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Im Gegensatz zu den Pionieren der Kultur und Wissenschaft treten die modernsten Musiker, die Neuland betreten und erobern, als Konquistadoren auf, also zunächst mit der obligaten Willkür und Grausamkeit. An Zahl sind sie stark, und es befinden sich zweifellos bedeutende Talente unter ihnen. Vielleicht zu viele, als daß eines als Genie angesprochen werden könnte. Denn das Genie ist einsam und zieht an einem Strange für sich. Hier zerren alle auf derselben Seite und vermuten das Heil alle in derselben Richtung. Zur Betrachtung wähle ich nicht den erfolgreichsten, nicht Richard Strauß, sondern denjenigen, der mir in der vorgefaßten Linie als der konsequenteste und extremste erschien, nämlich Claude Debussy. Aus der Schule der neutönenden Auflöser, die durch die Namen Max Reger, Vincent d'Indy, Fauré, Charpentier usw. bezeichnet wird, ragt er mir noch heute als programmatische Persönlichkeit hervor. In seiner Methode erkennen wir klar, daß darin das rein musikalische Prinzip definitiv aufgegeben ist und durch physikalische Errechnungen ersetzt werden soll. Um ihn hat sich eine Geheimkaste von Verstehern gebildet, aus deren Orakelsprüchen das eine hervorgeht, daß er zugleich ein hochraffinierter und ein tiefprimitiver ist. In einer okkulten Tonwelt arbeitet er mit motivischen Schatten ohne Gliederung. Kein Wunder, daß ihm auch seine Verehrer nur okkulten Weihrauch darzubringen wissen. Ich unterdrücke für den Moment mein persönliches Werturteil und will hier lediglich zitieren. Also man höre, wie sich ein Unentwegter über den Neutöner äußert: »Ein Klang ist eine Verbindung von 16 Aliquottönen, wenn wir also einen Dreiklang anschlagen, erklingen nicht drei, sondern dreimal 16 = 48 Töne« (in Parenthese bemerkt: jeder Physiker, der mit Obertönen Bescheid weiß, wird diesen Satz als blanken Unsinn festnageln). »Wir« (d. h. wir gewöhnlichen Musiker) »empfinden 16 Töne als Klang, Debussy aber empfindet erst 48 Töne als einen Klang. Daraus ließe sich das physiologische Rätsel erklären, warum er angeblich auf die Melodie verzichtet. Nämlich so: man erkennt bei Debussy die Melodie, wenn man sie gleichzeitig horizontal und vertikal anhört; und zwar zuerst horizontal und erst zweitens vertikal« (aber das erstens und zweitens nicht getrennt, sondern akustisch zusammen). »So gehört, erscheint Debussy als ein großer Künstler, obschon seine Musik uns noch auf die Dauer langweilt, quält und martert.« Diese Empfehlung geht von dem nämlichen Versteher aus, dem wir folgen müssen, um für die Offenbarung Debussys in den Stand der Gnade zu gelangen.
Aber in all diesem Gallimathias steckt ein beachtenswerter Kern. Im letzten Ende läuft es nämlich darauf hinaus, daß ein begabter Musiker schon heute instinktiv daraufhin arbeitet, zu jenen gänzlich gestaltlosen Klangmassen zu gelangen, deren Bedeutung ich in der früheren optophonischen Betrachtung entwickelt habe. Ich begrüße ihn daher als ein Glied in meiner Beweiskette.
Auf den Grad des Genusses kommt es dabei nicht an. Es gibt keinen Debussyaner in dem Sinne eines Mozartianers, Schumannianers oder Wagnerianers; es gibt keinen, dem aus seinen extremen Schöpfungen eine bestimmte greifbare Stelle gegenwärtig oder gar ans Herz gewachsen wäre. Auch nicht unter den Kritikern, die sich für ihn als Herolde etabliert haben. Die Kritik wartet heute nicht mehr, bis ihr von einer Gemeinde das Mot d'ordre zugerufen wird. In der überwiegenden Menge ihrer Vertreter befolgt sie vielmehr nur die eine Parole: um des Himmels willen nicht wieder so eine Blamage, wie zur Zeit der Wagnerschen Reform! Damals in den Anfängen der Reform wurde ein Großer verkannt – nie wieder darf das vorkommen! Und so verschlucken wir denn den denaturierten Spiritus eines neuen Reformers mit dem tapferen Gedanken: es schmeckt grauenhaft, aber vielleicht ist dies das Wahre!
Es ist ermittelt worden, daß Claude Debussy, der ohne Melodie, ohne erkennbare Harmonie, ohne Thema, ja ohne Motivansatz arbeitet, seine Schöpfungen auf Grund der Ganztonleiter aufbaut. Das hat noch keiner vor ihm gewagt. Wirklich nicht? Ach, ihr Herren Versteher, da habt ihr doch wohl ein Datum aus den Musiktabellen übersehen. Die Ganztonleiter bildet nämlich die Basis für die Musik mehrerer wilder Völkerschaften, zumal der Sotoneger!
Aber das wäre ja eine Rückbildung? Debussy wäre der letzte gewesen, sich gegen eine solche Annahme zu wehren. Er verkündete sogar ganz unabhängig von der höchstmodernen Richtung seiner Partituren die Notwendigkeit solcher Rückbildung, freilich nicht mit Berufung auf die Sotoneger, von denen er vermutlich gar nichts wußte, sondern mit dem Kulturpostulat: Revenons à Rameau! Er hatte eine ganz klare Vorstellung davon, daß das Ziel der Tonkunst in den Anfängen liegt, beim Nullpunkt. Erinnern Sie sich dabei meiner Ausführungen über die verschiedenen Unendlichkeitsgrade: hier haben wir eine solche Unendlichkeit niederer Art, nämlich die Unendlichkeit des Kreises, der in sich zurückkehrt. Dabei ergibt sich noch eine Nebenfolge: das Neueste und das Älteste in der Musik vertragen sich so gut, wie die beiden Klingen einer Schere; sie bilden zusammen ein Instrument, fügen einander trotz scheinbarer Gegnerschaft keine Verletzung zu, zerschneiden aber alles, was dazwischen kommt.
Ein modernes Genie mit beschränkter Haftung hat die Gleichung aufgestellt: Salome verhält sich zu Elektra wie die Zauberflöte zum Tristan. Wie wird wohl die zukünftige Musik klingen, die sich zu Pelleas und Melisande verhält, wie der Tristan zur Zauberflöte? Daß sie in naher Zeit kommen muß, ist ja sicher, und ebenso gewiß, daß sie der Tonkunst der Mongolen und Kalmücken näher stehen wird, als dem Fidelio. Aus dieser Vermutung spricht ganz entschieden keine reaktionäre Anschauung, sondern im Gegenteil eine recht fortschrittliche. Wird nun diese für unsere Vorstellung noch horrende Zukunftsmusik eine höhere Stufe bedeuten? Nein, nur eine andere im Gebiete des Jenseits von Schön und Häßlich, eine zeitliche Notwendigkeit, eine weitere Etappe auf dem Wege zur Vernichtung des Begriffs unserer Musik, an deren Stelle eine andere, uns völlig unbekannte Kunst treten wird.
Vor kurzem war ich Zeuge eines eigenartigen akustischen Experiments: die Walze eines Phonographen, die ein melodiöses Tonstück aufgenommen hatte, wurde verkehrt abgedreht, so daß der letzte Ton zuerst, der erste zuletzt erschien und sich die ganze Musik sozusagen in ihr Gegenteil verwandelte. Takt, Rhythmus und Tonalität gingen in dieser komplett sinnwidrigen Tonfolge zugrunde, wie es ja bei einer absichtlich konstruierten Klangfratze nicht anders zu erwarten war. Unter den Zuhörern befand sich ein dekadenter Tonkünstler, dessen Nerven auf jenen Kunstgenuß anders reagierten, als die unsrigen. Er gab zwar zu, daß das verkehrt wiederholte Tonstück einen Stich ins Grotesk-Komische besäße, fand jedoch in seiner Abenteuerlichkeit einen interessanten, ungewöhnlich originellen Wertzuwachs und erklärte schließlich, daß ihm die überraschenden Intervalle der Produktion eine bedeutsame Anregung für sein eigenes Schaffen geliefert hätten. Ich zweifle nicht daran, daß dieser Ultraempfinder schon heute eine größere Komposition im Stile des verkehrten Phonographen unter der Feder hat; und wenn er nur noch ein gutes Pronunciamento hinzufügt, etwa »Kehren wir zu Palestrina zurück!«, so wird er eine Anhängerschaft finden und uns nach Maßgabe seiner Kräfte dem unvermeidlichen Ziele eine Strecke näherführen.