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10.
Der König in Mailand.

Auf dem Borgo di Porta Romano drängte und stieß sich halb Mailand, um die Porta und das Glacis zu erreichen, vor dem die flüchtige Armee der »Befreier« kampierte.

»Wo ist der König? Ist er wirklich da? Will er uns nicht verlassen? Warum aber zeigt er sich nicht? Warum sagt er uns nicht, was wir zu tun haben werden und was er tun wolle?« so erscholl es ringsum aus den bewegten, auf und ab wogenden Haufen, doch niemand zeigte sich, der Antwort und Auskunft geben konnte. –

Besonders stürmisch ging es an dem Portale des Teatro Carcano zu, wo ein alter Mann die Menge arrangierte. Er war von athletischer Gestalt und in seinen Zügen ein sonderbares Gemische von List und Gutmütigkeit, ein Mann, ganz dazu geschaffen, das zu werden, was man in Italien »capo popolo« nennt.

Er war bereits von einem ungeheuren Schwarme enthusiastischer Zuhörer umgeben.

»Was tun sie dort draußen?« radotierte er, indem er mit den Augen zwinkerte und den Kopf nach der Porta Romana zu bewegte. »Ist jemand dort, oder ist niemand dort? – Warum erfahren wir nichts? Was sollen wir tun? Wir können doch die Barrikaden nicht eher verteidigen, ehe sie angegriffen werden, und wenn die angegriffen werden, müssen doch zuvor die draußen auch angegriffen und geschlagen worden sein, nicht?« Das Volk gab dieser scharfen Logik seinen Beifall auf die stürmischste Weise zu verstehen, und der Redner fuhr fort: »Die draußen müssen zuerst ihre Schuldigkeit tun, kommt es an uns, so werden wir da sein. Wir werden eher unsere Häuser abtragen und die Steine einzeln auf die Österreicher werfen, wir werden Berge von unsern Körpern machen, um sie am Vordringen zu hindern!«

Hundertstimmiges Beifallsgebrüll belohnte den gewandten Rhetor, der sich sofort an die Téte des Zuges stellte, um ihn hinauszuführen unter »die draußen« und ihnen seine Meinung zu sagen.

Eins aber manifestierte sich überall, und zwar nicht auf die schonendste Weise eben, das Misstrauen des Volkes gegen Carl Albert und seinen ehrlichen Willen, für die Lombardei einzustehen.

Das banal gewordene Wort »tradimento« hatte seinen Weg gemacht.

Von den Alpenwänden Tirols, wo es zuerst erscholl, war es mit tausendfältigem, in aller Herzen wiederklingendem Echo herab gekrochen bis an die Gestade der Olona und des Ticino; Carl Albert, den bei Beginn des Feldzuges ganz Italien mit einem Munde »Spada d' Italia« nannte, hieß heute, wenn's gut ging, »der König« schlechtweg – sonst aber »Traditore«. –

Das Volk flutete also hinaus, um zu sehen, ob der König und sein Heer richtig da und nicht schon über den Ticino auf dem Heimwege wären, und das Volk fand richtig König und Armee da, worauf es ruhig zurückkehrte, um Mailand zu sagen, dass vor der Hand noch keine Gefahr drohe und die Österreicher noch fünf Meilen weit entfernt bei Novaresco stehen.

Dieser beruhigende Umstand wurde auch unverweilt benützt und ausgebeutet.

Man hatte den König und das piemontesische Lager vor der Porta Romana gesehen, man lud ihn nun ein, auch Mailands Kontingent zu sehen.

Auf den 4. früh ward große Parade der Mailänder Nationalgarde angesagt und der König dazu eingeladen.

Schon vor sechs Uhr früh ging der Trouble los.

Aus allen Gassen und Straßen zog die schmucke, festlich geschmückte Garde heran und über das Foro auf die Piazza d'Armi hinaus.

Drei Seiten des ungeheuren Vierecks, das dieser schöne Waffenplatz bildet, waren von der ausgerückten Civica eingenommen, unter der besonders die Garde-Kavallerie hervorglänzte, ganz nach Art der bis zur Revolution bestandenen italienischen Nobel-Garde adjustiert.

Dreiunddreißig Fahnen, ebenso viele Schilder in der Trikolore, deuteten das Kontingent jedes der dreiunddreißig Kirchspiele Mailands an.

Es war ein großartiges Schauspiel und mehr als irgendetwas geeignet, den Mut der Mailänder zu heben und das Vertrauen der Piemontesen zu stärken; denn es waren an 40 000 Mann Nationalgarde und fünfunddreißig Geschütze auf der Piazza aufgestellt.

Doch der, dem zu Ehren die Ausrückung geschah, dessen gesunkenen Mut dieser Anblick vielleicht aufzurichten im Stande gewesen wäre – der König war nicht da. Er hatte die Einwilligung unter dem Vorwande abgelehnt, geschworen zu haben, den Fuß nicht eher nach Mailand zu setzten, als bis er die Österreicher bis über die Alpen zurückgetrieben habe. –

Der arme Mann hatte ein eigenes Unglück mit seinen Schwüren, auch diesen konnte er nicht erfüllen!

Denn während die Garden noch festen Schrittes und Blickes vor dem von dem König delegierten General Olivieri defilierten, erdröhnte ganz naher Kanonendonner.

Man achtete anfangs nicht darauf; es musste irgendeinem versprengten Korps gelten, denn die Österreicher standen ja noch bei Novaresco. – Aber plötzlich hoben die Sturmglocken an, die ehernen Zungen zu regen und den Ruf erschallen zu lassen, dass Mailand in Gefahr sei und den Beistand seiner Armee bedürfe: die Österreicher standen vor der Porta Romana.

Die Nationalgarde rückte ab und dem Heere zu Hilfe, das sich bereits an mehreren Punkten schlug. –

Als die Nacht anbrach, waren die Österreicher bis an die Circumvallationslinie der Stadt und ihre Tore vorgedrungen und die Armee in die Stadt gezogen, der König mit den Prinzen zuletzt.

Er nahm seine Wohnung in dem Palaste Greppi in der Corsia des Giardino mitten in der Stadt. –

Garde und Militär wachten während dieser ganzen Nacht auf den Wällen und die Bevölkerung an den Barrikaden.

Die ernsten Scharen durchwehte ein finsterer, unheimlicher Geist, der Mut der Verzweiflung.

»Wir begraben uns eher unter diesen Mauern, als dass wir uns ergeben!« hallte es düster ringsum, und Minen wurden gelegt, die schweren Steinplatten der Trottoire an die Fenster und auf die Dächer geschleppt und tausend kleine Kastelle in den Straßen aufgeführt.

Doch als der Morgen graute und alles sich schuss- und schlagfertig an seine Posten stellte, durchfuhr wie ein eisiger Windstoß das Gerücht die Stadt, anfangs nur leise geflüstert und einander zugeraunt, dann immer lauter und lauter, endlich zum Sturme geworden – das Gerücht, der König wolle sich nicht schlagen.

Unglaublich, unerhört und dennoch möglich! Denn die Sonne steht schon hoch, und der Feind greift nicht an. Warum donnern seine Feuerschlünde nicht, damit sie das entsetzliche Gerücht übertönen und den wilden Ruf: Traditore!

Endlich war es nicht mehr Gerücht, es war Gewissheit geworden, das Entsetzliche: der König, der geschworen hatte, »den Fuß nicht eher nach Mailand zu setzen, als bis er die Österreicher bis über die Alpen zurückgetrieben habe«, er war nach Mailand gekommen, um da – zu kapitulieren!

Keine Feder vermag die tiefe Bestürzung zu beschreiben, die sich mit dieser Nachricht des Volkes bemächtigte, alles war in höchster Verzweiflung. Männer weinten und verbargen die glühenden Köpfe in den Händen, jammernde Frauen und Kinder liefen mit herzzerreißendem Wehgeschrei durch die Straßen, und es erfolgten Szenen, wie sie kein Fiebertraum der erregten Phantasie vorzuführen vermag.

Endlich aber überging die Verzweiflung in Wut. Der König war in der Stadt, mitten in dem Herzen der verratenen, aufgegebenen Stadt, von seinen Soldaten getrennt, die an den Werken lagerten, und bloß von Nationalgarden bewacht.

»Er darf nicht fort! Wir lassen ihn nicht entfliehen, er muss die Kapitulation zerreißen!« heulte es empor in markerschütternden Tönen, und die zerstreuten Massen drängten sich alle der Corsia des Giardino zu.

Vor der Wohnung des Königs im Palazzo Greppi standen seine und der Prinzen Equipagen; in einem Augenblick waren sie umgestürzt und zu Barrikaden vor dem Palaste umgewandelt – verwendet. –

Als der Sturm um seine Wohnung immer mehr zunahm und die sie umtobende Menge immer mehr anschwoll, entschloss sich der König endlich auf die Bitte der bei ihm anwesenden Deputation der Civica, auf den Balkon zu treten und sich dem Volke zu zeigen. –

Einen Augenblick lang herrscht eine dumpfe Totenstille in den Massen, dann erhob sich aber plötzlich der tausendstimmige, anklagende Ruf: Traditore! gegen den Himmel und fünf, sechs Kugeln fuhren pfeifend an ihn herauf und in die klirrenden Scheiben der Balkontüre. –

Der König zuckte leise zusammen, und sein ohnedies fruchtbar bleiches, abgespanntes Antlitz wurde noch fahler, als er sich von dem Volke also begrüßt sah; aber er sprach nicht; er erhob die dunklen Augen mit einem melancholisch schwärmerischen Ausdrucke gegen den Himmel, zerriss die Kapitulationsakte, die er in Händen hielt und warf die Stücke unter das nun mit einem Male ebenso stürmisch aufjubelnde Volk.

Die ausgelassenste Freude folgte nun dem Jammern und der Verzweiflung: »Der König bleibt und will uns verteidigen! Gott segne ihn!« erscholl es nun durch die dichten Haufen, die frisch wieder an die Verteidigungspunkte strömten.

Also morgen die Entscheidung!

Und sie kam – doch anders, als sie die Mailänder gehofft.

Es ging gegen Mitternacht, und das seit drei Tagen unausgesetzt wachende, grabend, durch ie erschütterndsten Momente aufgeregte Volk war müde niedergesunken zur Ruhe bis zum Morgen an den Barrikaden und Basteien.

Da stieg leise und vorsichtig ein Mann aus einem Fenster des Entresols im Palazzo Greppi in den Garten hinab, lief durch diesen spornstreichs der Contrada Monte zu, schwang sich hier über die niedrige Mauer und eilte zu dem Palazzo di Governo, wo das Garde-Regiment und die Tirailleurs, die savoyischen Bersaglieri standen.

Diese Truppen führte er, es war ihr Kommandant, La Marmora, der Wohnung des Königs zu – und um zwei Uhr morgens ritt dieser, also eskortiert, bereits im sausenden Galoppe über S. Pietro l' Olmo dem Ticino – und Sardinien zu. –

Tags zuvor, als die Kapitulation bekannt wurde, hatte sich die Aufregung des Volkes auf eine höchst stürmische Weise kundgegeben, heute, als die Flucht des Königs nicht mehr zu verheimlichen war, bemächtigte sich die tiefste Niedergeschlagenheit der Bevölkerung. Apathie war an die Stelle der Wut getreten. –

Und – ob mit dem Könige, ob nicht, wusste man nicht. Die Mitglieder der provisorischen Regierung und des Verteidigungs-Ausschusses, die nationalen Behörden – und die vier Millionen Lire, welche des Tags zuvor von dem Volke und den Kirchen abgelieferte Silberzeug eingebracht hatte, waren auch verschwunden.

Cosi fan tutte! –

Am 6. August 1848, vormittags um zehn Uhr fiel Mailand. Radetzky mit 52 000 Mann hielt seinen Einzug in die Stadt und übernahm sofort wieder die Verwaltung der Lombardei! –


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