Alexander Moszkowski
Entthronte Gottheiten
Alexander Moszkowski

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Der Herold des klassischen Aujust

Also schon Plato klagte, und wir werden gut tun, schon jetzt, im vorbereitenden Stadium unserer höchst ketzerischen und erschröcklichen Untersuchung, eine seiner Beschwerden vorzunehmen. Ich beginne mit einer Plato-Stelle (aus dem »Gorgias«), die mir wie ein Programmwort klingt. Einer der Gesprächsteilnehmer in jener Dialog-Schrift, Kallikles, sagt sie seinem Gegenüber, dem Sokrates, geradezu ins Gesicht:

Mit der Philosophie, soweit es zum Unterricht dient, sich einzulassen, ist schön, und keineswegs gereicht es einem Jüngling zur Unehre, zu philosophieren. Wenn aber jemand, der schon älter geworden ist, noch philosophiert, Sokrates, so wird das ein lächerliches Ding; und es geht mir mit dem Philosophieren gerade wie mit dem Stammeln und Tändeln. Wenn ich nämlich sehe, daß ein Kind, dem es noch ziemt so zu sprechen, stammelt und tändelt, so macht mir das Vergnügen, und ich finde es lieblich und natürlich und dem Alter des Kindes angemessen. Höre ich dagegen ein kleines Kind ganz bestimmt und richtig sprechen, so ist mir das zuwider, es peinigt meine Ohren und dünkt mich etwas Erzwungenes zu sein. Wenn man dagegen von einem Manne unvollkommene Aussprache hört und ihn tändeln sieht, das ist offenbar lächerlich und unmännlich und verdient Schläge. Ebenso nun geht es mir mit dem Philosophierenden. Wenn ich Knaben und Jünglinge bei der Philosophie antreffe, so freue ich mich; ich finde, daß es ihnen wohl ansteht, und glaube, daß etwas Edles in solchen ist, den aber, der nicht philosophiert, halte ich für unedel, und glaube, daß er es nie mit sich selbst auf etwas Großes und Schönes anlegen wird. Wenn ich dagegen sehe, daß ein alter Mensch noch philosophiert und nicht davon loskommen kann, ein solcher Mann, Sokrates, dünkt mich einer Züchtigung zu bedürfen.

Es konnte den zünftigen Erklärern nicht entgehen, daß diese Stelle mit ihrer offensiven Spitze durchaus gegen Sokrates gerichtet war; daß er hier dastand als der alte Mann mit kindlichem Gelalle und Getändel, der nach des Sprechers Meinung Züchtigung verdiente. Aber das sagt ja ein anderer, ein gewisser Kallikles – (übrigens der Hausherr, bei dem sich die Gesprächsrunde versammelt), – an ihm vollzieht der Autor nur die Zeremonie der Mundöffnung, während er selbst, Plato, als hoher Geist über den Fluten schwebt und selbstverständlich nichts anderes im Sinne hat, als über allen Fluten ein Sonnenfeuerwerk für Meister Sokrates vorzubereiten. Und keinem kam ein Verdacht? Keiner spürte, daß Plato sprach, während Kallikles zu sprechen schien? – Tiefes Schweigen ringsum.

Und doch hören wir schon hier ganz vernehmlich, wie Plato, der Poet in Prosa, auf seiner eigenen Leier präludiert, wie er sorgsam auf einen höchst kunstvollen Kontrapunkt hinführt und einen Rätselkanon ausarbeitet. Dessen Sinn ist:

Ich, Plato, habe mir vorgenommen, meinen Lehrer Sokrates, den ich als Menschen und Staatsbürger sehr hoch verehre, nach allen Kräften und mit allen Mitteln der Pietät zu feiern.

Ich, Plato, habe mir ferner vorgenommen, in meinen Gesprächen die sokratische Philosophie zu entwickeln; denn Sokrates besitzt neben anderen bürgerlichen Tugenden auch die, niemals eine Zeile zu schreiben; es kömmt mithin mir zu, der Hüter der Überlieferung zu werden.

Ich, Plato, weiß, daß diese Philosophie ein langgesponnener Unsinn ist; weiß, daß Sokrates, wie stark er auch als sittliche Persönlichkeit vor mir stehen möge, ein Schwacher und Armer im Geiste ist.

Ich, Plato, werde da nicht verheimlichen und beschönigen; werde ihn tändeln und lallen lassen, wie ein Kind, oder, da er ein alter Herr ist, wie einen Idioten; ich werde Schonung üben in allen begleitenden Umständen, aber doch das Bild selbst klar und verständlich entwickeln für eine, vielleicht ferne, Zukunft; für künftige Leser, die nicht an den Zeilen kleben, sondern auch das zu lesen verstehen, was zwischen den Zeilen steht.

Und damit sind wir beim Hauptpunkt. Wir kennen keinen originalen Sokrates, sintemalen er in keinem tintenklecksenden Säkulum lebte und weil er seine persönlichen Glückseligkeiten so anordnete, daß darin für die Schreibseligkeit kein Platz blieb. Wir haben sein Bild mithin so anzunehmen, wie es seine Zeitgenossen darstellten. Auf drei Quellen bleiben wir angewiesen, auf Plato, Xenophon und in weiterem Abstande auf Aristoteles, der zwar schon lebte, als Sokrates noch wandelte, aber doch nicht mehr aus unmittelbarer Fühlung geurteilt haben kann. Xenophon scheidet als der vergleichsweise subalterne Berichtgeber, als beschränkter Chronist, für unsere Betrachtung aus; Plato bleibt übrig, der wie er selbst der »Göttliche« genannt ward, auch die Befugnis besaß, sich einen Nebengott zu erschaffen und diesem die Anwartschaft auf die Ewigkeit zuzuweisen. In einer Welt voller Pracht der Männerschönheit erhöhte und verklärte er den Häßlichsten aller bis zur Vergottung, – wenn man die Wirkung seiner Schriften mit der Absicht ihres Verfassers gleichsetzt. Eine Figur von einziger Kontrastwirkung entstand für die Weltgeschichte. Gewiß, ein Denker braucht nicht schön zu sein und keine Antinousgestalt zu besitzen. Leicht findet man sich damit ab, daß Plato selbst, daß Archimedes, später Voltaire, Kant, Schopenhauer keine Adonisse waren. Aber ein Heiland muß repräsentieren. Müßte es vor allem in einer Umgebung, in der alles von Schönheit troff und strotzte. Davon war bei Sokrates keine Rede. Im Spiegel Platos steht seine Heilandsendung fest, und in der Anrufung des Schönen leistete er selbst das Menschenmögliche. Schön und gut fließen bei ihm beständig ineinander bis zur Identität. Wie gut muß er gewesen sein, wenn ihm dieser Priesterdienst gelingen konnte seiner eigenen Erscheinung zum Trotz! Ein kahler Dickschädel mit einem Satyrantlitz, ein mythologisches Monstrum, dem zum Waldschreck nur die Bockfüße fehlten! Ich frage einen jeden – sagt ein Klassiker – jeden, der sich von seinen eigenen innersten Gefühlen Rechenschaft geben kann, – wenn er sich zum Beispiel den Sokrates von Jugend an als den weisesten und tugendhaftesten Mann seiner Zeit gedacht, – ich frage, wie wird ihm zu Mute, wenn er liest; der Physiognomist Zapyros, – als er, ohne zu wissen, daß der zu beurteilende Mann Sokrates war, befragt wurde, was er nach seiner Physiognomie von ihm halte? – habe geurteilt: daß es ein der Unzucht und dem Trunk ergebenes Brutum (ein Viehchskerl) sei? Und ich frage ferner: ob die Antwort, die Sokrates nach dem Zeugnisse des Philosophen Alexander von Aphrodias gegeben haben soll: er sei alles das, was jener Antlitzdeuter von ihm sage, wirklich von Natur gewesen, und bloß durch die Philosophie zu einem besseren Mann geworden, nicht einen noch widrigeren Eindruck auf uns macht, als selbst das physiognomische Urteil des Zapyrus? Ob es uns nicht unangenehm und beinahe unmöglich ist, uns den Sokrates als einen Mann zu denken, der von Natur, auch wenn ihm die Zauberin Philosophie nicht umgeschaffen hätte, ein viehischer Kerl gewesen wäre? Solche Fragen konnten wohl auftauchen, allein sie mußten ohne jeden Einfluß bleiben, nachdem Plato sein Verklärungswerk so gründlich und mit so ungeheurem Erfolg verrichtet hatte. Der Viehchskerl verschwand völlig aus der Betrachtung, verblieb nur noch eine Bildprojektion auf der Fläche der wimmelnden Menschheit, über welcher fortan allein das Göttliche schwebte, Gott Sokrates. Was es mit jener Verklärung in Wahrheit für eine Bewandtnis hatte, wurde oben schon angedeutet; daß Plato ein doppeltes Ziel verfolgte: die Lobpreisung des Menschen, raffiniert verquickt mit einer Bloßstellung des angeblichen Denkers. Daß die Welt nur das eine dieser Ziele wahrnahm, ist und bleibt erstaunlich; und es wird noch erstaunlicher werden für jeden, der aus den folgenden Blättern mit aller Klarheit ersehen wird, erstlich, daß Sokrates ein Denkstümper war, und zweitens, daß Plato dies ganz genau gewußt hat.

Weitere Fragen könnten sich daran knüpfen, wie etwa, ob sich Plato der Unehrlichkeit seines Verfahrens bewußt war, und welche Sittenzensur wir fortan Plato zu erteilen hätten. Das mag wohl nebenher gestreift werden, bildet aber für uns nicht das eigentliche Thema probandum. Schon deshalb nicht, weil es letzten Endes auf ein Wortgefecht hinauslaufen würde, auf eine Wortspalterei, also gerade auf jene trübe Kunst, die Sokrates so reichlich übte und deren groteskes Unwesen hier aufgezeigt werden soll. Im allgemeinen mag gesagt werden, daß Platos Ehrlichkeit sich in seiner Freundschaft erschöpfte und daß er die Schleichwege nur wählte angesichts der völligen Unmöglichkeit, auf offener Straße dem Freunde den ihm zugedachten Ruhm zuzuführen. Er schmuggelte also jedenfalls in edler Absicht und mogelte ohne Egoismus: der ganze Gewinn sollte dem Freunde zufließen.

Wenn aber Sokrates wirklich ein so minderwertiger Geselle war, als welcher er, im Geiste gesehen, bald herausspringen wird, – woher dann diese hohe klassische Freundschaft? Diese Frage könnte getrost als ungelöster Rest übrig bleiben in Gemeinschaft mit so vielen unerledigten Resten des Gefühlslebens. Die Triebkräfte der Seele orientieren sich nicht nach Denkgesetzen, und noch ist der Schlüssel nicht gefunden, der uns die Rätsel der Liebe und Freundschaft aufschließt. Die Unbekannten aus ihnen herausrechnen zu wollen wie aus algebraischen Gleichungen, ist ein müßiges Unterfangen, und die Frage: warum liebte der starkgeistige Plato den braven Trottel Sokrates? birgt nicht mehr Sinn als die, warum die blonde Venezianerin Desdemona für einen Mohren schwärmte. Es wäre auch verkehrt, andere berühmte Männerfreundschaften zum Vergleich heranzuziehen, etwa die aus den Kreisen der späteren Klassiker und Romantiker, jene merkwürdigen Inbrünstigkeiten, wie sie sich um Montaigne, um Jean Paul, Gleim, Gellert, Klopstock abspielten. Keine Parallele würde im geringsten stimmen, auch nicht die jenes Schindler, der eine Null war und sich den Titel »ami de Beethoven« ganz vollgültig erwarb. Die Freundschaft Plato–Sokrates bestand eben als ein Unikum, wie die Schriften, die sich zu ihrem Denkmal vereinigen, Unica darstellen. Wir besitzen im deutschen Schrifttum Niederschläge aus Freundschaftsparoxismen in Versen und Briefen, deren maßlose Umarmungs- und Kußduselei uns heute widerlich vorkommt. Die platonischen Niederschläge formten sich anders, zu spintisierenden Gesprächen mit mäßiger Gefühlsschwelgerei, aber desto heftigerem Gedankendusel. Die Widerlichkeit ist dieselbe im Grade, wenn auch ganz verschieden nach Substanz und Herkunft. Und hier handelt es sich um die Erweckung eines besseren Geschmackes, dem die Vernunftschinderei ebenso ekelhaft werden soll, wie uns die Empfindungsschinderei schon lange geworden ist.

Darf man es sagen? Auf den Versuch kommt es an. Ich habe in vorsichtiger Mündlichkeit bei einigen meiner philosophischen Kollegen angeklopft, auch bei Spezialisten, die jede Zeile von Plato und ungezählte gelehrte Kommentare dazu auswendig wissen. Nach dem allerersten Eindruck zu schließen, hätte ich mich zu dem Zwange bekennen müssen: Man darf es nicht sagen! Die Ketzerei ist gar zu abenteuerlich. Aber seltsam: selbst diese Standfesten ließen sich auf Verhandlung ein, und nach gemessener Zeit gewannen ihre gesträubten Haare wieder Frisur; sie erklärten die Debatte über einen Denkpfuscher namens Sokrates wenigstens für nicht ganz unmöglich. Nur sollte ich nicht nach der gewissenlosen Art eines Herostrat den ganzen Tempel einäschern wollen, vielmehr die Brandlegung so einrichten, daß zum mindesten der Mittelaltar verschont bliebe. Das genügte mir einstweilen. Ich beschloß auf alle Fälle anzufangen und im übrigen abzuwarten, was nachher die philosophische Feuerwehr beginnen wird.

Der Satz vom Widerspruch hat seine Geltung in der Logik wie in der Polemik. Die große Mehrzahl der unentwegten Fachleute, darüber will ich mich nicht täuschen, wird die Ansicht vertreten: man darf es nicht sagen. Eben deshalb hat sich der Widerspruch zu melden: man darf es und man muß es sagen. Man muß die losen Hinweise vervollständigen und die flüchtigen Fingerzeige, deren einer in Lessings Dramaturgie sich versteckt: ». . . So wie der Aristophanische Sokrates nicht den einzelnen Mann dieses Namens vorstellte, noch vorstellen sollte: so wie dieses personifizierte Ideal einer eitlen und gefährlichen Schulweisheit nur darum den Namen Sokrates bekam, weil Sokrates als ein solcher Täuscher und Verführer zum Teil bekannt war, zum Teil noch bekannter werden sollte; . . .« So züngelt es mehrfach in Andeutungen, längst liegen die Worte in der Luft, einigen haben sie auf der Zunge gelegen, von da und dort sollen sie geholt und zu so viel Resonnanz vereinigt werden, wie ihnen eine sinngemäße Gruppierung zu geben vermag. Auf diese wird es ankommen, nicht auf ein paar aphoristische Raketen, wie sie Nietzsche verblüffend und beweislos herausgefeuerwerkt hat. »Sokrates war der Hanswurst, der sich selbt ernst nehmen machte.« »Alles ist übertrieben, buffo, Karikatur an ihm«; so steht es abgerissen, von sarkastischer Wut herausgeschleudert, in Nietzsches Götzendämmerung. Aber die in spärlichen Zeilen hingeworfene Begründung ist nichtssagend, schlottert in klapperdürren Gelenken. So darf man es jedenfalls nicht sagen. Nietzsche hatte, wie so oft, die Witterung mit der Nase, aber er bleibt beim Schnuppern und verfolgt die Fährte nicht. Wir werden versuchen, das Problem so anzugreifen, daß die Folgen aus den Gründen durchweg als Selbstverständlichkeiten herauswachsen; wir werden es an den Sokratischen Gesprächen selbst anschlagen, denn dort liegt die Schlagader des Problems.

 


 


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