Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Die beiden Pole Formal- und Gefühlsästhetik stehen einander gegenüber wie die Freiheit und Unfreiheit des Willens. Das Denkresultat ist für den, der es erfaßte, unerschütterlich, und dennoch wird er von der Gefühlstäuschung in jeder Minute überwältigt. Der Monist, der Mathematiker, der Molekülforscher, ja überhaupt jeder, der sich tief auf Kausalität eingelassen hat, kann sich eine Freiheit des Willens nicht vorstellen; sie ist ihm eine ebenso absurde Idee, wie die Freiheit eines fallenden Körpers, der sich irgendwelche Unabhängigkeit von den Fallgesetzen und von der Konstanten der Beschleunigung einreden wollte. Gott und Weltall, alle Geschehnisse körperlicher und geistiger Art von Anbeginn bis in die Ewigkeit sind nichts anderes, als die Summe sämtlicher Differentialgleichungen, rückwärts und vorwärts errechenbar für einen Weltintellekt, der imstande wäre, diese Differentialgleichungen aufzustellen und zu übersehen. Aber derselbe Monist, der von der Willensunfreiheit durchdrungen ist, huldigt mit jeder Verrichtung des täglichen Lebens, mit jedem Plan, mit jeder geistigen Kundgebung dem entgegengesetzten Prinzip. Und man könnte ergänzen: wäre ein Mensch derart philosophisch durchgebildet, mit mechanischer Wahrheit durchtränkt, daß er den Determinismus als eine unverrückbare Denkform in sich aufgenommen hätte, so wäre er untauglich fürs Leben. Er könnte als Kaufmann ebensowenig ein Geschäft abschließen, wie als Feldherr eine Schlacht vorbereiten; er könnte nicht für seine Gesundheit sorgen, nicht heiraten, keine Kinder erziehen, ja er könnte, genau genommen, nur solche Tätigkeiten verrichten, die, wie das Atmen und die Verdauung, eo ipso mit dem Willen, mit der Eigenbestimmung nichts zu tun haben.
Genau so müßte es einem Formalästhetiker ergehen, der in jeder Sekunde das Hauptprinzip seines Denkens gegenwärtig hätte. Schon in der ersten Minute irgendwelchen Kontaktes mit der Musik stünde er vor der Unausführbarkeit. Unterwirft er sich nicht dem Zauberglauben, so kann er weder genießen, noch produzieren. Seine Formalüberzeugung, mag sie auch bei ihm zur selbstverständlichen Denkform organisiert sein, wird von der Gefühlstäuschung im ersten Anlauf überrannt. Ich ziehe einen ziemlich vulgären, aber wie ich glaube drastischen und ausreichend deutlichen Vergleich heran: auf den Schaubudenplätzen gibt es eine Attraktion, die unter dem Namen Balançoire diabolique, Hexenschaukel, bekannt ist. Ein ganzes Zimmer mit voller Wohnungseinrichtung rotiert um einen festen, senkrecht herabhängenden Stuhl. Hat man auf diesem Stuhl Platz genommen, so unterliegt man einer abenteuerlichen Täuschung: das Zimmer steht fest, und der Mensch wird im Kreise, kopfüber kopfunter, umhergeschleudert. Man kennt die Wahrheit, man hört die Walze des Täuschungsmittels knarren, der Verstand ist von der Sicherheit des ruhenden Sitzpunktes durchdrungen – hilft alles nichts: die Überlegung erlischt vor der Täuschung, die sofort alle Angstzustände heraufbeschwört, Schwindel, Hilferufe, Ohnmachten auslöst. Aber man sagt, daß einer, der es fertig bekommt, 50 und 100 mal das Experiment durchzumachen, doch dahin gelangt, seine Nerven der richtigen Koordination anzupassen.
Das ästhetische Prinzip sitzt der Musik gegenüber allemal in solcher Hexenschaukel. Solange die Walze gedreht wird, ist mit dem Formalbewußtsein einfach gar nichts anzufangen. Das Widerspruchsvolle, hier wird es Ereignis. Man muß das glauben, woran man nicht glauben kann, und muß das verneinen, was sich in seiner sonnenhellen Wahrheit gar nicht verneinen läßt. Sehen Sie sich daraufhin irgendeine Seite aus Hanslicks Schriften außerhalb seines Grundbekenntnisses an. Jede Zeile belegt es, daß er, der Begründer und Apostel des Formalprinzips, im wirklichen Kontakt mit der Musik niemals von der Zauberillusion losgekommen ist.
Der Programmusiker unserer Tage glaubt gewiß nicht mehr so unbedingt wie seine Vorgänger an die allmächtige Fähigkeit der Tonkunst zur sinnlichen Darstellung. Er diskutiert diese Fähigkeit, er hat zu zweifeln angefangen, und wenn er auch munter im Programm fortkomponiert, so unternimmt er es doch lieber, ein allgemeines Heldenleben, als gerade einen Napoleon oder Wallenstein zu komponieren. Und je deutlicher seine Formalerkenntnis sich ausbaut, desto mehr sieht er sein Programmgebiet verengt. Vielleicht schon in wenigen Generationen wird er nicht mehr Tatsachen, sondern nur noch Emotionen darstellen; denn der Beginn eines Zweifels bedeutet über kurz oder lang den Tod des Bezweifelten. Die auf Illusion begründete Immunität ist nicht für die Ewigkeit. Langsam aber sicher frißt sich die Skepsis durch.
Schon heute stellt der betrachtende Musiker Fragen der Logik, die überflüssig erscheinen mußten, als die programmatische Hexenschaukel noch im allerflottesten Betrieb war. Ist es logisch, daß in Saint-Saëns' »Jeunesse d'Hercule« das Laster durch Flöten, Oboen und Klarinetten dargestellt wird? Sind Holzbläser lasterhafter als Streichinstrumente? Ist es logisch, daß ebendort Herkules schon in seiner »Jugend« auf Feuerflammen zum Himmel aufsteigt, ohne daß ihm die Komposition Gelegenheit geboten, auch nur eine einzige Heldentat zu verrichten? Ist es logisch, daß in Liszts Faustsinfonie Mephisto zum erstenmal erscheint, nachdem Faust mit Gretchen längst fertig geworden? Ist es überhaupt logisch, ein Begebnis so lange zu vergewaltigen, bis es in den sinfonischen Rahmen hineinpaßt?
Ich kenne die Antworten. Das Programm hat natürlich im tiefsten Grunde nichts mit der Komposition zu tun. Es enthält nur das Begeisterungsmotiv für den Komponisten, nicht das Motiv des Stückes. Wie ja auch das Rheintöchtermotiv, Alberichs Herrscherruf und das Motiv des Sühnerechtes im letzten Ende nicht mit schwimmenden Nixen, mit einem bösen Zwerg und mit dem jus talionis kongruent sind. Voraussetzung bleibt allemal, daß zwischen dem Komponisten und dem Hörer eine Konvention aufgestellt wird. Aber diese Konvention ist auf einen Glauben gegründet, und an den Wurzeln dieses Glaubens beginnt bereits der Zweifel zu nagen.
Alles Spiel mit gegenständlichen und begrifflichen Musikmotiven ist ein Spiel mit Jetons, die zum vollen Werte ausgegeben und angenommen werden, solange die Kasse intakt ist. Das Kapital dieser Kasse besteht aus Illusionen und bleibt mit der Fülle dieser Illusionen für die Einlösung der Marken solvent, wenn nicht von auswärts Forderungen angemeldet werden. Hier tritt die Erkenntnistheorie, die Formalästhetik, als Gläubigerin auf. Vorläufig erst mit leiser Mahnung, später mit Prozeßandrohung. Und dieser Prozeß ist unverlierbar. Ist er erst eingeleitet, dann kommt ein Riß durch die Konvention, und die Jetons müssen aus dem Spiel gezogen werden. Kurswert behalten dann nur noch die klingenden Münzen der absoluten Musik.
Aber selbst hier ist eine Grenze, wenn auch in sehr weiter Ferne, erkennbar. Die reine, voraussetzungslose, nichtprogrammatische Musik schaltet zwar die Konvention aus, beruft sich aber dafür um so nachdrücklicher auf das Emotionswunder. Denn im Programm, im begrifflich umschriebenen Leitmotiv kann die Emotion wenigstens mit Worten definiert werden, im absoluten Tonbereich bricht sie ohne Anlehnung an etwas Vorstellbares hervor. Eine Erklärung wird nicht einmal versucht, das Wunderhafte tritt also absolut in die Erscheinung. Und hieraus folgt wiederum unmittelbar, daß diese scheinbar voraussetzungslose Kunst, die Musik an sich, ihre Existenz und Lebenskraft doch auf zwei Voraussetzungen gründet: erstens auf die menschliche Emotionsfähigkeit im allgemeinen, zweitens auf deren Zusammenhang mit der akustischen Erregung. Ihre Stärke und Wirkung kann die reine Musik nur dann behaupten, wenn die allgemeine Emotionsfähigkeit der Menschen als reagentes Gegenstück erhalten bleibt, und wenn die Brücke zwischen Emotion und Akustik nicht unterminiert wird. Beide Voraussetzungen werden aber durch den Gang der Dinge widerlegt. Die Emotionsfähigkeit verringert sich, und jene Brücke wird unterminiert.
Untersuchen wir zunächst die Brücke. Ich stelle mir zwei Musiker vor, die von der Natur mit annähernd gleichem, gleich starkem Talent ausgerüstet sind. Ihre spezifisch musikalische Begabung soll dieselbe sein. Aber während der eine mit der voraussetzungslosen Naivität eines Mozart oder Schubert ans Werk geht, soll der zweite den Drang zur philosophischen Grübelei besitzen, dem Grunde der kompositorischen Entzückung nachspüren, von erkenntnistheoretischen Trieben verfolgt werden. Beide werden virtuell dasselbe leisten können, aber de facto nicht dasselbe leisten. Bei dem ersten wird die kompositorische Begabung ohne Hemmung dahinfahren, beim zweiten wird sie einen gewissen Widerstand im Denkapparat finden. Die tonbildnerische Freudigkeit wird beim ersten überwiegen. Die Frage nach Warum und Weil muß beim zweiten einen Teil der kompositorischen Impulse absorbieren und dämpfen. Der eine komponiert von innen heraus, der andere von außen hinein, bei dem einen strömt es, bei dem andern arbeiten die Schleusen, der eine erfindet ohne Grund und Beziehung, beim andern färbt die Reflexion auf die Eingebung ab, jener kann etwa ein Chopin werden, dieser wird sich bei gleich starkem Ingenium etwa zu einem Mahler, Bruckner, im Höchstfalle zu einem Brahms auswachsen.
Je weiter die Erkenntnis vorschreitet, desto mehr Musiker müssen in die Reflektionslinie einbiegen. Jeder folgende auf dieser Linie verstärkt in sich die nachdenklichen Hemmungsmomente, findet immer schwerer den Weg zur reinen musikalischen Offenbarung, und immer mehr graut ihm vor jener Brücke, in deren Pfeilern er das Dynamit der Formalästhetik wittert.
Die instinktive Scheu vor der dort lauernden Gefahr muß sich von Generation zu Generation verstärken, und die Kapriolen, die schon heute der reflektierend kompositorische Geist ausführt, sind nichts anderes als die Symptome dieser Angst, krampfhafte Versuche, im Akustischen neue Möglichkeiten anstatt der emotionellen vom andern Ufer zu suchen; irgendwelche Kompromisse mit dem immer imperativer auftretenden, aber für die Gestaltung unfruchtbaren Formalprinzip zu schließen; kurzum Vorboten des großen musikalischen Krachs, der nicht mehr aufzuhalten ist, seitdem die Emotion der Akustik die Kündigung ihres Guthabens angedroht hat.