Alexander Moszkowski
Entthronte Gottheiten
Alexander Moszkowski

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Kunstwert der Dimension

In dieser Erkenntnis scheint jeder Gefühlston zu fehlen. Denn die Musik – davon kommen wir nicht los – erzeugt doch ein Wohlbehagen, einen Genuß, ein Glücksgefühl.

Versuchen wir die Wärme des Gefühlstones in die Eiskälte der Theorie hineinzuleiten. Jenes Glücksgefühl, um dessen Wertung und Erklärung sich die Ästhetiker aller Völker vergebens bemüht haben, wird ohne weiteres verständlich, sobald wir uns die identische Gleichung zwischen Musik und Raum vergegenwärtigen. Alle unsere sinnlichen Triebkräfte höherer Ordnung sind auf den Raum gerichtet. Die elementare Lust in der Bewegung, im Sport, im Reisen, was sind sie anders als das Gefühl der Raumerfassung? Wir wollen und müssen unsere eigenen Dimensionen in die Welt hinaus projizieren, die Dimensionen der Welt in uns aufnehmen. Auf keinem anderen Grunde ruht das Glück der Freiheit und das Elend der Gefangenschaft, die das größte Übel darstellt: den Ausschluß von der Raumerfassung. Die Freude am Gebirge entspricht der Befreiung aus dem Kerker der zweidimensionalen Ebene. »Wer auf die höchsten Berge steigt, der lacht über alle Trauerspiele und Trauerernste«, also sprach Zarathustra, der Träger der Höhenweisheit. Der Eigenwert einer gewaltigen Höhe liegt in ihrem trotzigen Aufbäumen gegen die zweidimensionale Weltordnung, die im Flachland das Getriebe beherrscht. Wenn wir uns durch eigene Kraft oder im Luftschiff, ja sei es nur mit dem Zahngestänge der Bergbahn um wenige tausend Meter erheben, so kommen wir im Ausnahmsfall zum Bewußtsein der dritten Dimension, die auszuleben unsere Körperlichkeit verlangt, und die wir sonst in der Planimetrie des Daseins nirgends betätigen können. Die Erhebung im Niveau bedingt unmittelbar das innerliche moralische Hochgefühl, entsprechend dem ästhetischen Genuß beim Betrachten gewaltiger Bauwerke. Es ist der Bruch mit dem peinlich zu tragenden Erdenrest. In der Überwindung der Schwerkraft außer uns, in uns und mit uns fühlen wir Göttliches. Für einen belebten Punkt wäre eine gezeichnete Kreislinie, die ihn umschließt, eine unübersteigbare Schranke. Genau so unbeholfen haftet der Flächenmensch an der Ebene, die im Alltag unsere Welt bedeutet. Erst wenn der Mensch steigt, bricht er den Bann und Fluch jener grausamen Verordnung, die wir Gravitationsgesetz nennen. Er verhält sich dann zum lebenden Flächenmenschen, wie dieser zu seinem eigenen Schatten. In der Erhebung konsumieren wir die dritte Dimension, unsere eigene Körperlichkeit kommt uns in ihr wonnig zum Bewußtsein. Kein Zufall ist es, daß der Vogel, der lange vor dem Menschen dreidimensional gelebt hat, auch um so viel früher zu musizieren begann. Und der nämliche Goethe, der uns das prasselnde Getöse des jungen Tages vorträgt, definiert uns auch als das höchste Glück der Erdenkinder die Persönlichkeit, das ist die bewußte Ausdehnung im Raume. Fazit: Der Raum liegt innerhalb der Erfahrung und ist ein Objekt der Sinne; er wird von einem Organ wahrgenommen, das im Betrieb des Gehörs arbeitet; und er wird mit einer Lust wahrgenommen, die im letzten Grunde mit musikalischen Emotionen verwandt ist.

Strebt aber diese Lust nach dem Kosmischen, Grenzenlosen, in letzter Instanz vielleicht Gestaltlosen, so muß sie sich mehr und mehr von der festen Form des musikalisch Schönen, wie wir und unsere Väter es gekannt haben, abkehren. Und ist dies nicht der Weg, den unsere musikalische Empfänglichkeit parallel mit der Komposition deutlich genug verfolgt? Verliert der feste Umriß in der Musik nicht von Jahrzehnt zu Jahrzehnt an Bedeutung und Reiz? Was wir hier als die Linien der physiologischen Wahrscheinlichkeit erkannten, sind ja in der Tat die Linien der kompositorischen Wirklichkeit, die der unendlichen Melodie, dem onomatopoetisch Uferlosen zustrebt! Die mit ihren Ausdrucksmitteln ins Transzendente, ins Außermusikalische hinübergreift! Nehmen Sie als lose Anhaltspunkte etwa eine altitalienische Arie, die Don Juan-Ouvertüre, die ersten Takte der Neunten Symphonie, den Anfang des Rheingold, den Feuerzauber und den Schluß des Elektra. Wer sich diese Etappen auch nur flüchtig vorhält, der kann nicht im Zweifel darüber sein, wohin die Reise geht; brutal ausgedrückt: vom sinnfällig Melodischen zum kosmischen Sausen und Dröhnen. Mit der unbeholfenen Erklärung einer Geschmacksänderung, etwa im Sinne einer Mode wie sie Roben und Damenhüte durch verschiedene Formen hindurchjagt, kommen wir solchen Erscheinungen gegenüber nicht aus. Da müssen wir schon tiefer gehen. Und in gehöriger Tiefe finden wir eben die Erkenntnis, daß das Ohr seine Ansprüche, die aus der Raumempfindung hervorgehen, immer stärker anmeldet. Dieser unbewußte Prozeß muß dahin münden, wohin jeder kosmische Prozeß ausläuft, in die radikale, restlose Zerstörung alles Vergangenen. Die Prozeßkosten, zu denen unter anderem unsere gesamte in Notenschrift fixierte Musikliteratur gehört, werden unsere Nachfolger zu zahlen haben.

Auf dem Wege der Erkenntnis kommt man schlecht vorwärts, wenn man dabei lamentiert. Haben wir erst begriffen, daß Physiologie, Optophonie, Lichtklang und musikalisches Raumgefühl hier mitzureden haben, dann fühlen wir uns auch außerhalb jeder Polemik, jenseits von Hosianna und Crucifige. Die Tonart der Kritik und Antikritik erscheint uns im Duktus dieser Betrachtung sinnlos. In allen Phasen der Entwicklung hat der Chor der Deuter mit Verhimmlung und Verketzerung operiert, Heil und Fluch um sich geworfen. Wer ungekannte Werte aufbaute und damit eo ipso anerkannte zerstörte, war ein Gott oder ein Teufel; wer ihm folgte oder Folge verweigerte, je nach Bedarf ein Erleuchteter, ein Idiot, ein Apostel oder ein Verbrecher. Sicherlich war das die Grundsubstanz aller Kämpfe um Gluck und Wagner, um Berlioz und Liszt. Sieht und hört man diese Phasen mit ihrem kritischen Chor von einer höheren Warte, so verschwinden die Götter mit den Verbrechern, und als Idioten bleiben allenfalls nur die zurück, die es nicht erfassen können, daß es in diesen Sphären kein Oben und kein Unten gibt.

Aber ich beabsichtige nicht, Sie auf diesen steilen Pfaden der Betrachtung, die das Atmen erschweren, allzulange festzuhalten. Wir wollen nunmehr ein wohnlicheres Terrain aufsuchen und uns nur vorbehalten, die Dinge, die wir da oben erblickt haben, ab und zu als Erinnerungsbilder heranzuziehen.

 


 


 << zurück weiter >>