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Seit der ersten Niederschrift der vorstehenden Betrachtungen haben wir Weltenwende erlebt; den größten Krieg aller Zeiten, Revolution an Haupt und Gliedern, mit ihnen und durch sie in einem Chaos von Neugestaltungen den Niederbruch einer Unzahl von ererbten Vorstellungen, Gefühlen und Trieben, eine unerhörte Götter- und Götzendämmerung. Was hinweggefegt wurde, läßt sich annähernd übersehen, was aus den Trümmern an neuen Geistesenergien, Idealen und Illusionen aufsteigen soll, bleibt auf Jahrzehnte hinaus ein mit unendlichen Sphinxrätseln durchwobenes Gewirr. Um im Duktus der vorliegenden Schrift zu bleiben, werden wir uns die Frage vorzulegen haben, ob deren Grundlagen erschüttert, vielleicht vernichtet worden sind, so daß wir nach der Katastrophe, mit neuen Erkenntnissen bewehrt, zu anderen Prognosen für die Entwicklung der Künste gelangen müßten.
Nun denn! nach gewissenhafter Überprüfung des Textes im Vergleich mit der Kunstgegenwart habe ich von den zuvor begründeten Aussagen nichts Erhebliches zu widerrufen. Im leidigen Gegenteil sehe ich mich vielmehr gedrängt, ihren Grundakzent noch zu verstärken. Und ich habe allen Grund zu der Vermutung, daß mein ursprüngliches Bekenntnis von der Erschöpfbarkeit der Kunst heute nicht mehr als eine persönliche Einzelahnung dasteht. Die Lehre, an den Tatsachen emporgewachsen, durch Erlebtes gestützt, hat eine gewisse Werbekraft entfaltet, und deutlicher als je vordem zeichnet sich auf dem verblassenden Rosarot des allgemeinen Kunsthorizontes die Figur ab, in der das fernblickende Auge eine Märtyrerin erkennt: die Ars moribunda, die todgeweihte, deren Erdenlauf hier ursprünglich auf den noch immer sehr stattlichen Rest von tausend Jahren begrenzt war. Bei vielen Einsichtigen gerate ich kaum noch an Widerspruch, wenn ich die Lebensspanne, soweit sie die Lyrik, die Malerei, die Instrumentalmusik und einige Seitenzweige des epischen Schrifttums angeht, noch beträchtlich einenge.
Der Vorwurf der Rückständigkeit, der reaktionären Strebung, hat sich an meine Ausführungen nur in sehr spärlichem Ausmaß herangewagt. Gerade die modernsten unter den Beurteilern erkannten, daß es im Felde der Erkenntnis keine Rückwärtserei bedeutet, wenn einer sich von unhaltbaren Illusionen befreien will; wenn er mit der Scharfsonde der Kritik in ererbte Dogmen hineinsticht, deren Geltung vorwiegend darauf beruht, daß der sogenannte gesunde Menschenverstand sich das Gegenteil so schwer vorzustellen vermag. Zu diesen Dogmen gehört der Glaube an die Unendlichkeit der Kunst, soweit sie sich auf heutiger Organisationsstufe des Menschen als durch den Begriff der Kunst ausreichend definiert darstellt. Wir haben neuerdings im Gebiet der Wissenschaft ähnliches erlebt. Der uralte Traum von der Unendlichkeit des Universums zerflattert, und an seine Stelle tritt die Realität eines endlich begrenzten Systems. Aber die Relativitätstheorie, die das hinstellt und beweist, arbeitet nicht rückwärts, sondern liefert neue Denkmittel. Und wenn die neue Kunstbetrachtung ebenfalls bei einer Endlichkeit landet, so operiert auch sie mit Methoden, die in die Zukunft weisen, nicht in eine wehleidig bejammerte Vergangenheit. Läßt der Betrachter in den Zug seiner Erörterungen elegische Töne einfließen, so ist er sich dessen bewußt, daß ihm diese Klagerufe durch seine eigenen, niemals zu überwindenden Gegenwartsgefühle erpreßt werden; er selbst nimmt sie nur für lyrische Arpeggien, unter denen die Grundakkorde der Erkenntnis ruhig fortschreiten. Diese selbst sind ganz frei von pessimistischer oder von optimistischer Färbung. Sie werden ausschließlich bestimmt durch den Drang, mit den uns möglichen Ausdrucksmitteln die Kunstschicksale einer fernen Zukunft zu bezeichnen. Wie diese horoskopischen Ergebnisse auf uns als lebende Empfindungs- und Genußmenschen wirken, das ist am Endziel der Betrachtung gemessen ganz bedeutungslos: genau so gleichgültig, wie unsern dereinstigen Nachfahren die Kunst sein wird, für die sie die Organe und das Bedürfnis verloren haben werden.
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Manche Beurteiler kommen von der Vorstellung nicht los, daß Gewaltsamkeiten der Entwicklungsgeschichte, ungeheure Entladungen und Katastrophen sich als Kunstbefruchter geltend machen müssen. Hätten sie Recht, so würden sich auch in den erlebten Zeitabschnitten zahlreiche neue Blütenansätze gezeigt haben, Verjüngungssymptome, Leistungen mit fühlbarer Fernwirkung. In Wahrheit haben wir nur die Bestätigung der alten Selbstverständlichkeit erfahren: Inter arma silent leges. Zu den schweigenden Gesetzen gehören die Kunstgesetze in erster Reihe. Sie verkümmern nicht nur inter arma, während des Waffenpralls, sondern weit darüber hinaus, auf sie bezogen ist der Friede im wesentlichen nichts anderes als die Fortsetzung des Krieges mit andern Mitteln. Gelänge es, die Völkergeschichte in allen Phasen mit den Hebungen und Senkungen der Kunstgeschichte in Parallele zu setzen, so würde es sich klar erweisen, daß die geschichtlich »großen Zeiten« im Kunstsinn der Größe entbehren, und daß die epochalen Höhepunkte der Historie in den zeitlich gleichlaufenden Kunsterscheinungen nur minderwertige Abbilder finden. Die Tatsache, daß die Kunst sich der geschichtlich großen Motive, der Vaterlandsliebe, des Heldentums, des Ehrgeizes und der Kraftprobe bedient und bedienen muß, kann darüber nicht hinwegtäuschen. Denn in der intelligiblen Welt der Kunst kommt es letzten Endes nicht sowohl auf die dynamische Wucht der realen Motive an, als auf die Umbildung zu Schönheitswerten, und in dieser Umbildung versagen die in Druck und Stoß stärksten Motive schon deswegen, weil das künstlerische Bilden in seinen edelsten Hervorbringungen auf Feinheit, Differenzierung und möglichste Abkehr von der brutalen Wirklichkeit gestellt ist. Die von heroischem Waffenlärm tosende Ilias ist ein totes Gedicht gegen die Odyssee, deren Figur zum eigentlichen Kunsthelden erst dort emporwächst, wo sie in freier Menschlichkeit sich aller Attribute aus dem Arsenal der Gewaltsamkeiten entkleidet. Soviel Kunstwerke auch aus dröhnenden Schicksalen der Absicht nach entwickelt worden sind, so zeigen doch gerade die vollendetsten unter ihnen, daß das Dröhnen erst überwunden werden muß, um kunstfähig zu werden. Sie zeigen ferner, daß innerhalb der sehr weit gespannten Endlichkeit der Kunst die historisch starken Motive eine ganz besonders enge Endlichkeit darstellen. Die Kunst will individualisieren und kann sich nicht auf das Dynamische der Masse einrichten. Ein Weltringen, das den Planeten erschüttert, schlägt aus der eigentlichen Kunsterfindung nicht mehr heraus, ja sehr viel weniger, als ein aus dem kleinsten Ausschnitt herausgeschältes Begebnis. Denn dieses läßt sich genial vertiefen, in eine vierte Dimension der Geistigkeit, während die Völkergeschichte aus den Dimensionen der Körperlichkeit nicht herauszubringen ist. Ein Künstler, der das übersieht oder nicht sehen will, verfällt dem Tumult oder dem Sketch. Er legt es auf Häufung an, ohne zu bemerken, daß er nur Bekanntes auf Bekanntes häuft und daß er, anstatt die Wirklichkeit zu überflügeln, weltenweit hinter ihr zurückbleibt. Die dem Menschen eingeborenen Empfänglichkeiten lassen sich nicht multiplizieren oder in beliebige Potenzen erheben; und die künstlerisch längst ausgepreßte Zitrone des Krieges und der Völkerpolitik bleibt unergiebig, auch wenn der Künstler sie mit Werkzeugen bearbeitet, deren Mechanik an Dampfhämmer, Sprenggeschosse und Tanks erinnert.
Zu vielen Dutzenden sind sie hervorgetreten, diese Künstler von vermeintlich gesteigerter Potenz, deren Wirkung sich in Explosionen kundgab; die mit ungeheuer komprimierten Gefühlen losgingen, fest davon durchdrungen, daß es nur auf die Seelenspannung nach Atmosphären gemessen ankommt, und daß die Kunsteignung, das Talent, wesentlich hiervon abhängt. Sie brüllen ihre Schmerzen wie ihre Erlösungsprinzipien in die Welt hinaus, und lassen sich von einem Teil der Kritik attestieren, daß sie ganz vorzüglich zu brüllen, zu ächzen und zu stöhnen vermögen. Was sie in Vers und Prosa, fürs Theater, in Epik, in Ton und Farbe lamentiert, gewerkelt und gepinselt haben, gibt Kunde von dieser explosiven Methode, deren Ergebnisse nicht über den Tag hinausreichen, den Tag nicht überleben können; weil sich mit dem vollen Herzen allein nichts fernwirkendes schaffen läßt, wenn nicht das Gehirn eine entsprechende Fülle von Kunstverstand mit auf den Weg bekommen hat.
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Aber es muß sich doch in der neuen Zeit eine neue Empfindungsresonanz herausgebildet haben, mit neuen Gestaltungskräften und Ausdrucksmöglichkeiten, jenseits der väterlichen Horizonte. Es geht doch in der Kunst nicht zu wie in dem ewig gleich geregelten Ablauf der Jahreszeiten, deren Turnus stets dasselbe Programm abwandelt. Gewiß, die neue Resonanz hat sich angekündigt, und wenn es nach dem Orakel derjenigen gegangen wäre, die mit der Salbung der Propheten hervortraten, so säßen wir etwa seit einem Jahrzehnt mitten in einem Kunstfrühling mit nie zuvor erschauten Schönheitsblüten. Jetzt erst, so flöten und posaunen sie, würden wir inne, daß das Paradies vor uns liegt, nicht hinter uns, daß uns Früchte entgegenwinken, gegen die alle Erfreulichkeiten ehemaliger Lenze als welkes Gemüse erscheinen müssen. Und um den Segen vollzumachen, ergab sich, daß nicht eine vereinzelte Kunst von ihm bestrahlt wurde, sondern alle zusammen, als ob sie in schwesterlicher Vereinigung nur auf ein Losungswort gewartet hätten, um die Ära der Erlösung zu betreten. Dieses Stichwort hieß: »der Expressionismus«.
Zuvörderst zeigt sich der kleine Übelstand, daß die Kunst als solche von »ismen« nicht das geringste weiß, und daß ein Künstler, der sich mit Bekenntnis und Leistung irgendwelchem »ismus« einschwört, sich einem schweren Irrtum, ja einem Widersinn preisgibt. Denn die Kunst ist wie der universale Raum zugleich endlich und unermeßlich, während jeder »ismus« eine feste Richtung bezeichnet, etwas Absolutes; was in der Unermeßlichkeit, als dem Reich der Relativitäten, soviel Sinn hat, wie ein Oben-Unten, Rechts-Links, Vorn-Hinten, also gar keinen Sinn. Wenn überhaupt eingeteilt werden soll, so darf, wie schon Hans von Bülow richtig erklärt hat, die Scheidung nur nach zwei Parteien stattfinden: in die Partei der Künstler, die etwas können, und die der andern, die nichts können. Ein Richtungsprinzip der Künste aufstellen, das ist ungefähr so, als wollte man die Erweiterung der physikalischen Forschung schematisieren oder Regeln für die ars philosophandi mit Mahnung und Drohung, mit Heil und Fluch verkünden. Phidias und Raphael, Aeschylus und Mozart, in beliebig zu verlängernder Folge, waren keine . . . isten. Wer sich darauf versteift, die leidige Endsilbe beizubehalten, der gehe von einer Kategorie aus, die allenfalls als »Talentismus« anerkannt werden darf.
Wir sahen inzwischen innerhalb des Expressionismus und neben ihm in wuchernden Verschlingungen den Futurismus, den Kubismus, den Dämonismus, den Hyperbolismus, Neo-Impressionismus, Bruitismus, Zentrifugismus, Satanismus bis zum Paroxismus. Ich bekenne offen, daß ich mich in diesem Wirrsal nicht zurechtgefunden habe, vornehmlich deswegen, weil ich mich weniger an die vieldeutigen Programme hielt als an die viel eindeutigeren Leistungen. In diesen erkannte ich wesentlich die notwendige und geradlinige Fortsetzung und Verlängerung der Exzentrizitäten und Krampfgebilde, wie sie schon um die Jahrhundertwende hervortraten; und ich brauchte sonach nicht sonderlich zu erstaunen, daß sie mit den im Hauptteil dieser Schrift aufgestellten Programmen recht verträglich übereinstimmen. Nur in einem Punkte hatte ich mich geirrt: ich glaubte nämlich, daß die aus den . . . istischen Ursprüngen hervorsprudelnden Springfluten auf sehr weite Zeiten hinaus alles Gelände überschwemmen würden, während nunmehr, wenn nicht alle Zeichen trügen, diese Schlammwasser bereits abzulaufen beginnen. Schon werden wieder Inseln erkennbar, besonders stürmisch aufgesucht gerade von solchen, die zuerst die Fahne des Expressionismus heraussteckten und die jetzt im Begriffe stehen, sie unter Protest zu verlassen. Seit einem Jahre ist mir kein kritisches Schlagwort so häufig begegnet als der Ruf »der Expressionismus ist tot!« Und ein merkwürdiges Geschick fügt es, daß die Begründungen der Ex-Expressionisten dem Sinne nach ziemlich getreu wiederholen, was schon lange, lange zuvor den Bestand meiner Argumente gebildet hatte. Wenn durch vieler Zeugen Mund die Wahrheit kund wird, so muß es schwer ins Gewicht fallen, daß heute gerade im Lager der von mir Angegriffenen so viele Zeugenschaften für meine Lehre auftauchen.
Bevor noch der Expressionismus sich seine Ikarusschwingen angeleimt hatte, sagte man vergleichsweise einfacher »Sezession«, und mit sezessionistischen Augen betrachtet konnte einer leicht als Banause oder Ketzer erscheinen, der gewisse Extravaganzen der Neukunst auf atavistische Rückfälle in längst Überwundenes zurückführte. Nach meinen Betrachtungen über derlei Atavismen mußte ich eigentlich schärfste Replik aus dem Kreise der Sezessionsgötter erwarten. Aber da erhob sich einer ihrer größten, um aus eigenem Können und Wissen heraus Sätze aufzustellen, die mit den meinigen nahezu parallel gingen. Ich zitiere hier etliche Stellen aus zwei durchaus selbständigen Abhandlungen und verweise im Zusammenhange damit u. a. auf den Absatz »Neutöner« in der vorliegenden Schrift.
». . . . . Nachdem alle diese Kulturen (chinesische, japanische, indische, persische) bis zur Neige ausgekostet waren und die Blasiertheit der überkultivierten Franzosen eine gewissermaßen konzentrierte Primitivität ersehnte, warf man sich auf die kindlichen Stammeleien der Naturvölker. Die jetzigen Bilder der Neger und Malayen, die Malereien auf indischen Zeltdächern, wurden das Ideal in Form und Farbe für diese Modernsten.«
»In allen Arbeiten von Matisse und seinen Nächsten tritt dieses Quellmotiv deutlich zu Tage. Wie es nun immer ist, werden die Nachkommen noch wilder und kommen scheinbar ganz auf die Naturvölker zurück . . . .« »Wie die Extreme sich berühren, und das Ferne und Nahe in ewigem Kreislauf wieder einander trifft, so wird bald die Welt dieser falschen Genialität müde werden. Diese »Modemalerei«, nicht modernste Malerei, wird sich als das entpuppen, was sie in der Tat ist, nämlich als ein Übergangsstadium. Strengste Arbeit und eifriges Studium wird wieder an Stelle der frivolen Ungebundenheit treten, und alle Nachahmung exotischer Negerkunst wird wieder in einem Winkel der Vergangenheit für lange Zeit begraben liegen« . . .
». . . . . Jeder hohnlächelt über die unverständliche Methode (des Kubismus), jedermann sucht das Bild wie im Vexierbild zu enträtseln . . . der Kubismus ist jedenfalls als System genommen das Charakteristischste und Subjektivste aller Systeme und deshalb tötet er von vornherein die Individualitäten aller derer, die ihm anhängen . . . . Sehen wir uns daraufhin eine derartige allermodernste Kunstschau an. Durch alle Räume geht ein durchaus femininer Zug und das Zeichen aller Modernität überhaupt, . . . . eine fatale Ähnlichkeit aller Bilder untereinander . . . . Die weiblichen oder männlichen nackten Figuren der Modernen versetzen einen in Verwunderung, daß sie unter den Kleidern eine solche unmögliche anatomische Konstruktion verbergen können. Selbst die kühnste und ausschweifendste Phantasie eines Zulukaffers kann nach meiner Meinung einen Europäer oder eine Europäerin in ausgezogenem Zustande nicht treffender darstellen.«
»Die höchste Ehrfurcht vor den Meistern der Vergangenheit sollen wir haben; leider gehört es zur Mode, auch diese Pietät verächtlich zu machen. Aber wer keine Vergangenheit ehrt, hat auch keine Aussicht auf die Zukunft, und es wäre dem Verächter seiner eigenen Vorläufer wahrhaftig besser, einen Mühlstein zu nehmen und dorthin zu gehen, wo es am tiefsten ist.«
Klingt diese Fanfare gegen den Modernismus nicht höchst rückständig? ist das nicht die Tonart eines laudator temporis acti, der sich in die klassische Großzeit zurücksehnt, weil ihm vor dem monotonen Gestammel der Gegenwart und der gänzlichen Verwilderung naher Zukunft graut? Aber dieser Protest entrang sich nicht der Seele eines Rückwärtslers, er wurde ausgestoßen von Lovis Corinth, zur Zeit da er selbst als Präsident der Sezession den Zukunftsreigen führte! Ob ich zuvor in meiner prognostischen Schrift vornehmlich die Rückfälle der Tonkunst behandelt hatte, ob Lovis in seinem Corintherbrief weiterhin die barbarischen Atavismen in Zeichnung und Farbe verklagte, das ändert nichts an dem Gleichlauf der Betrachtungen. Ich hatte in den Sotonegern das Modell hingestellt, Corinth zog noch außerdem die Zulukaffern in das Vergleichsgebiet, und nichts wird einzuwenden sein gegen eine Erweiterung der Vorbilder mit Einschluß der Buschmänner, Aschantis, Papuas und Hottentotten.
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Freilich begnügten sich deren europäische Kunstgenossen nicht damit, die alten Modelle zu kopieren. Sie schlossen sich vielmehr zu einer streitbaren Phalanx zusammen, betraten den Kriegspfad und zeigten der gesamten parnassischen Kunst die gepanzerte Faust. Besäßen wir ihre Manifeste nicht schwarz auf weiß in urkundlicher Beglaubigung, so würde keine Phantasie zum tausendsten Teile ausreichen, um uns die Berserkerstimmung dieser äußersten Progressisten auszumalen. Hier in kürzestem Auszuge einige apokalyptische Ansagen, die aus den Futuristenlagern in das messianische Reich der Zukunftskunst züngeln. Wörtliche Anführungen aus Pronunciamentos, die zuerst kurz vor dem Kriege einsetzten und über ihn hinaus bis in die jüngsten Tage hineindonnern. Sie zeigen, wohin die Reise geht, gehen muß, wenn auf dem Kunstschiff Segel und Steuer von respektlosen Fäusten zerrissen und zerbrochen werden.
»Wie die Literatur bisher die nachdenkliche Unbeweglichkeit, die Ekstase den Schlummer gepriesen hat, so wollen wir – die Futuristen – die fiebrige Schlaflosigkeit, den gefahrvollen Sprung, die Ohrfeige und den Faustschlag preisen.« »Wir wollen den Krieg preisen – diese einzige Hygiene der Welt – den Militarismus, die zerstörende Geste der Anarchisten, die schönen Gedanken, die töten, und die Verachtung des Weibes.« »Wir wollen die Museen, die Bibliotheken zerstören. Museen, Kirchhöfe! . . . Ein altes Bild bewundern heißt, unsere Empfindung auf eine Totenurne verschwenden. Laßt sie doch kommen, die guten Brandstifter, mit den karbolduftenden Fingern! . . . Da sind sie! Da sind sie ja! . . . Steckt doch die Bibliotheken in Brand! Leitet die Kanäle ab, um die Museen zu überschwemmen! . . . Ha! Laßt sie dahintreiben, die glorreichen Bilder! Nehmt Spitzhacke und Hammer! Untergrabt die Mauern der hochehrwürdigen Städte!« – –
»Wir wollen die Geräusche vertonen. Das Geräusch ist uns vertraut, hat die Fähigkeit, uns an das Leben zu erinnern. Folgende sind die Kategorien der Geräusche des Futuristen-Orchesters, die wir uns vorgenommen haben, sehr bald auf mechanischem Wege zur Geltung zu bringen: Knurren, Knallen, Tauchgeräusch, Ächzen, Gezisch, Schnarchen, Schnauben, Gemurmel, Gebrumm, Geblöke, Gemurr, Gegrunze, Glucksen, Gequieke, Geklapper, Gestampf, Gekrach usw. usw.«
»Wir haben genug davon! (von Beethoven und Wagner); deswegen finden wir ein viel größeres Vergnügen daran, eine elektrische Trambahn, Auto- oder Wagengeräusche, das Gebrüll schreiender Massen in Gedanken zu kombinieren, als uns zum Beispiel die Eroica oder die Pastoralsymphonie anzuhören!«
Es wäre ein Grundfehler, solche Ergüsse einfach mit dem Urteil »verrückt!« bei Seite zu schieben und sie als bedeutungslos zu belächeln. Denn sie haben gewirkt, wirken fort, und der Dadaismus, – um nur eine Bestätigungsprobe zu nennen, – der Dadaismus in Wort, Klang und Farbe reicht weiter als die meisten ahnen. Er ist nicht nur der naive Blödian, der hier und da aus Feuilletonwinkeln hervorguckt, nicht nur ein billig zu verulkender Ober-Dada, sondern ein nicht mehr zu verkennender Mitarbeiter ernsthafter Zeitschriften, deren Gedichten, Erzählungen und Kritiken er seinen Stempel aufdrückt. Ich widerstehe der Versuchung, dies in Beispielen zu begründen. Sie müßten, um beweiskräftig zu wirken, in kompakter Masse auftreten und würden dann ein Buch für sich füllen. Auch ein starker Band könnte nur andeutungsweise verraten, bis zu welchem Grade die Kunstsprache durch das dadaistische Geknurr, Gestotter, Geklapper und Gequieke bereits verseucht worden ist, durch die Kokken und Spirillen des Ausdrucks, welche nicht nur die Schönheitslinien verkrümmen und schänden, sondern tief in die Struktur des Sprachgewebes dringen und allen Gedanken- wie Gefühlsinhalt in einen brandigen Brei auflösen. Nicht daß der Dadaismus existiert, ist das Grausige, sondern daß er Werbekraft entfaltet, und daß so mancher sich ihm ergibt, den die Angst um die Erschöpfung der Kunst nach einem Betäubungsmittel greifen läßt. Vielleicht erstreckt sich die Angelegenheit ins Physiologische und Pathologische. Auf einem der letzten Naturforscherkongresse wurde nach wissenschaftlicher Statistik mitgeteilt, daß seit geraumer Zeit rund fünfundzwanzig Prozent aller Menschen verseucht zur Welt kommen, mit einer Infektion, die zur Hirnparalyse hinführt. Wenn sich dieser traurige Durchschnitt nicht verbessert, so könnte man den Verdacht hegen, daß die mit ererbtem Kontagium Geschlagenen späterhin das Hauptkontingent für die Gilde der nonsensquiekenden Dichter stellen werden. Und es ist nicht ausgeschlossen, daß eine diagnostisch geschärfte Literaturgeschichte der Zukunft eine besondere Rubrik anerkennen wird: die Paralyriker.
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Ich wäre der Letzte, der es leugnen wollte, daß auch heute noch in gewissen Kunstfeldern die starken und gesunden Kräfte das Übergewicht haben; ja daß sich in einzelnen seltenen Erscheinungen ganz wunderbare, zu neuen Hoffnungen berechtigende Werte offenbaren. Im prosa-epischem Schrifttum ist durch Auserwählte eine vordem ungeahnte Feinheit der Seelenanalyse erreicht worden; in der Musik hat das großorchestrale Denken – nicht das einzelinstrumentale, noch weniger das vokale – neue für Ohr und Kunstverstand ergiebige Möglichkeiten erschlossen; und ganz außerordentliches vollends ergibt sich aus der Methode moderner Geister, den philosophischen Vortrag mit allen Salben der Kunst zu pflegen und Verstandeserzeugnis zum Range selbständiger ästhetischer Gebilde zu steigern. Will man bei der anthropomorphen Unterscheidung nach Höher und Nieder verbleiben, so darf man bekennen: das sind Erhebungen, das sind Fortschritte, und es wäre ungerecht, dieses Zeugnis der letzten Gegenwart vorzuenthalten.
In der Gegenrechnung finden wir als bedrohliches Symptom die Tatsache, daß sich der Zusammenhang zwischen Hervorbringung und der Rezeptivität der Empfänger immer weiter auflockert. Es gibt hierfür nur einen erkenntniskritischen Maßstab: das Gedächtnis, das heißt das Ausmaß dessen, das von den Erzeugnissen in den Empfängern haften bleibt. Alle andern Meßmittel zur Erfassung der Teilnahme und des Interesses, wie etwa die Höhe des Theaterbesuches, die Konzertmenge, die Honorare, Parkettpreise und die Rekords in Einnahmen, sind unzuverlässig und trügerisch; denn sie geben nur Auskunft über die Stärke eines Bedürfnisses, nicht aber darüber, wie sich der Drang durch die Gaben der Neukunst belohnt fühlt. Diese Auskunft erteilt lediglich das Gedächtnis, und es richtet fast auf der ganzen Linie in stillem aber vielsagendem Schweigen. Hat auch nur ein Wort der neuen Dramatik Flügel bekommen, wie sonst hunderte, welche die Sprache und das Denken der Menge bereicherten, die sich zu Kristallpunkten der Menschenrede verdichteten? Welchen Zuwachs hat die unermeßliche strahlende Kohorte der ewigen Sentenzen erhalten? O popoi! Beim Versuch, einen zu entdecken, gerate ich an den geflügelten Spruch des Wedekind »die Welt ist eine Rutschbahn«, und dieses Wort ist garnicht von ihm, sondern von Montaigne. Helft mir weiter, Zeitgenossen! Aber es wird in den sententiösen Eingebungen nicht reicher bestellt sein als in den melodiösen. Nicht eine ist hinausgedrungen, hat Geltung erlangt, keine Melodie, kein Lied seit Brahms, keine charakteristische Phrase, keine erobernde Akkordfolge, ja nicht einmal ein Refrain, ein Couplet, ein Gassenhauer hat sich in neuester Zeit zu wirklicher Popularität durchgesetzt. Es gibt hier keine Volkstümlichkeit mehr. Alles bleibt auf das Internat der Büchereien, Theater, Konzerttempel und Dielen beschränkt, ohne den Weg ins Freie zu finden. Wo es in der Seele des Empfangenden noch murmelt, singt und klingt – und diese inneren Stimmen verstummen nie – da tönt es in der Aufarbeitung der Vergangenheit, in Residuen, die standhaft genug waren, sich noch nicht von der gestaltlosen Flut des Modernsten verschlingen zu lassen.
Auch in dieser Flut mögen Schönheitswerte stecken. Aber immer wird man den Vorbehalt hinzufügen müssen: die Erfindung, die sie gebar, bewährt keine erobernde Gewalt. Sie gefällt oft im unmittelbaren Kontakt, aber sie erweckt mit ihrer Kurzatmigkeit kein lang weiterhallendes Echo. Und was Corinth als den wunden Punkt der Bildnereien bezeichnete: die fatale Ähnlichkeit aller unter einander, das gilt auch in erheblichem Grade von den Schwesterkünsten. Allzu selten geworden sind die Gebilde von eigenem Wuchs, allzuhäufig die Bildner, die uns statt des Ingenium die stammverwandte Insania zukehren; wobei unverkennbar bleibt, daß die von allen Regeln losgebundenen Geister fast durchgängig nach derselben Methode delirieren.
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Gibt es hier ein Recht- oder Unrechthaben? In letzter Instanz muß diese Frage verneint werden, soweit sie sich nämlich auf die Anerkennung oder Leugnung der Schönheitsgehalte erstreckt. Es ist sinnlos zu behaupten, eine Epoche wäre klüger als die vorhergehende, ein Menschenkomplex kompetenter als der andere.
Es gibt immer und überall nur Koordinatensysteme des Urteils, und je nachdem sich deren Achsen verschieben, deren Nullpunkte verlagern, kommen bei der Ausmessung verschiedene Werte heraus. Ein Beispiel statt vieler: In dem Jahrzehnt vor der Märzrevolution herrschte in der Stadt der stärksten Kunstüberlieferung, in Wien, der Liederkomponist Heinrich Proch ganz souverän, während die Göttlichkeiten Franz Schuberts restlos in der Versenkung verschwunden waren; von Schumann, Gade, Löwe, Mendelssohn wurde kaum Notiz genommen. Soll man nun schließen, alle Wiener wären damals kunsttaub gewesen, weil sie nur für die Dudeleien Prochs eine Empfänglichkeit bezeigten? Woher wissen wir, daß der verkannte Schubert ein Gigant war und Proch neben ihm ein lächerlicher Knirps? Aber das ist ja indiskutabel, das wissen wir eben wie zwei mal zwei, nachdem die Welt in den Jahrzehnten bis heute ihr unverrückbares Votum gesprochen hat; an Schubert ist ebensowenig zu rütteln, wie an Beethoven. Auch nicht in späteren Zeitläufen? nein, niemals. Aber da tritt ein höchst scharfsinniger Weisheitsapostel auf, Oswald Spengler, der berühmte Autor vom »Untergang des Abendlands«, der stellt die Ansage auf, daß Beethoven für kommende Kulturen nur noch ein törichtes Gekrächz sein wird. Und diese Prognose entspricht genau den Gedankengängen in dieser »Kunst in 1000 Jahren«. Sie ist für jeden unausweichlich, der überhaupt zu abstrahieren versteht und sich von der kurzen Elle zeitgenössischer Kunstbetrachtung loszumachen vermag. Wenn aber Beethoven ein törichter Krächzer wird, wer bürgt für Schubert? und wer bürgt dafür, daß Proch, der für uns ein sentimentaler Dudler ist, nicht von einer anderen Kultur als ein Großmeister gewertet werden muß? Und wo vor allem liegt der wahre Orientierungspunkt, von dem aus wir schöpferische Größen wirklich messen könnten?
Er ist nicht vorhanden. Es gibt immer nur Mehrheits-Voten mit beschränkter Zeitgültigkeit. Und wenn wir dies anerkennen, gelangen wir zu dem ebenso unausweislichen Schluß, daß in allen Kunsttaxen nur die Zahl regiert, die große Zahl. Dem friderizianischen Wort: »Gott ist immer mit den starken Bataillonen« ist an die Seite zu setzen: Gottes Kunstwahrspruch ist immer bei den starken Bataillonen der Beurteilenden.
Die Frage »Recht oder Unrecht in Kunstdingen« schrumpft also sehr erheblich zusammen. Sie verwandelt sich in eine Frage der Auszählung; und derjenige wird Recht behalten, der den gangbarsten Weg zur Ermittelung der Zustimmenden, Gleichgültigen und Abweisenden nachweist.
Der Weg ist zu finden, wenn man zunächst den klar vor uns liegenden Gedächtnispfad beschreitet. Welche Kunst lebt heute als lebendiger innerer Besitz im Bewußtsein der Mehrheit? nicht in dem Sekundärgefühl: wir wollen etwas mitmachen, um nicht hinter andern zurückzubleiben und eine Konjunktur zu verpassen, sondern in dem ehrlichen Bekenntnis zur Beglücktheit, wie sie sich im Aneignen, im Behalten, im Wogen durch Blut und Saft der Empfangenden kundgibt.
Das ist die Zahl derer, die sich wohlfühlen in einer Kunst mit erfühlbarem Fluß und erkennbaren Ufern; und das ist die Mehrheit.
Die Produktion hat sich stets angestrengt, eine solche Mehrheit zu gewinnen, und nur im Zusammenhang mit ihr bewies sie die Notwendigkeit ihrer eignen Existenz. Richard Wagner, Revolutionär wie keiner zuvor, fand den Halt in der Majoritätsmacht, in der Menge sang es schon wagnerisch, als die Theoretiker und fast alle zeitgenössischen Komponisten ihn verleugneten. Die modernen Neutöner erwecken bestenfalls die Zustimmung zu ihrer Art, aber nicht zu bestimmten Gebilden dessen, was sie schaffen; man begeistert sich für Prinzipe, aber nicht für die Substanz. Um einen extremen Fall zu nennen: es gibt Schönbergianer, aber in keinem klingt es schönbergisch. In die Taxierung ist ein sozusagen wissenschaftlicher Zug hineingekommen: man geht mit, wie man mit der Atomistik mitgeht, mit der Relativitätstheorie und der Auflösung der Substanz in Kraftfelder. Man ist glücklich im Begreifen, schon im Begreifenwollen, und überläßt sich Verstandesoperationen, die mit wirksamen Sinneserlebnissen nichts zu schaffen haben.
In der Tatsache, daß Prinzipien, »ismen« im weitsten Sinne, an die Stelle der festumrissenen, im Gedächtnis wiederholbaren Gebilde getreten sind, erblicken wir das deutlichste Zeichen von der Erschöpfbarkeit der Möglichkeiten. Wir gewahren die vorletzten, vielleicht schon die letzten Versuche, die Peripherie zu durchstoßen, um eine unendliche Jenseitigkeit zu erlangen, wobei dann der Strahl, wie im gekrümmten Raume, seiner Gradlinigkeit zum Trotz zum Ursprungspunkte zurückkehren muß. Daher die verzweifelte Ähnlichkeit der letzten Künste mit den Hervorbringungen der Urvölker. Der Kreis ist nahe daran, sich zu schließen.
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Nur andeutungsweise kann davon gesprochen werden, wie sich die Menschheit in ihrer sozialen und staatlichen Struktur dereinst auf diese unerbittliche Endlichkeit einstellen wird. Wir geraten da an ein System von Gleichungen mit vielen Unbekannten, von denen sich nur wenige in den Kreis des Berechenbaren rücken lassen. Hierzu würde gehören das allmähliche, neuerdings schon merklich beschleunigte Erlöschen der Individualitäten, die sich im nivellierenden Zuge der Geschichtsentwicklung nicht behaupten können. Dieser Zug ist dem der Gesammtkunst schnurstracks entgegenlaufend, denn diese wird durchaus von der Individualität beherrscht, läßt sich nur auf sie münzen und durch sie gewinnen. Goethes zuversichtlicher Ruf »höchstes Glück der Erdenkinder sei nur die Persönlichkeit« ist künstlerisch gedacht und bewährt sich in jedem individuell betonten Kulturkreis, nicht darüber hinaus. Ja, man darf bezweifeln, ob der Begriff »Glück« noch standhalten wird in einer Zukunft, die ihre Befehle ausschließlich von der Notwendigkeit empfangen wird. Sollte sich das Ideal des unübertrefflich organisierten Ameisenstaates dereinst im Menschenstaat verwirklichen, so wird in diesem ein Überbewußtsein herrschen, von dem wir uns ebensowenig eine Vorstellung zu bilden vermögen, wie die Einzelzelle vom Bewußtsein des Gehirns. Der Mensch als Zelle, als Molekül, wird dem Optimum der Masse dienen, allein in seinem Vitalitätsbewußtsein nichts vorfinden, was ihn aus der Realität seines Wirkens in eine Phantasiewelt drängen könnte. Anders ausgedrückt: die Phantasie ist eine Form der Sehnsucht, die nur im Unvollkommenen auftritt, die aber in der Vollkommenheit einer Staats- und Gesellschaftsgestaltung allen Sinn verliert. Wo schon die Wirklichkeit des Lebens alle Triebe restlos erschöpft und befriedigt, da fehlt jedes Motiv zur Entfaltung von Sehnsüchten, die ja nach ihrer Natur an differenzierte Persönlichkeiten, an scharfgeprägte Unterschiede in Kräften, Intellekten, Standorten und Tendenzen gebunden sind.
Zum Glück für die Gegenwartskunst und die noch vorhandenen imposanten Reste ihrer Vergangenheit können wir in diesem Betracht den 1000-Jahr-Maßstab völlig aus der Hand legen. Denn der zeitliche Fernpunkt der gänzlich verlöschten Individualität würde, wenn er überhaupt zu erreichen wäre, so weit hinausrücken, daß ihm ganz andere und weit drastischere Ereignisse zuvorkommen müßten. Die Erde bewegt sich in periodischer Wiederkehr der Eiszeiten, deren Abstände von 20 000 bis 50 000 Jahren kosmisch genommen nur kurze Zeitspannen darstellen. Wenn beim nächsten Kältemaximum alle Organismen zugrunde gehen, so braucht man sich ja um Szenen, Chöre, Partituren, Verse und Bildnisse nicht noch besondere Sorge zu machen. Die nächste Temperaturwelle unterscheidet nicht zwischen Parnassiern und Dadas, sie deckt gleichmäßig alle zu und vernichtet mit derselben Gründlichkeit die etwa noch unterscheidbaren Individuen wie die Zellkomplexe, die sich auf automatische Arbeit einrichten wollen. Und diese Welle wird wiederum in geologischen Zeitlängen von einer anderen abgelöst, die neue organische Bedingungen mitbringt und aus der vergletscherten Kunst eine Neukultur mit primordialen Anfängen hervorgehen läßt. Mit einem gewissen Wahrscheinlichkeitsgrade ließe sich vermuten, daß dann mit dem wiedererwachenden Kampf ums Dasein sich aus Nützlichkeiten Schönheitselemente entwickeln könnten. Aber wir wollen dieser Vermutungsspur nicht folgen, eingedenk des Wortes von Descartes: Alles was lediglich wahrscheinlich ist, ist wahrscheinlich falsch!