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Das ewige Feuer glüht nur in der Wissenschaft. Alle Helligkeit in ihr seit Thales und Aristoteles ist nur ein erstes Aufflammen, und jeder Strahl, den sie entsendet, verdunkelt irgend ein Kunstelement. Sie legt Beschlag auf die Interessen und leuchtet in Gebiete hinein, die Helligkeit nicht vertragen können. Denn die Kunst lebt von Illusionen, nichts in ihr ist erweislich richtig, alles jener holde Wahnsinn, der den Dichter begeistert und der vom Dichter gefeiert wird. Das »nullum ingenium sine dementia« gilt nur in der Kunst. Noch schwingen mächtige Saiten in uns, die eine willige Resonanz abgeben für diese dementia; noch reagieren wir freudig auf sie, und wenn uns der Wohllaut der Lyrik, die Teufelsmagie des Faust, die Widerspruchswunder der Nibelungen entgegentreten, so empfinden wir den Widersinn noch als zeitliche Notwendigkeit des Entzückens, und wir wollen in solchen Momenten nichts von der Richtigkeit eines Keplerschen Gesetzes oder einer Logarithmentafel wissen. Aber essetai hemar! Einst wird kommen der Tag! Nicht bedeutungslos ist es, daß die Wahrheit auch in der Kunst immer größeres Terrain der Lüge abgewinnt, daß sie im Drama den wirklichen Menschen verlangt, in der deklamatorischen Musik die Richtigkeit des Ausdrucks betont, durchweg die Charakteristik über die Schönheit stellt. Es sind Wissenschaftselemente, Tropfen der Erkenntnis, die in die feinen Poren der Kunst eindringen, dort kristallisieren und mit tückischen Molekularkräften gegen das zarte Gewebe arbeiten.
In der Formalästhetik haben wir eine dieser Kräfte erkannnt, die sich gegen ihren Lebensnerv verschworen haben. In mächtigem Abstand von ihr zeigt sich ein weiterer Feind, der aus dem Lager der Evolutionstheorie heranrückend, der Kunst auf einer andern Seite in die Flanke fallen will.
Herbert Spencer hat in seinen »Essays« den ersten Anlauf genommen, das Entwicklungsprinzip nach Darwinscher Methode in die Kunst einzuführen. Er gibt nur die Anfänge. Aber am Ende seines Weges wird die Erkenntnis stehen: Schön und Häßlich sind nur Umdeutungen für Nützlich und Schädlich. Alles, was uns heute schön erscheint, war in der Urstufe etwas Nützliches, sei es für die Erhaltung des Individuums, sei es für die Fortpflanzung der Gattung. Und die wichtigste Funktion, die hier in Betracht kommt, ist die Erregung des Geschlechtszentrums. Der Vogelgesang, der diese Funktion noch heute unverhüllt ausübt, ist der paläontologische Rest, den uns die Natur zur Erforschung dieser Entwicklungskette darbietet.
Aus diesem Ansatz einer Theorie schimmert uns vorerst nur ein äußerst schwaches Glimmen entgegen; nicht so hell, als das Funkeln eines Glühwurms im nächtlichen Urwald, bei dessen Schein wir uns über die Topographie des Landes orientieren sollen. Aber es ist doch der Anfang einer Erkenntnis, der nur einmal ausgesprochen zu werden braucht, um der Fortsetzung sicher zu sein. Die ungeheure Schwierigkeit des Problems bedingt nichts anderes, als ungeheure Zeiträume zu seiner Bearbeitung, und mit solchen Zeiträumen ist die ewige Zukunft nicht in Verlegenheit. Daß die Nützlichkeit auf anderen Wegen zur Moral erstarrt, wird der Folgezeit als eine Binsenwahrheit erscheinen. Hier ist das ganze Gebiet dem Beweise zugänglich, und dieser Beweis drängt alle Ethik vom Boden des kategorischen Imperativs auf den des gattungserhaltenden Vorteils. Was vom Einzelfall für die Lebenspraxis der Menschheit verallgemeinert als ersprießlich erkannt wird, gilt als sittlich; was in dem nämlichen Sinne schädlich erscheint, wird in gehäufter und vererbter Vorstellung als unsittlich verfemt. Daher die Unsicherheit des Moralbegriffs und dessen Wechsel nach Zeit, Klima und veränderten Lebensbedingungen. Und man kann nicht behaupten, daß der Moralbegriff durch diese Erkenntnis an Göttlichkeit und Kunstwert gewonnen habe; denn er erscheint nicht mehr durch ein Transzendentes gehoben und verklärt, sondern durch den Egoismus belastet und herabgezogen.
Wenn aber dereinst auch die Kunstschönheit als aus dem Erdreich der Nützlichkeit erwachsen und mit Egoismus gedüngt erkannt wird, dann muß auch ihre Herrlichkeit erblassen. Diese Erkenntnis und noch viel mehr die fortgesetzte Gewöhnung an diese Erkenntnis führt nicht über die Spitze des Parnasses hinweg zu lichten Himmelshöhen, sondern in die Niederungen der Notwendigkeit. Die Kunst ist dann nicht mehr absolut für die Kunst vorhanden, schwebt nicht als ein Erhabenes über uns, sondern liegt in der Ebene des Lebens, koordiniert mit Gattungserhaltung, Fortpflanzung und förderlicher Erregung des Geschlechtszentrums. Nicht die heilige Auffassung Wolfram v. Eschenbachs setzt sich durch, sondern die brutale Theorie Tannhäusers. Und so ahnen wir, daß aus einer vorläufig dunklen Ecke der Wissenschaft abermals eine Gewalt hervorbrechen wird, die sich mit andern Gewalten zu einem Pogrom auf den Kunstwert verbündet.
Wenn diese vorerst nur in den leisesten Anfängen vorhandene Theorie Ausdehnung, Vertiefung, System gewonnen haben wird, wenn die Linien einer Melodie, der Wohllaut eines Gedichtes annähernd so als Sexualcharaktere begriffen werden, wie die Buntheit eines Vogelgefieders oder Schmetterlingsflügels, dann wird vielleicht der archimedeische Punkt der Kunsterkenntnis erreicht werden. Etwas allgemein Anerkanntes könnte dann endlich aus der Flut der Polemik emportauchen. Nämlich ein absolutes Wertmaß in dem Sinne, daß diejenige Kunstgattung am höchsten bewertet wird, die nachweislich am intensivsten die Geschlechtszentren anregt, im Zuge der Arterhaltung die wirksamsten biologischen Impulse geliefert hat. Und es verschlägt dann nichts, wenn diese Erkenntnis in eine Zeit fällt, die den Reiz des Melodiösen selbst vollständig überwand und die Gefühlslyrik als eine Reinkultur des Unsinns begriff. Abgestorbene Werte werden dann ringsum das Museum der Kunst erfüllen. Aber in diesem Museum wird Einheit und Wissenschaftlichkeit herrschen, und die Betrachter werden ganz genau wissen, wieviel jede einzelne Nummer im Haushalt der entwickelnden Natur wert gewesen ist.
Eine nicht zu unterschätzende Stütze für diese Ansage liefern uns indirekt diejenigen Sinne, welche sich niemals zu einer Kunstschönheit emporgearbeitet haben, nämlich der Geruch und der Geschmack. Beide sind stationär geblieben aus dem Grunde, weil sie von Anbeginn den Zusammenhang zwischen dem Angenehmen und dem Nützlichen, hygienisch Fördernden unmittelbar erkannt haben. Nur in verschwimmenden Dichterträumen fließen die Interessensphären sämtlicher Sinne durcheinander. In E. T. A. Hoffmanns Impression wird die rote Nelke zum Waldhorn. Sein Kapellmeister Kreisler droht, sich mit einer übermäßigen Quinte zu erdolchen, er trägt dabei einen Rock in Cis-Moll und einen Kragen in D-Dur. Hans v. Bülow verlangte, daß gewisse Stellen röter oder grüner gespielt werden, und wenn man sich ein Orchester vorstellt, das dieses Kommando vollständig begreift, so könnte man sich mit einiger Anstrengung auch eine Geruchs- oder Geschmackssinfonie als in Zukunft möglich denken. Aber diese Prognose soll ausgeschaltet werden. Zwischen rot und A-Dur, grün und Cis-Moll, zwischen Auge und Ohr kann schon heute ein gewisses Illusionsverständnis walten. Geruch und Geschmack haben zu sehr mit der Nützlichkeit Bekanntschaft gemacht, um sich in visionären Ahnungen zu ergehen. Sie trugen von jeher die wissenschaftliche Kontrolle mit sich herum und waren somit niemals in der Lage, die Illusion zu pflegen. Beide kennen die Kunst nur als eine gewisse Verfeinerung ihrer Genüsse in höchst engen Grenzen. Die Nachbarsinne, Ohr und Auge arbeiten von Natur aus ohne solchen Kontrollapparat. Erst durch den erkennenden Verstand werden sie gezwungen werden, sich mit jenen Zusammenhängen abzufinden, für deren Wahrnehmung in ihrer sinnlichen Konstruktion kein Nerv vorhanden ist.
Wann dies geschehen wird? Sie werden im Ernst auch eine annähernde Schätzung von mir nicht erwarten. Ebenso wie bei der Abmessung der Weltdistanzen der Kilometer versagt und an seiner Stelle die Sonnenferne, die Lichtsekunde und das Lichtjahr eintritt, wird man wohl auch hier statt des Zeitjahrs und Zeitjahrhunderts eine übergeordnete Einheit zu Hilfe rufen müssen. Meine ernste Untersuchung soll aber nicht in eine Zahlenspielerei ausarten. Wir haben hier, kurz gesagt, mit Verstandesepochen zu rechnen. So wenig der Mensch der Tertiärzeit befähigt war, ein verwickeltes System von Gleichungen zu übersehen und auszurechnen, so wenig sind wir heut imstande, von dem Ansatz einer Kunstevolutionstheorie das Endresultat in ausreichend klarer Beleuchtung zu erkennen. Der Intellekt steht da vor verschlossenen Fächern. Deren Öffnung wird erst möglich sein, wenn sich die Geistesschärfe der Zukunftsmenschen zu der feinstgeschliffenen von heute verhalten wird wie der eines Helmholtz zu der eines Pfahlbauern.
Die tausend Jahre der Überschrift dieses Buches sollen daher nur eine Sprachformel sein, die auf ihren Zahlenwert nicht geprüft werden darf. Sie sollen nur eine Fernprognose darstellen, die immerhin größeren Anspruch auf Zuverlässigkeit erhebt, als jede Nahprognose. Unsere Vorahnung, die beim nächsten Hindernis nicht um die Ecke kann, vermag im Weitflug Wunderbares zu leisten. Mit freiem Auge können Sie von Ihrem Fenster aus den Polarstern erblicken, aber wenn Sie von Berlin bis Magdeburg sehen wollen, so hilft Ihnen kein Teleskop der Welt. Und so leiden fast alle prognostischen Aussprüche an einer kärglichen und engherzigen Nahbegrenzung. Napoleon mußte mit seinem Wort, daß Europa in fünfzig Jahren kosakisch oder republikanisch sein würde, ins Unrecht geraten, nicht weil er prinzipiell daneben griff, sondern weil er zu kurz limitierte. Die Alternative »republikanisch« wird wahrscheinlich richtig sein, wenn die fünfzig Jahre zu fünfhundert erweitert werden. Und Bellamys soziale Verheißung, die in weniger als achtzig Jahren fällig ist, wird sich den Einlösungtag auch noch um eine tüchtige Zeitstrecke prolongieren lassen. Wer prognostizieren will, darf mit den Jahrhunderten nicht knausern.
Er darf aber auch an keiner Erscheinung des Gegenwärtigen hängen bleiben und muß mit dem Mut zur Zeitdimension auch den Mut des Opfers aufbringen. Er muß vor allem die vertraut und lieb gewordene Vorstellung von irgendwelcher Dauerhaftigkeit von sich werfen. Der Kirchenvater, der sich die ewige Seligkeit als ein ewiges Psalmensingen vorstellt, ist hierin weitsichtiger, als die Verfasser der meisten prognostischen Bücher irdischen Inhalts. Wir besitzen eine französische Utopie aus dem achtzehnten Jahrhundert, deren Verfasser die Wende des Zwanzigsten romanhaft zu prophezeien unternahm. Aber seine Romanfiguren fahren in der Zeit der Blitzzüge mit der Postkutsche und verständigen sich für die dringlichsten Angelegenheiten durch Briefe. Bellamy erblickt die Zukunft der Tonkunst in einem Telephon, das ans Bett angeschraubt wird und um acht Uhr früh den Schläfer mit einem entzückenden Adagio aufweckt. Er addiert einfach die ihm bekannten Elemente: Bett, Telephon, Adagio, und glaubt so eine künstlerische Ferne erraten zu können.
Das kann er nicht, und das kann keiner, der nur graduelle Treppen in die Zukunft hineinbaut. Ob ich die Postschnecke mit dem Nebengedanken einer gewissen Beschleunigung verewige, oder ob ich am Adagio festhalte, das ist im Grunde ein und dasselbe. Die erste Frage muß vor jeder Ansage lauten: wird es das überhaupt noch geben? und die Grundfrage: »wird das Substrat der ganzen Erscheinung, in unserem Falle, wird die Kunst überhaupt noch existieren? wird sie im Ablauf der Weltgeschehnisse mehr bedeuten als eine Episode?«
Ich verneine die Frage, und ich glaube genug Argumente aufgefahren zu haben, um die Verneinung ziemlich schlüssig zu gestalten. Von allen Seiten sind die Erkenntnisgründe herbeigekommen, aus der exakten und biologischen Wissenschaft, aus der historischen Betrachtung, aus alten und neuen Gesetzen, aus der Kunstentwicklung selbst, um uns konzentrisch auf diesen Punkt hinzudrängen. Und nicht als grausige Gespenster haben sie das Lager der Kunst umkrochen, um sie mit schlimmem Verhängnis zu schlagen; denn das Prinzip der pathologischen Entartung, der Fäulnis, des Marasmus, ist in diesen Untersuchungen nicht ausschlaggebend gewesen. Wir haben die Kunst, speziell die Musik, in der Hauptsache nicht als krank oder verwesend erkannt, sondern als endlich und von Urbeginn zu begrenzten Funktionen berufen. So mag sie in Schönheit sterben, die in Schönheit lebte, die Tonkunst der Opern und Konzerte; wie ein Ideal sich verflüchtigt, unbetrauert, nachdem es seine Sendung erfüllt hat.
Einst wird kommen der Tag. Aber dann wird sich ein neues Feld aufgetan haben für irgend ein Etwas, das aus unserer Kunst herauszuwachsen bestimmt ist, wie die Blüte aus dem Samenkorn. Wollen Sie auch dieses Unbekannte Kunst nennen, so ist nichts dagegen einzuwenden. Nur müssen Sie sich dessen bewußt sein, daß es alle Elemente, mit denen wir heute operieren, die Tonhöhe, den Rhythmus, die Herkunft aus dem Instrument, die Fixierbarkeit in Noten, das Schwingungsverhältnis, ja, wahrscheinlich sogar die Klangqualität abgestreift haben wird. Es wird eine Gehörkunst sein, deren Offenbarungen aus der Natur, aus dem Raume direkt, ohne konzertante Vermittelung in den Sinn überfließen wird. In der Schwesterkunst, der Malerei, wird das Übergangsstadium dadurch gekennzeichnet werden, daß die »Gemäldespeicher« verschwinden, die Museen und Kunstausstellungen, gegen die sich das verfeinerte Auge schon in einer nahen Folgezeit mit der gleichen Heftigkeit auflehnen wird, wie sich unser Ohr gegen ein Konzert mit hundert gleichzeitig gespielten Programmnummern sträuben würde. Auf einer weiteren fernen Stufe wird die Malerei zu einer uns noch gänzlich unvorstellbaren Augenkunst werden, ohne Bilder überhaupt, gewonnen und empfunden durch persönliches künstlerisches Erlebnis aus der Natur und deren transitorischen Licht- und Farbenvorgängen. Ansätze zur Empfänglichkeit für solche optische Erlebniskunst jenseits von Pinsel und Palette sind schon heute in bevorzugten Künstleraugen vorhanden. Ein Anlaß mehr, um der Prognose alle Flüge freizugeben: Ausgebildet und auf weite Kreise verallgemeinert wird solche transzendente Erlebniskunst dem optischen Genuß Gebiete erschließen, in die der reproduzierende Apparat des Kunstmalers gar nicht einzudringen vermag. Die Menschheit wird dann anfangen, mit ihrem eigenen Temperament die Natur zu sehen und in ihr die Stimmungen der Weltseele künstlerisch zu beobachten. Und wenn der Tastsinn so weit verfeinert ist, daß er aus den Pünktchen der Phonographenwalze die Zäsur eines Gedichtes herausfühlt, dann wird ihn der Kunstverstand schon durch Entdeckung einer neuen Poesie überflügelt haben; einer Lyrik, die aus dem Rauschen des Waldes und aus dem Auge der Kreatur hohe Kunstwerte jenseits von Papier und Druckerschwärze gewinnen wird.
Heute stehen unsere Künste, wenn auch mit verschwimmenden Grenzlinien, so doch unvermischt nebeneinander; bisweilen in Symbiose oder mechanisch gemengt, aber nicht chemisch verbunden. In ihrer dereinstigen Feinheit können die Gehörraumkunst, die Augenkunst und die wortlose Lyrik geeignet sein, zu einer höheren Einheit zu verschmelzen, die ohne die uns geläufige Emotion, mit uns gänzlich unbekannten Empfindungsqualitäten das Leben durchziehen werden. Und von der Höhe dieser Qualitäten herab wird die Zukunftsmenschheit all die Kunststreitigkeiten belächeln, mit denen wir Vorfahren uns das bißchen Genuß aus Opern, Konzerten, Bildern und Druckbänden verbittert haben.
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Ich sehe voraus, daß mancher mich nach meiner Legitimation für diese Betrachtungen und Untersuchungen befragen wird. Wie soll ich da bestehen? Ich bin kein Musiker, kein Maler, kein schaffender oder ausübender Künstler und gehöre auch nicht der professoralen Zunft an, die aus zwölf kompilatorischen Werken über Ästhetik das dreizehnte baut. Einen Befähigungsnachweis außerhalb der vorliegenden Studie vermag ich nicht zu führen. Meine einzige Legitimation für diese Schrift ist die, daß ich sie geschrieben habe.