet, weil sie mehr zu versorgen, als die Zeit mit Singen und Klingen zu verbringen; wie fast keiner mit Ehren sich für einen guten Saitenspieler ausgeben darf, ohne Verletzung seines ehrlichen Namens.« Der Vorwurf, daß die Musik weichlich, weibisch, feige mache, wiederholt sich bei vielen Schriftstellern des Altertums in unendlichen Variationen, allen Erfahrungen zum Trotz, die eine anfeuernde Kraft energischer Rhythmen feststellen. Als Warner und Tadler findet Aristoteles in Ost und West von Konfutse bis Plato gesinnungsverwandte Genossen, die in der Konduitenliste der Tonmuse die Debetseite schwer belasten.

So weit aber die Kalokagathia mitspricht, erscheint der Glaube an die übersinnliche Wirkung bereits in einer abgeklärten, der modernen Ansicht nahegerückten Form. Hat doch die Gefühlsästhetik der neueren noch immer nicht den Zusammenhang mit dem alten Zauberglauben aufgegeben, in dem sie ursprünglich mit allen Fasern wurzelte. Gefühl, Empfindung, Leidenschaft, Erhebung, das sind die Zauberformeln, mit denen sie operiert und die Brücke aus akustischen Phänomenen zu den geheimnisvollen Innenvorgängen der Schaffenden und Empfangenden zu schlagen versucht.

In seiner grundlegenden Schrift über das musikalisch Schöne läßt Hanslick eine große Anzahl dieser Stimmen Revue passieren. Es sind nicht einmal Variationen über ein Grundthema, sondern im Grunde nur Wiederholungen ein und desselben Bekenntnisses, das mit der Starrheit einer Gebetsformel aufgesagt wird. Alle früheren Autoritäten predigen sie als etwas Selbstverständliches, Mattheson, Forkel, Kirnberger, Marpurg, Andree, Sulzer, Thiersch, bei allen ist die Musik das Bewegende, nicht das Bewegte. Bei Schopenhauer ist die Musik geradezu das Abbild des Willens selbst, der sich in ihr samt allen Weltideen objektiviert; wie auch Richard Wagner mit deutlicher Reminiszenz an Schopenhauer behauptet. Alle diese Bekenntnisse wurzeln tief im Zauberglauben. Ob der altindische Künstler vermeinte, Tonströme in Regenströme für das durstige Land verwandeln zu können, ob der Glockenton sein fulgura frango in die Welt hinausläutet, oder ob der Ästhet in seinen seelischen Erschütterungen das wirkliche Wesen der Musik zu finden vermeint, – der Glaube an die Macht ist das Durchgehende und mit ihr innigst verbunden der Mangel jedes Zweifels an der darstellenden Fähigkeit der Musik. An dieser wird so wenig gezweifelt, daß kaum hier und da eine Diskussion darüber eröffnet wird. Was wäre da auch zu diskutieren? Daß die Musik Dinge, Begebenheiten, Gefühle darzustellen vermag, sie, die nach jener unbesieglichen Zwangsvorstellung die Welt selbst tiefer, gründlicher, erschöpfender erfaßt, als alle bildende Künste zusammengenommen?

Der moderne Ästhetiker hat die scheinbar identischen Gleichungen seiner Vorgänger geprüft und gefunden, daß rechts und links der Gleichheitsstriche ganz verschiedene Größen stehen; inkommensurable Größen, die nur durch die Identität eines Jahrtausende alten, fast unausrottbaren Denkfehlers zusammengehalten werden. Seiner Weisheit letzter Schluß lautet: Die Musik kann nur das Musikalische darstellen, und sonst nichts auf der Welt. Jene tiefe und offensichtliche Wirkung auf Herz und Gemüt ist nur eine Begleiterscheinung, in der das eigentliche Wesen der Musik nicht begriffen werden kann; ebensowenig wie aus dem Röcheln und Augenverdrehen eines vom Blitz Getroffenen auf das wahre Wesen der Elektrizität geschlossen werden dürfte.

 


 


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