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Man zählte den 8. Februar anno confusionis 1848.
Fünf Wochen von Neujahr an hatten genügt, dem Gouvernement in Mailand zu zeigen, dass die Zeiten des Gewährenlassens und einfacher Polizeimaßregeln vorüber seien. – Was sollte noch kommen?
Allüberall in den Provinzdelegationen wiederholten sich die Rauch- und Lotteriekravalle.
So wie der Hass der Lombarden gegen die Österreicher sich jeden Tag unverhüllter zeigte, so wie die übrigen italienischen Staaten täglich höher das Banner gegen die »Fremden« erhoben, so wie der Augenblick näher rückte, dass der Adler Habsburgs von den Geiern Italiens angefallen werden sollte, nahmen die Zusammenstöße zwischen beiden Parteien einen immer ernsteren Charakter an; sie waren schon Insurrektion; der Widerstand gegen die Regierungsgewalt hatte in ungesetzlicher Weise bereits begonnen, die Revolution war – zwar nur erst im Vorspiele – aber dennoch bereits eingetreten.
Es mussten ganz andere Kräfte spielen, wollte Österreich sein Italien behalten und bändigen.
Hierbei war aber ein ungeheurer Missstand da, und leider nicht wegzuschaffen, der, dass Österreich die Zügel um ebenso viel straffer anziehen musste, als in dem übrigen Italien die bisherigen Verhältnisse gelockert wurden. Während es ringsum Konzessionen und Freiheiten regnete, trafen die »loyalen« Lombarden täglich neue »Gewaltstreiche der Tyrannen!«
Aber Österreich musste festhalten, was festzuhalten war, wollte es Italien nicht von Vorhinein und zu eben der Zeit aufgeben, als Ungarn in seiner nationalen Selbstverblendung sich von seinem Zepter loszureißen strebte.
Die Progression, in der die revolutionären Versuche zunahmen, war erschreckend: von den läppischen Demonstrationen mit Hüten, Krawatten, Aufschriften und Toasten war man in wenigen Wochen zu offenen Angriffen des Militärs, mit allen Attributen des Banditentums gekommen.
Der achte Februar sollt einen neuen Abschnitt dieses schmachvollen Dramas eröffnen. Der Schauplatz – Pavia.
Merkwürdiger Weise und charakteristisch für die Solidarität in dem Vorgange dieser blutigen Ereignisse war es an demselben Tage, sogar zu derselben Stunde, als in Padua, der schwesterlichen Alma Mater Pavias, dieselben Ereignisse mit geringen Modifikationen vorfielen. – Es war nachmittags gegen fünf Uhr.
Waren schon in früheren Zeiten, als noch ein quasi gesellschaftliches Verhältnis zwischen Civile und Militär in Italien herrschte, die Cafés trotzdem die Vereinigungspunkte der Österreicher par excellence gewesen, um wie viel mehr mussten sie, freilich nur exclusive – es jetzt sein, wo dem Deutschen kein Haus offen stand, als ein solches, wo man italienischen Proselytismus trieb.
In und vor dem Café Zenone in der Strada nuova wimmelte es von Offizieren und Deutschen.
Es war ein herrlicher Frühlingsabend, und die Orangerie vor dem Café sandte ihre entzückenden Düfte wie im Maimond in die klare Abendluft.
Die Offiziere waren alle in Uniformen; denn die Notwendigkeit der Bewaffnung hatte sich nach den Mailänder Vorfällen zu gebieterisch herausgestellt, als dass die bisher außer Dienst gewöhnliche Zivilkleidung hätte beibehalten werden können.
Ganz vorne in der Vorhalle saß ein Offizier allein an einem Tischchen. Der Café stand noch unberührt vor ihm, und er starrte, ohne zu lesen in ein Zeitungsblatt. Er sah sehr blass und angegriffen aus und war offenbar von irgendeinem Leiden gedrückt, denn er seufzte öfters tief auf und strich alle Augenblicke mit der Hand über die kummervoll gefurchte Stirne.
Plötzlich stand er rasch auf, als riefen ihn die Glockenzungen, die soeben in dem Turme von S. Michele ihr melodisches Lied anstimmten, zündete eine Zigarre an und trat auf die Gasse.
Die beiden Offiziere, die an dem Tischchen nächst ihm saßen, hatten ihn schon lange mit unverkennbarer Teilnahme betrachtet, sie blickten ihm noch eine Weile nach, als er langsam außer den Arkaden dem Corso hin schlenderte, dann sagte der eine: »Was Teufel muss dem Stark fehlen? Er ist ganz ausgewechselt vom Urlaube eingerückt, und ich glaube gar, vor dessen Ablaufe? Der hat gewiss sein Herz an eine stolze Milaneserin verloren, die ihre Hand nur dem zu schenken schwur, der die eiserne Krone von Monza holt für den Messias Italiens, den Mazzini!«
»O nein, mein Lieber!« versetzte der andere, »der arme Kerl hat schweres Leid erlebt in letzter Zeit…«
»Ei, weißt Du etwas? Lass hören!«
»Es ist so!« erwiderte der Angeredete, indem er sich mit dem Stuhle zurückbog und eine dicke Rauchwolke vor sich hinblies, »man redet nicht gerne davon, es ist eine delikate Geschichte.«-
»Lass los, Du machst mich unbändig neugierig«, drängte der erste, »was könnte diesem Plato Deliktes passiert sein, und dass gar nichts verlautete?«
»Du sollst es hören, versprichst mir aber mit Deinem Ehrenworte, es bei Dir zu behalten.« –
»Du hast es, erzähle!«
»Nun, der gute Bernard war in Mailand, wie Du weißt«, begann der Offizier, »und kam da auf eine ganz kuriose Art einer jungitalischen Clique, die als Köder ein Wunder von einem Mädchen benützte, auf die Spur. Er verfolgte diese als ehrlicher Soldat, und was kam heraus? – Der Anführer dieser sauberen Rotte war sein eigener Bruder!«
»Was Teufel! – Ach, ich erinnere mich – ein ehemaliger Fourier, schon anno dreißig oder einunddreißig verurteilt und dann amnestiert?«
»Derselbe! – ein niederträchtiges Subjekt jedenfalls, denn jenes schöne Mädchen ist seine eigene Tochter!«
»Nun? Und was geschah?«
»Hm! Was geschah? Bernard ließ die ganze Sippschaft packen – es sollen merkwürdige Dinge herausgekommen sein, und der Transport jener drei Conti nach Laibach auch daher kommen, von denen wir vorgestern lasen – seit der Zeit ist nun der arme Stark ganz weg – natürlich! Obwohl er nicht anders handeln konnte – doch, Mordelement! Was ist denn das?« rief der Erzähler plötzlich, sprach auf, warf einen raschen Blick auf den Corso und stürzte mit dem Rufe: »Mir nach Kameraden! Zu Hilfe!« mit gezogenem Degen auf die Straße heraus.
Diesem Rufe folgte in dem Café eine babylonische Verwirrung, die noch gesteigert wurde, als der andere Offizier aufschrie: »Zu den Waffen, Oberleutnant Stark steht allein im Handgemenge gegen einen Rudel Banditen!«
Tische, Bänke, Stühle und die Orangenkübel wurden umgeworfen, und das ganz militärische Publikum des Cafés stürmte über die Trümmer hinaus auf die Gasse.
Diese war bis gegen die Kathedrale zu mit einem wild wogenden Menschenschwarme bedeckt, der sich gesamt um einen Arkadenpfeiler herandrängte, an dem ein einzelner Offizier, mit bloßem Kopfe und aus einer Stirnwunde blutend, aber unverzagt gegen die wütende Masse sich verteidigte, die mit wildem Geschrei und geschwungenen Dolchen gegen ihn anstürmte.
Es war Bernard!
Und mitten in der Straße stand eine Totenbahre, verlassen von ihrem Gefolge, selbst ihren Trägern und dem Priester – verlassen wie die alte Italia von ihren abtrünnigen Kindern, die ihre klassische Ära durch die Organisation des Verrats und feigen Mordes herzustellen suchten! –
So war es gekommen: Bernard verließ das Café und ging langsam, in tiefen, trüben Gedanken den Corso entlang, der Kathedrale zu, in deren Nähe sein Quartier lag. Er hörte das Geläute der Glocken, den monotonen Gesang der Leichenbrüderschaft – es kam ihm ein Leichenzug entgegen – er wich nach der linken Seite aus und grüßte Priester und Sarg mit abgezogener Mütze und ohne zu rauchen. Trotzdem sprang plötzlich ein Mann mit einem Kalabreser in der Hand – ein Student vermutlich – aus dem Leichengefolge auf ihn los und schlug ihm mit dem wilden Rufe: »Fort mit der Zigarre, deutsches Schwein!« Mütze und Zigarre aus der Hand.
Bernard hatte Ärgeres erlebt – er sprang gefasst zurück, lehnte sich an einen Arkadenpfeiler, um den Rücken frei zu haben, und zog den Degen; in demselben Augenblicke schwirrten zehn, zwanzig Messer an seinem Kopfe vorbei – eines streifte seine Stirnhaut, aber ebenso schnell hatte sein Degen zwei, drei der nächsten Angreifer erreicht und gezeichnet.
Trotzdem aber, dass seine Lage eine verzweifelte war – denn der ganze Kondukt, soeben noch singend und psalmierend, hatte sich in ein Heer fanatischer Bravos verwandelt – kam kein Laut, kein Hilferuf über seine Lippen, nur ein bitteres Lächeln verzerrte sein edles Gesicht, als er den Degen in blitzenden Kreisen um sich schwang – da erscholl plötzlich von der dem Café zugekehrten Seite des Menschenkeiles her in kläglicher Weise ein »Oh maledetto«, ein »oh misero me – me infelice!« um das andere und dazwischen die kräftigen Stimmen der vom Café zur Hilfe herbeigeeilten Offiziere: »Halt' Dich, Bernard! Wir sind da!«
Trotz dieser überraschenden Diversion würde aber dennoch Bernard ein verlorener Mann gewesen sein – denn, von hinten gedrängt und stürmisch angegriffen, drohte die flüchtende Masse den Offizier, dessen Degen immer kleinere Kreise zu schlagen gezwungen war, zu erdrücken; da erscholl zu guter Stunde heller, lustiger Trommelschlag von der Kathedrale her – ein unbeschreiblicher Schrei des Entsetzens stieg aus der Volksmasse empor – man glaubte die Garnison alarmiert und anrückend – in einem Nu war der feige Haufe zerstoben und in den Häusern verkrochen – in wilder Flucht über die umgeworfene Bahre hin, deren stiller Inwohner im Totenkleide auf dem Pflaster lag, das marmorne Antlitz anklagend gen Himmel gekehrt, der plötzlich seine Bläue in tiefes Grau verwandelte, als finde er es nicht mehr wert, seinen Azurbogen zu spannen über einer Erde, deren Maienblüten feiger Mord entheiligend besudelte.
Die anrückende Militärkolonne kam aber nur aus Zufall – als sollten Leichenkondukte heute in Pavia mit Gewalt eine Rolle spielen – dieses Weges.
Es war der Kondukt eines Gemeinen von »Gynlai« und zwei Züge stark.
Als die Menge sich verlief, glaubte der Kondukt den Weg zur Kaserne fortsetzen zu können; dem war aber nicht so: die geflüchteten Studenten und sonstigen Ligabrüder eröffneten auf einmal aus den Fenstern der Häuser, in die sie sich gerettet, ein, wenn nicht effektvolles, so doch desto empörenderes Bombardement auf die ruhig dahinziehenden Soldaten.
Blumentöpfe, Fußschemel, Stühle, sogar Bilder in Rahmen krachten nieder auf die harmlos hinziehende Schar.
Nach Reglement ist bloß der erste Zug des Leichenkonduktes vollständig bewaffnet, während der zweite, der sogenannte »zum Weinen«, der hinter der Bahre marschiert, nur Untergewehr trägt. Dieser Handvoll Soldaten war es natürlich nicht möglich, einem Angriffe Stand zu halten, der so ganz den Charakter italienischer Heftigkeit und Perfide trug – im Sturmschritte und knirschend vor gerechtem Zorne eilten sie, die Kaserne zu erreichen und Sukkurs zu holen.
Die ganze Garnison rückte aus. Aber was war zu tun, an wem der Frevel, soeben verübt mit heuchlerischer Hand an harmlosen Soldaten, zu bestrafen? Alle Häuser waren geschlossen und nirgends mehr eine Spur des Widerstandes.
Man begnügte sich, selbst einem so offenen faktischen Ausbruche der Revolution gegenüber mit Verkündigung des Standrechtes, einer sonst in Italien und Ungarn bei überhandnehmenden Straßenräubereien seit jeher bestandenen Gerichtsform, diesmal auch ausgedehnt auf politische Verbrechen.
Bei Anbruch der Nacht war die Ruhe scheinbar hergestellt, aber der welsche kleine Krieg mit dem Stilett nicht unterbrochen – an demselben Tage noch erhielt Hauptmann Ferenzý von Gyalal-Infanterie meuchlings einen Schuss, der ihn schwer im Gesichte verwundete.
An demselben Tage trug sich fast dieselbe Affäre, aber blutiger und reicher an charakteristischen Szenen in Padua zu.
An demselben Tage machte die piemontesische Regierung dem österreichischen Gesandten in Turin die Mitteilung, Carl Alber habe beschlossen, seinem Volk eine Konstitution zu verleihen.
An demselben Tage las man in Wien in den Zeitungen: »Die Befürchtungen in Betreff Italiens bestätigen sich nicht…«, und zwanzig Tage darauf durchbrauste die erschütternde Nachricht jener Ereignisses die Welt, dessen der geistreiche »österreichische Veteran« also gedenkt: »Fest gewurzelt wie die Eiche im Boden schien die Dynastie der Orleaniden in Frankreich. Achtzehn Jahre hatte Louis Philipp in seltener Klugheit regiert, allen Versuchen der Empörung hatte er siegreich widerstanden. Kraftvolle Söhne, blühende Enkel, tapfere Generale und ein tüchtiges Heer, das ihm bisher Anhänglichkeit bewiesen hatte, umgaben seinen Thron, und doch wehte der Sturm eines Volksaufstandes Louis Philipp mit dem ganzen Gerüste seiner königlichen Herrschaft an einem Tage spurlos weg von dem Boden Frankreichs. Erkläre dieses Phänomen, wer es vermag – wir verzichten darauf; es sei denn, dass man sich mit der Bemerkung begnügen will, dass Gott den Mann verlasse, der sich selbst verlässt!«