Alexander Moszkowski
Entthronte Gottheiten
Alexander Moszkowski

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Sokrates der Idiot

»Der Weiseste aller Menschen«

Sokrates! Mit dem einen Namen rührt man an eine Kette von Vorstellungen, die sich, Menschliches und Göttliches umspannend, von den Tempeln der Alten über Kirchen und Klöster hinweg bis in alle Bildungsstätten der Neuzeit schwingt. Kein anderer Name kann sich ihm an Glanz vergleichen. Allen Meinungsstreitigkeiten entrückt, unverwirrt von der Parteien Haß und Gunst, durchstrahlt er im dritten Jahrtausend alle Länder der Erde. Sokrates! der stärkste Eroberer trotz einem mazedonischen Alexander, trotz Moses, Buddha, Christus und Mohammed, der auf eine Person konzentrierte Inbegriff sieghafter Geistigkeit. Nenne mir, Muse, den Mann, der ihm überlegen wäre! Sie wird statt aller Antwort nur neue Kränze hervorholen, um ihn zu krönen und uns damit bedeuten: er war unter allen Geistesgewächsen die ragende Zeder, unter den Leuchtfeuern, die verglühten, die ewige Flamme, er war und ist und wird bleiben des Edeldenkens Säule und Eckpfeiler, der Weltweisheit Quell, das Sprachrohr der Gottheit.

Genug der bildhaften Vergleiche! Er war ein Mann mit einer Legende, mit der bedeutsamsten, die je einen Mann umwoben. Und diese Legende soll hier – zerstört werden.

Der Titel unserer Schrift läßt über die Absicht keinen Zweifel. Er sagt Böses an und Unerhörtes; als wollte er einen Apollo in einen Thersites verkehren. Und Sakrileg! wird geschrieen werden von Tempelwächtern und Laien, sofern sie am Titel haften bleiben. Aber nicht mehr von denen, die weiter lesen bis zum Ende der Schrift, in der alles glatt aufgeht, wie in dem einfachsten Exempel. Und mancher wird sich die Augen reiben mit jener Geste, die ansagt: wie war es möglich, daß wir das nicht schon lange wußten?!!

Eine Vorfrage wäre allerdings: Vorausgesetzt, daß das Ungeheuerliche erkannt würde, vorausgesetzt, daß der Weltglaube an Sokrates sich als Aberglaube erwiese, – ist es zweckdienlich, ihn zu durchbrechen?

Es gibt Legenden, die man bestehen lassen soll; schimmernde historische Überlieferungen, die, alles in allem genommen, mehr wert sind, als die nüchternen Wahrheiten, die an ihrer Stelle gesetzt werden könnten. Die Geschichte der Vaterländer ist voll davon, und sie tun gute Dienste darin als Erwecker und Hebel brauchbarer Gefühle, als Befruchter der Phantasie. Ihr poetischer Sinn ist ihre Rechtfertigung. Die Kunst könnte ohne diese Legenden nicht leben, Fürsten und Fürstinnen, Helden und Heldinnen bedürfen der Aureole in Lehrbüchern, Bildern und Bühnenstücken; laßt die Verklärungen leuchten! wenn auch die Tradition der archivarischen Prüfung nicht Stand hält. Wir brauchen nicht über alle Hintertreppen geführt zu werden, um den ganzen Treppenwitz der Weltgeschichte zu erfahren. Und jene Richtigkeit, die wir in Logarithmentafeln und chemischen Formeln zu schätzen wissen, kann in der Darstellung gewisser Lebensläufe überflüssig, ja störend sein. Galilei hat sich im Sonnenprozeß durchaus nicht so wundervoll betragen als die Legende kündet; ganz im Gegenteil, recht unwürdig im Heldensinne. Aber laßt ihm das Wundervolle auf Kosten der Richtigkeit, denn er bleibt Galilei so und so, eine Sonne trotz der Flecken. Aber anders liegt die Sache im Falle Sokrates. Wer hier die Legende zerstört, schafft Götzendämmerung, die dem Licht voraufgehen muß. Wenn es sich zeigt, daß Sokrates ein falscher Götze war, der in Millionen von Köpfen Unheil anrichtete, dann wird es Zeit, daß für ihn der jüngste Tag anbricht. Nicht als Bildstürmer wollen wir auftreten, um ein Schönheitsideal zu zertrümmern: nein, das größte Hemmnis wollen wir abräumen, das dem Ideal im Wege lag. Die Figur eines Mannes soll vom Altar gestoßen werden, dessen bloße Anwesenheit auf hohem Postament an geweihter Stätte zumeist daran Schuld war, daß das Ideal in Mißkredit verfiel. Das Hemmnis heißt: Sokrates; das Ideal, dem er universalen Schaden zugefügt hat, heißt: Philosophie.

 


 


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