Alexander Moszkowski
Entthronte Gottheiten
Alexander Moszkowski

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Parallele aus zwei Jahrhunderten

In Platos Staat finden wir die prophetische Ansage des Sokrates, daß nur »gleichzeitig mit den wichtigsten bürgerlichen Ordnungen die Gesetze der musischen Kunst verändert und neue Musikgattungen eingeführt werden können«. Dieses Wort deutet, richtig interpretiert, auf die ursächliche Beziehung und den innigen Zusammenhang von Kunst und Leben. Was sich den Menschen eruptiv als Schicksal kundgibt, was in ihr Dasein politisch oder sozial eingreift, findet in der jeweiligen Kunst ein abgeklärtes Gegenbild. Um für die nächste Folgezeit den ersten Ansatz einer Prognose zu gewinnen, wird es vorteilhaft sein, die Anfänge des aktuellen Jahrhunderts und die des vorigen in Parallele zu setzen. Die Fortsetzung aus den Anfangsgliedern des neunzehnten ist bekannt; darnach wollen wir die Fortsetzung des zwanzigsten, wenn auch nicht proportional errechnen, so doch analog vermuten.

An der Schwelle des letzten Jahrhunderts steht Beethovens Eroika, in der Reihenfolge ihrer sinfonischen Schwestern die dritte, ihrem Gehalt nach die erste Sinfonie, die uns den ganzen Beethoven enthüllt, die erste Offenbarung einer Instrumentalkunst, die für die gesamte Entwicklung der Musik bis auf unsere Tage bestimmend wirkt. Freilich, die Natur macht keinen Sprung, und die mit ihr wesenseinige Kunst tut es ebensowenig. Man kann die Brücken nachkonstruieren, die Beethovens Eroika mit seinen früheren Sinfonien und mit denen Mozarts und Haydns verbinden, man kann für den tonsprachlichen Ausdruck in Bachs Matthäuspassion Vorbilder auffinden, die es hinsichtlich der absoluten Größe mit dem nachgeborenen Kunstwerk aufnehmen. Und doch verhält sich alles frühere zu jenem späteren, das um 1800 beginnt, wie eine Verheißung zu einer Erfüllung. Es sind nicht mehr bestimmte und begrenzte Empfindungen, nicht mehr Einzelerlebnisse, die in der neuen Kunst ihre Interpretin finden: das ganze Menschheitsepos, die Summe der Gefühle und zur Tat drängenden Leidenschaften, die im Wechsel des Werdens und Vergehens erblühen und welken, sie werden in dem organischen Aufbau der Sinfonien von der Eroika bis zur Neunten mit kosmischer Verständlichkeit angeschlagen und ausgesungen. Der Archimedeische Stützpunkt, er wurde für die Welt der musikalischen Begebenheiten von Beethoven gefunden und für die Kommenden erreichbar gemacht; ein Konvergenzpunkt für alle Strahlen des Genies, so viele ihrer auch nach verschiedenen Richtungen auseinanderstreben; der Kristallisationspunkt für alle Instrumentalkunst des 19. Jahrhunderts, der klar durch alle großen Hervorbringungen hindurchschimmert und seine fortbildende Kraft sicherlich noch für lange Zeiten behaupten wird.

Die Stürme der Napoleonischen Zeit klingen in Beethovens Bonaparte-Sinfonie wieder, sie hallen nach in den Schlägen, mit denen das Schicksal in der C-Moll-Sinfonie an die Pforte pocht bis zu den gewaltigen, die alte Ordnung der Dinge sprengenden Paukenrhythmen der Neunten. Aber auf dem Untergrund der heroischen Begebenheiten in den Freiheitskriegen erwuchs eine neue Empfindung: das Nationalgefühl der Deutschen, und auch dieses verlangte nach tönenden Reflexen, nach einer Musik, die in spezifisch deutschen Seelenschwingungen vibrieren sollte. Sobald aber die Tonkunst nationale Bahnen einschlägt, auf kosmische Prägung des thematischen Materials verzichtet, hört sie auf, im objektiven Sinne das Höchste zu leisten. Das Menschheitsepos verjüngt sich zum Volksgedicht, aus dem Universalschicksal lösen sich die persönlichen Begebenheiten los, die Musik wird subjektiv, sie folgt nicht mehr dem großen Zuge nach außen, sondern verinnerlicht sich. Die romantische Musik, wie sie von Spohr, Marschner, Weber angebahnt, durch Mendelssohn und Schumann (auf besonderer Linie durch Chopin) zur Höhe ihrer Entwicklung geführt wurde, nähert sich in eben dem Grade dem Herzen, als sie sich von der Domäne des reinen Kunstverstandes entfernt. Eine Webersche Sonate, eine Ouvertüre von Mendelssohn, eine Schumannsche Sinfonie gehen nicht bis an die Grenze der durch die Klassizität vorgezeichneten Linien, geschweige denn, daß sie deren Peripherie erweitern; sie suchen das Transzendente nicht außer und über uns, sondern in uns. Jene besondere Fähigkeit der deutschen Volksseele, sich selbst zu beobachten, mit Entzücken ihren Regungen nachzuspüren, diese zu hegen, zu hätscheln und zu neuen Gefühlen groß zu ziehen, findet ihren Widerhall in der Musik jener Meister und der romantischen Schule überhaupt. Noch entschiedener als im Orchester finden wir die lyrischen Merkmale in der Hausmusik, besonders in den Klavierwerken der Romantiker. »Stimmung« ist das Kennzeichen all dieser Lieder ohne Worte, Novelletten, Phantasien, Romanzen, Intermezzi und Variationen, Stimmung, hervorgebracht und gesteigert durch einen sinnlichen Reiz der Erfindung, die der großen Klassiker Motivbildung vielfach erreicht, bisweilen sogar überflügelt und jedenfalls den kalten Glanz der Nachklassiker und Auchklassiker (Cherubini, Hummel, Moscheles) vollkommen verdunkelt.

Aber alle die Zauber der Romantik äußerten ihr Wirken auf einem Boden, zu dem unser Franz Schubert recht eigentlich der Pfadfinder gewesen ist. In den prangenden Girlanden, mit denen die Romantiker den deutschen Musentempel geschmückt haben, erkennen wir die zarten Blüten wieder, die wir dem Schöpfer des deutschen Kunstliedes verdanken. Nur aus dem Wort konnte die Tonkunst die Kraft gewinnen, die sie befähigte, die intimsten Seelenregungen zu künden und zu deuten; und diese Verschmelzung von Worten und Ton, von Begriff, persönlichem Gefühl und Klang, die späterhin zur Haupt- und Staatsfrage der dramatischen Kunst werden sollte, sie vollzog sich auf dem Felde der Lyrik bei Schubert so ungezwungen, so naiv, daß man seinen Gebilden gegenüber alle Vorstellungen von kompositorischer Absicht und Technik fallen lassen muß; eher könnte man sagen: was in Schuberts Geist als gedichtete Strophe einzog, kam aus seiner Seele als Melodie wieder zum Vorschein. Diese Schubertmelodik, in der sich die Verslyrik direkt zur Gesangssprache umsetzte, durchdrang befruchtend und schöpferisch alle Gebiete der Musik; kein Zweig, ob instrumental, ob vokal, der nicht ihre Anregung verspürt hätte. Aber der kräftigste Arm dieser Melodik ergoß sich in das Terrain der Bühnenkunst, bereit, die Ladung aufzunehmen, die als deutsche romantische Oper sich anschickte, mit dramatischer Fracht lyrische Fluten zu befahren.

Läßt sich schon das Wort »deutsche Romantik« in scheinbar widersprechende Begriffe auflösen, die erst durch geschichtliche Umbildung zur Einheit gediehen, so gilt dies in noch höherem Grade von einer so komplizierten Erscheinung wie der romantischen Oper. In Spohrs Jessonda lassen sich noch die Einflüsse der Zauberflöte nachweisen, und Marschners Hans Heiling, Templer und Jüdin, Vampyr, wie Webers Freischütz, Euryanthe und Oberon bleiben im letzten musikalischen Grunde der ersten ganzdeutschen Oper, nämlich dem Fidelio, tributpflichtig. Aber während Beethoven in seinem Bühnenwerk wie in seiner absoluten Musik eine Welt aufsucht, die vom kategorischen Imperativ beherrscht wird, ändert sich bei den eigentlichen Romantikern die Staatsverfassung des Opernreichs dahin, daß die Pflicht mit der Phantasie das Szepter teilt; und in der Regel grenzen sich die Gewalten dergestalt ab, daß der Pflicht die beratende Stimme, der Einbildungskraft aber der Beschluß und die Exekutive zufällt. In das dramatische Gewebe schlagen Elfen, Gnomen, elementare Geister aller Art ihre Silberfäden; die Natur beginnt aus Wald und Quell mit geheimen, dem sehnenden Gemüt trotzdem so verständlichen Stimmen zu reden, Wunder und Beschwörung, Segen und Fluch übernehmen die Regie. Zeitlich parallel mit dieser Romantik, aber im innersten Wesen ihr entgegengesetzt, geht die Entwicklung der italienischen Bravouroper, die ihre Abkehr von der Wirklichkeit nicht im Aufbau einer schöneren Außenwelt, sondern in dem blendenden Glanze forcierter Singstimmen suchte und fand. Wunder hier wie dort; aber während sich das Wunder der deutschen Romantiker an das Gemüt wandte, überfielen die Wunder Rossinis und seiner Nachfolger das Ohr. Und schließlich gesellte sich noch ein drittes Gebilde hinzu, das aus der einen Gattung die Sentimentalität annektierte, von der anderen die Klanghexerei ablernte, das Gemüt mit einer atemversetzenden, auf die Nerven losstürmenden Dramatik zusammenquirlte und sich unter dem Patronat von Meyerbeer und Halevy als »Große Oper« den staunenden Zeitgenossen vorstellte. Abseits und kaum in den internationalen Kampf ums Dasein eingreifend stand die französische komische Oper, die aus besonderen Bedingungen streng organisch erwachsen für unsere Nachbarn die nämliche volkstümliche Bedeutung beanspruchte, wie die Waldes- und Märchenoper bei uns Deutschen.

So war schon in der ersten Hälfte des Jahrhunderts und ganz vornehmlich um die Halbscheide der Zeit ein Kampf der Gattungen vorbereitet, wenn auch die Kämpfer noch undiszipliniert und eher Impulsen als methodischen Regeln gehorchend einander gegenüberstanden. Die Prinzipien als solche hätten wohl auch nimmermehr eine Entscheidung herbeigeführt; der Sieg konnte nur einer überragenden Persönlichkeit zufallen, die alle gesunden und brauchbaren Elemente mit reformatorischer Hand ergriff und zu einer Neukunst umgestaltete. Diese Persönlichkeit war Richard Wagner.

Ein Reformator wäre in jenen Tagen schon derjenige gewesen, der das Glucksche Programm, wie es in dessen Vorrede zu Alceste vorliegt, neu aufgenommen und mit den erweiterten Mitteln der Tonkunst erfüllt hätte. Darüber ging aber Wagner, wenn wir vor allen den Musiker ins Auge fassen, weit hinaus. Er selbst erhöhte das Niveau seiner Zeit, indem er neue Anforderungen an sie stellte. In keiner programmatischen Versprechung konnte das liegen, was Wagner aus innerem Singen und Klingen zutage förderte, kein Drängen der Zeit, kein Ahnen der Volksseele wies auf die Fernen hin, an denen sein tonschöpferisches Genie landete.

Die Sprengung der alten Opernformen, die Auflösung der geschlossenen, scharf umgrenzten Nummern konnte wohl als eine Forderung des Zeitgeistes gelten; auch geringere als Wagner fühlten die Notwendigkeit einer größeren Kontinuität im Aufbau. Bewußt oder unbewußt nahm man Anstoß an den Schranken, die im Verlauf der Handlung künstlich errichtet waren. Die Ausmerzung des Konzertanten und eine durchgreifende Änderung des Ausdrucks traten als Postulate hinzu. Irgend ein starker Musiker hätte diese Forderung erfüllen können, indem er die musikalischen Nähte sorgfältiger verdeckte und die in der bisherigen Opernform klaffenden Lücken mit gefälliger Melodik überbrückte; auch diese Lösung hätte vielleicht auf ein halbes Jahrhundert genügt, soweit das reguläre Opernbedürfnis in Frage kommt. Aber mit jener Hellsichtigkeit, die den wahren Genius auszeichnet, ahnte Wagner, daß der Musikstoff selbst, das Grundmaterial, einer Erweiterung fähig und bedürftig sei. Und so ging er daran, die gesamte ariose und rezitativische Materie der Vorzeit im Feuer seines Genies aufzulösen und einzuschmelzen. Diesen grundstürzenden Akt musikalischer Neuschöpfung, deutlich vorgebildet im Lohengrin, durchgeführt im Tristan, in den Meistersingern und der Tetralogie, unternahm Wagner mit einer bildnerischen Kraft, die ihm als dritter göttlicher Einheit den Platz neben Bach und Beethoven anweist. Es gelang ihm nicht nur, den Musikstoff selbst so vollständig zu verflüssigen, daß er sich den leisesten Regungen dramatischen Fortganges auf das willigste anschmiegte, sondern er schuf sich auch im Orchester ein Ausdrucksorgan, wie es vordem noch gar nicht bestanden hatte. Es wurde zum begleitenden Gewissen des Dramas, als ein polyphones Instrument, das alles den Worten nicht mehr Zugängliche mit beredter Stimme verkündet, das tiefliegende Gewebe der Handlung entschleiert und bis in die geheimsten Maschen durchleuchtet. Hierin erkennen wir das Wesen des Wagnerschen Kunstwerks: die dramatische Idee wird zur Gebieterin erhoben, der Ton vollstreckt den Willen aller Gedanken, der im Vordergrund stehenden wie der unter der Schwelle des Bewußtseins ruhenden.

Ein Menschenalter mußte vergehen, ehe Wagners Werk Gemeingut der Nation werden konnte. Waren doch die Augen gerade der bedeutendsten unter den Mitlebenden nach ganz anderen Sternen gerichtet. Erinnern wir uns der prophetischen Ansage Robert Schumanns von dem Einen, Großmächtigen, der den höchsten Ausdruck der Zeit in idealer Weise aussprechen würde, der uns die Meisterschaft nicht in stufenweiser Entfaltung brächte, sondern wie Minerva vollkommen gepanzert aus dem Haupt des Kronion spränge. Damals stand Wagner bereits mit dem Holländer, der Faust-Ouvertüre und dem Tannhäuser gepanzert genug in der Arena; aber nicht ihm galt Schumanns Hymne, sondern jenem anderen, der bald genug auf sinfonischem Gebiet als Wagners Gegenmessias ausgerufen wurde.

Hätte Schumanns Prognose zwei Namen umfaßt, so würde sie als die erschöpfende Prophezeiung des Jahrhunderts historischen Wert für alle Zeiten beanspruchen. So wie er sie verstand, der das Horoskop nur für Johannes Brahms richtete, enthält sie zwar eine Wahrheit, aber nicht die ganze Wahrheit. Wer wollte es leugnen, daß Brahms in seinem Requiem, in der C-Moll-Sinfonie, im Schicksalslied, in der Nänie und, fügen wir hinzu, in seinem Liederschatze, in seinen Konzerten und Variationswerken neue Geheimnisse der Geisterwelt erschlossen hat? Aber noch steht denen, die Brahms' Sinfonien als die Beethovensche Zehnte und darüber hinaus ausrufen, der Konzern der anderen gegenüber, die hier nur bewundern und verehren, aber nicht recht von Herzen mitlieben; die vor allem die bange Frage aufwerfen: werden sich die Bauten dieses Meisters widerstandsfähig genug erweisen, um der reinen, im Geiste Beethovens fortwirkenden Musik ein genügendes Bollwerk gegen die Wildwasser und Stromschnellen einer weiteren Zukunftskunst zu bieten?

Gab es schon in den sinfonischen Dichtungen von Liszt und Berlioz, in deren Gefolge Tschaikowsky und Saint-Saëns auftreten, einen ungelösten Rest zwischen natürlicher musikalischer Entwicklung und begrifflicher Deutung, so führen die jüngeren und jüngsten der Schule in ihrem Bestreben, der Tonkunst neue Organe anzuzüchten, in eine Epoche, die, wenigstens aus dem Gesichtswinkel der Melodik gesehen, als eine Ära der Mißbildungen erscheint. Während sich bedeutende Erfinder, wie Rubinstein und Max Bruch, sprödere Talente, wie Bruckner und Dräseke, immer noch in den Grenzen der durch natürliche Bedingungen gezogenen Schönheitslinien hielten, schweifen die Heiligen der jüngsten Tage längst auf unkontrollierbaren Gefilden, in denen die bisherigen Gesetze der musikalischen Logik keinen Kurs haben. Was nur gedichtet und geträumt, erklügelt und ergrübelt, philosophiert und spintisiert werden kann, wird von den formsprengenden Meistern der Charakteristik nicht sowohl komponiert als vertont. Ob diese Übermenschen schließlich bei einer neuen Übermusik oder bei einer abstrusen Unmusik landen werden, steht dahin. Was mich persönlich anlangt, so sehe ich da vorläufig eine Fahrt ohne Kompaß und Steuer, bei der Frau Musica wenig Aussicht hat, auf der Insel der Seligen zu landen.

Gestürzt ist auch die letzte Säule, die von entschwundener Melodien Pracht zeugte, Giuseppe Verdi. Nachdem die starken Melodiker der Zeit, Gounod, Thomas, Bizet, ihren Weg vollendet hatten, brachte der Doyen mit seinem Meisterwerk Falstaff eine letzte Erfüllung, und wie es schien, eine neue Verheißung für die Gattung. Es führen viele Pfade zum musikalischen Paradies. Und wenn die Meistersinger einen davon bezeichnen, so zeigt Falstaff sicherlich einen anderen, minder steilen, dem die melodischen Nachfahrer getrost hätten folgen dürfen. Aber die im Konservatorium Gottes erzogenen Jünger, die Mascagni, Leoncavallo, Puccini, e tutti quanti, brachen starkgeistig und schwachmusikalisch mit der Tradition. Sie organisierten den Betrieb eines Warenhauses, worin mit Verismus, Naturalismus, Satanismus und allen sonst erdenklichen ismen gehandelt wird, ausgenommen den Italianismus.

Die allerernsteste und allerheiterste Kunst sahen sich an der Säkularwende in der gleichen Verlegenheit. Auf dem Felde des Oratoriums zehrten die Institute vom Kapital der altklassischen und romantischen Zeit, während die neuen Schöpfungen nach regelmäßig unbestrittenem Premierenerfolg ebenso regelmäßig in den Archivschlaf versanken. Am entgegengesetzten Ende vermochte die musikalische Burleske nicht einmal den Succès d'estime zu wahren, sondern verkrachte mit ihrem gesamten Inventar. Das, was heute unter dem Firmenschild der Operette die Häuser und die Kassen füllt, ist eine neue Gattung, die außerhalb der Kunst steht und als eine Filiale des Variétés mit diesen Betrachtungen nichts zu tun hat. Nur im Zwischenbereich sehen die Anzeichen etwas besser aus: der heitere Fink der komischen Oper, der seit Lortzing und Nikolai aufgehört hatte, Eier zu bebrüten, scheint wieder Samen zu haben.

Vor mehr als hundert Jahren stellte der Musikgelehrte Nägeli die Forderung auf, es solle nie jemand über Sebastian Bach sprechen, ohne vorauszuschicken, daß alles, was er zu sagen habe, nicht der tausendste Teil von dem sei, was eigentlich zu sagen wäre. Das müßte wohl erst recht gelten, wenn man nicht nur über einen Unsterblichen, sondern über das Werk eines Säkulums summarisch zu sprechen hat. Auch die vorstehende kurze Übersicht könnte vor der Wirklichkeit nur dann bestehen, wenn sie stillschweigend mit Tausend multipliziert wird.

An der Schwelle der neuen Zeit stehen keine Freiheitskriege und keine Eroika, keine Bismarcksinfonie und keine Standarte, die den musikalischen Truppen eine historische oder vaterländische Orientierung gäbe. Aus den verklungenen Tagen von Sedan und Versailles ragt einsam der Wagnersche Kaisermarsch herüber. Im übrigen unterließen es die Großmeister der Tonkunst – falls deren noch existieren – vom Kriege und von der Aufrichtung des Reiches Notiz zu nehmen. Haben die politischen Impulse aufgehört? Fast will es so scheinen. Vielleicht ist auch zuviel erreicht worden; vielleicht eignen sich die Völkerprobleme der Gegenwart und nahen Zukunft nicht recht zur Anregung für musische Geister. Die Parolen: Freiheit, Gleichheit, Einigkeit wurzeln nicht mehr im Sehnen, weisen nicht mehr auf verdämmernde Horizonte, sondern sind Gegenständlichkeiten geworden; Verabredungen, die nur noch der letzten redaktionellen Arbeit harren. In unseren Parlamenten und Konventen herrscht die Algebra, die Geometrie, die Statistik. Die Schwärmerei ist verbannt, und wo man nichts sät als Paragraphen, kann als Ernte keine musische Anregung erwartet werden.

So geht denn die Komposition ihre eigenen Wege und verbraucht auf der Wanderung den mitgeführten Proviant, da ihr weder aus einem Heroismus, noch aus einer Romantik neues zufließt. Steuern, Verordnungen, Fraktionspaarung und gewerkschaftliche Fragen lassen sich nicht komponieren. Aber vielleicht die Eroberung der Luft? Die Ausdehnung der Machtmittel zu Lande und zu Wasser? Vernimmt kein Komponist hier das Schicksal, das an die Pforte pocht? Vergebliches Warten. Dem komponierenden Geiste liegt heute noch ein Phaeton näher als ein Flugzeug, ein Geisterschiff näher als ein Dreadnought. Nur in einem Betracht näherte sich der Musikgeist einer politischen Aktualität, in der Losung: unsere Zukunft liegt auf dem Wasser. Sein Ideal ist: Verflüssigung des Bewegungsterrains, bodenloser Untergrund, Blick ins Leere. Eine unvermeidliche Folge der Wagnerschen Methode, die ohne das Wagnersche Genie fortgesetzt, zur Auflösung der Form führen muß. Fast scheue ich mich, hier die Parallele aus zwei Jahrhunderten zu verfolgen, und wenn ich es mit einem einzigen Zuge dennoch versuche, so weiß ich, daß ich mich einer Gefahr aussetze. Indes sei es einmal ausgesprochen, daß die Wagnersche Erlösung auch eine Verdammnis in sich barg; daß es kein ganz bedeutungsloser Zufall war, der dem einzigen Meister im Höhepunkte seines Schaffens alle produktiven Musiker abwandte und alle unmusikalischen Massen zuführte; ja, daß die Instanz der Zukunft den Bayreuther in ein und demselben Urteil als das größte Genie aller Welt- und als den größten Musikverderber aller Zeiten ansprechen wird. Jener Beckmesser Eduard Hanslick, der als Zeitgenosse mit seinem Ohr Unrecht hatte, noch heute nicht Recht bekommen darf, bei uns, die wir unter dem überwältigenden Banne der unerhörten Leistung stehen, er wird im Wiederaufnahmeverfahren vor einem Tribunal der Zukunft als Formalästhetiker den Prozeß gewinnen. So, – und wenn ich jetzt gesteinigt werden soll, muß ich stillhalten.

 


 


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