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Jeder musikalische Kunstwert setzt sich als Produkt aus zwei Faktoren zusammen: aus dem Werk oder der Leistung, und der Empfangsqualität des Hörers. Der erste Faktor ist eine Konstante, der zweite variiert zwischen allen erdenklichen Grenzen. Verringert sich dieser, so nimmt das Produkt, der Wert, ab; verschwindet er, so wird auch das Produkt Null, ganz gleichgültig, wie das Werk beschaffen sein mag. Ein hohes Kunstwerk, von einer niederen Hörerschaft aufgefaßt, ist nicht wertvoller als ein niederes, das vor einem hohen Auditorium erklingt. Beethovens Missa solemnis vor einem Publikum von Sioux-Indianern aufgeführt ist eine akustische Erscheinung, wie das Getöse eines Wasserfalls, aber keine Kunst. Und der Tristan vor einem Publikum, das nicht die spezifische Tristanität mitbringt, ist kein Tristan.
Diese Anschauung öffnet einen Tiefblick, nach meiner Überzeugung den einzig möglichen Tiefblick, in das eigentliche Wesen aller Künstlerstreite. Das große Rätsel, daß ein und dasselbe Kunstwerk tausend verschiedene Meinungen hervorruft, babylonischen Wirrwarr der Ansichten heraufbeschwört, zerfällt in sich. Und des Rätsels Lösung? Es ist gar nicht ein und dasselbe Kunstwerk! Schon in dem Akt der Aufnahme vollzieht sich jene Multiplikation zum Wert, der das einzige ist, was dem Kunstverstand wahrnehmbar wird, das einzige, was den Kunstgenuß bedingt. Für sich ist jeder Mensch die Einheit, die Verschiedenheit des Produktes wird in den zweiten Faktor verlegt, und so können wir einen Schritt weiter behaupten: wenn zwei Menschen ein Kunstwerk hören, so hören sie tatsächlich zwei verschiedene Kunstwerke; wie sie zwei verschiedene Regenbogen sehen, wie tatsächlich die Einheit des Regenbogens gar nicht vorhanden ist. Und wenn sie gegeneinander polemisch werden, so hat ihre Polemik gar keinen Sinn; denn obschon sie felsenfest davon durchdrungen sind, daß sie über dasselbe debattieren, so streiten sie doch über zwei verschiedene Dinge. Und die Sucht, einem anderen sein eigenes Musikurteil plausibel zu machen, heißt gar nichts anderes, als ihm seine eigenen Ohren aufsetzen, seine eigenen Nerven einnähen wollen. Es gibt da kein Recht- und Unrechthaben, es gibt keine Überlegenheit des Fachmannes, es gibt keine Bekehrung, kein Nachgeben und kein Überwinden, es gibt nur das Jenseits von Richtig und Falsch, dem Kunstwerk gegenüber, das als Ding an sich jenseits von schön und häßlich steht.
Die Rezeptivität des Individuums ändert sich beständig und mit ihm das Produkt, der Wert, der sich aus ihm und dem Kunstwerk zusammensetzt. Strenger werden heißt: seine Rezeptivität verringern. Wir finden den Gesamtwert kleiner und verlegen das Minus ins Objekt. Auch der Kunst als Gesamterscheinung gegenüber gibt es ein Strengerwerden in der Summe aller Empfangsorgane. Gesetzt die gesamte Empfangsstärke der kultivierten Menschheit, der Kunst als Einheit gegenüber, bewegte sich in einem Decrescendo, so müßte sich auch das Gesamtprodukt, der Totalwert der Kunst, ihre Bedeutung für die Menschheit, verringern. An anderen Stellen dieser Untersuchung begründe ich, daß jene Voraussetzung in der Tat zutrifft. Die gesamte Kunstempfangsstärke bewegt sich auf dem absteigenden Ast zugunsten anderer rezeptiven Kräfte, die sich in der aufsteigenden Linie befinden. Diese anderen Kräfte liegen vorwiegend im Gebiet der Wissenschaft, der Technik, der Sozialpolitik, der materiellen Weltinteressen. Bleibt es bei dem Crescendo auf dieser Seite – und hier setze ich getrost die Gewißheit für die Annahme – dann ist das Diminuendo auf der anderen Seite unweigerlich gegeben, nach dem Naturgesetz von der Erhaltung der Kraft, das für die rezeptiven Fähigkeiten genau so gelten muß, wie für die bewegende Energie. Dann muß aber auch beim Niedergang des einen, des Empfangsfaktors, unser Hauptprodukt nach Null konvergieren. In letzter Konsequenz gedacht: der Gesamtkunstwert fällt, und es muß in ferner Zukunft der Zeitpunkt eintreten, in dem die Bedeutung der Kunst erlischt; der auf sich selbst gestellten Kunst, die wir unter dem Kennwort: L'art pour l'art begreifen. Wie ich ausdrücklich hervorhebe, ist der Beweis nicht schlüssig für Skulptur und Baukunst, da ja deren Wesen nicht rein und ausschließlich auf Emotionelles gerichtet ist und zum Teil auf das praktische Bedürfnis übergreift.
Für die übrigen Künste aber möchte ich vorweg und vorbehaltlich weiterer Begründung eine Wahrscheinlichkeitsskala aufstellen: die Musik, als die unsubstantiellste aller Künste, wird zuerst verschwinden; längere Lebensdauer verspricht die Malerei; und für jedes Jahrhundert der Malerei können wir die Dichtkunst getrost mit einem Jahrtausend versichern.