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Es war gegen Mittag.
Die Nebel hatten sich verzogen, und die Sonne schien freundlich wieder auf die durch die langen Straßen flutenden Menschenwogen.
Aber es war kein Corsopublikum, das da durch die Gassen hinbrauste, viel fremdes, lauter wildes, sonnverbranntes Volk in blauen Blusen und niederen Mützen oder Ernanihüten, mit trikoloren Bändern und Kokarden geziert.
Was darunter war von der »Créme« des Corso, von dem »Hochgeflügel« der Hauptstadt, gehörte gewiss jenen Geschlechtern des Adels an, die, aus dem blauen Blute der alten Duodeztyrannen Italiens stammend, seit jeher in permanenter Auflehnung gegen die Macht geblieben waren, die ihre tonenen Throne zertrümmerte.
Auf allen Plätzen wogte es, am heftigsten um die Porta orientale und den Guberniumspalast herum.
Ein leichter Sieg war da erkämpft, aber auch sogleich missbraucht worden.
Der Pöbel, der, von dem Podesta bewaffnet, die Wagen der Munizipalcongregation dahin begleitet hatte, drang mit dieser zugleich in das Gebäude.
Die Wache wurde niedergestoßen, die Grafen O D. und P. gefangen; während der Pöbelhaufe sich plündernd in dem Gebäude zerstreute, die Kanzleiakten zerriss und verbrannte, die Möbel zertrümmerte und auf die Gasse warf als Material zu der Barrikade, die sich da bereits erhob, ward der Vizepräsident mit der Pistole auf der Brust gezwungen, die Dekrete über die Auflösung und Entwaffnung der Polizei und über die Zuweisung der Gendarmerie an den Podesta zu unterzeichnen.
Dieser Gewaltstreich war für die Empörer von ungemeiner Wichtigkeit und großem Vorteile.
Obwohl diese Dekrete in Mailand, wo der Marschall allein gebot, nicht nützen konnten, wurden sie auf dem Lande von desto größerer Wichtigkeit, da sie den Verfügungen des Podesta gleichsam eine offizielle Bestätigung gaben. –
Als die Alarmschüsse über die Stadt hinkrachten, wusste man, dass es jetzt ernst werde.
Hunderte von Barrikaden erhoben sich wie mit einem Schlage in den Gassen, die, den großen Corso ausgenommen, meist eng und winkelig, daher leicht abzusperren sind.
Von der Kirche des Monasterio Maggiore erhob sich zuerst der Glocken gewaltiger Ruf – zum Stume! Von allen Türmen heulte es im Nu nach, und der dumpfe Klang trug durch die Frühlingsluft die düstere Botschaft hinaus in die weite Mark von Milano, dass, wie an der Adria der Markuslöwe, so an der Olona die Schlange der Lombarden sich erhoben habe im Kampfe gegen Österreichs Doppeladler. –
Unter den Blusenmännern, die in Eile, aber vortrefflich bewaffnet, bereits mit dem Abzeichen der Guardia civica, dem trikoloren Armbande versehen, den Barrikaden zueilten, befand sich auch ein so auffallend großer, stark gebauter Mann, dass er unter der ihn umwogenden Menge, meist schwächliche, kleine, aber feurige und bewegliche Gestalten, wie ein wandelnder Turm aussah.
Er war ein starker Fünfziger mit grauem Kopfe und mit den Jahren von so bedeutendem Umfange geworden, dass eben dies seine Gestalt noch kolossaler machte; gewiss, wer die zum ersten Male sah, ging ihr mit Grauen und Furcht aus dem Wege.
Ohne sich um den Eindruck zu kümmern, den er auf die Begegnenden machte, schritt der Alte eben aus der Contrada des Monte der Kirche St. Babila zu, als ein Blick, den er zufällig auf den Corso warf, ihn plötzlich an den Gasseneingang fesselte.
»Thomas!« schrie er mit einer so dröhnenden Stimme, dass sie das Geräusch der Straße auf einen Moment verstummen ließ und viele Neugierige bewog, gleichfalls in derselben Richtung hinzuschauen.
Der Ruf galt einem jungen, großen Burschen, welcher eben im Begriffe stand, in die schmale Türe des an das Seminar grenzenden Häuschens zu treten.
Als er die wohlbekannte Stimme hörte, zog er den schon auf die Schwelle gesetzten Fuß zurück und hob den Kopf, um den Rufenden unter der Menge zu entdecken. Das war eben nicht schwer.
»Wohin jetzt? Her zu mir!« schrie der Alte dem Burschen zu.
»Ich wollte – nur auf einen Augenblick –« antwortete der junge Mann im Corso, doch gingen seine nicht eben stark gesprochenen Worte in dem Geräusche verloren; der Alte wartete auch auf gar keine Antwort.
»Kannst Du jetzt an so was denken?« schrie er hinab. »Kehr' um – oder der Teufel –« Ein Brummen, wie das eines grollenden Bären ergänzte die Drohung.
»Ich muss!« sagte der junge Mann, trotzig den Kopf schüttelnd, und mit einem raschen Tritte war er in der Türe des Hauses verschwunden.
Der Alte sah, dunkelbraun vor Zorn im Gesichte, einen Moment starr in die Straße hinab, als wolle er seinen Augen nicht trauen, dann murmelte er einen Fluch zwischen den Zähnen und wollte seinen Weg fortsetzen. Aber er hörte sich angesprochen und sah sich verdrießlich nach dem Bekannten um.
»Was ärgert es Dich, alter Kerl, dass Dein Sohn gegen Dich rebelliert?« fragte ihn dieser, ein ältlicher, kleiner Mann in einem schäbigen Surtout; »Du gegen den Kaiser, Dein Sohn gegen Dich, das kommt doch ganz natürlich?«
»Was, zum Teufel, Herr Kapitän! Was geht mich der Kaiser an?« schrie der Alte heftig, »ich kenne, oder besser ich kannte nur einen Kaiser, den sie leider verschimmeln und vergehen ließen auf einem öden Felsen >den gefesselten Prometheus<, wie wir sangen –«
»Pah – aber heut handelt sich's um einen andern, der wohl nicht sehr erbaut sein würde, sähe er Dich mit der Büchse da zu den Barrikaden rennen; und siehst Du, so geht's Dir eben auch, weil es Deinen Sohn anderswo hinzieht!«
»Es soll ihn aber nicht anderswo hinziehen! Darum will ich hinab, um dem ungeratenen Schlingel Räson beizubringen –«
»Ei, lass ihn! Lass es bei diesem kleinen Loch in Deiner Autorität bewenden, ehe es zu einem ganzen Riss darein kommt! Komm mit zum Gubernium, und lass uns sehen, wie die Milaner ihre Revolution engagieren!«
»O nein!« sagte der Alte finster, »es handelt sich da, lieber Herr Dupont >ums Prinzip<, wie ich das, oder so was nennen hörte; Ihr müsst wissen, der Bursche ist entsetzlich kaiserlich, auf Ehre, schwarzgelb wie ein Schlagbaum!«
»Ja – Freund! Da ist eben seine Liebschaft schuld daran«, sagte Herr Dupont achselzuckend, »das hättest Du Dir denken können, als die Geschichte anfing!«
»Was denn für eine Geschichte?«
»Nun die mit der Putzmacherin –«
»Teufel, Herr, was wollt Ihr damit sagen? Ihr wagt es doch nicht, schlecht von der Lotti zu denken?«
»Albernes Zeug! Kenne ich denn das Mädchen nicht?« erwiderte Dupont; »es ist hübsch und brav und rechtschaffen –«
»Das will ich meinen!« fiel der Alte ein, »und zwar sehr hübsch und sehr brav und sehr rechtschaffen!«
»Ganz gut, ganz gut!« sagte Herr Dupont zurückhaltend, »aber es ist so – ich weiß nicht, ob es Dir nicht zu sublim ist, was –«
»Herr Dupont, wenn Ihr meint, dass ich das, was sie da wollen, nicht kapiere, so muss ich Euch sagen, dass dies schon bei dem Worte »sublim« anfängt – Ihr wisst, ich bin eben nur ein gepfropfter Franzose!«
»Gut also, lieber Alter!« sagte Dupont begütigend, ich will es Dir so deutsch als möglich explizieren, was ich meine. Die Lotti ist Marchande des Modes –«
»Nun ja, aber das bedingt keine kaiserliche Gesinnung!« warf der Alte dazwischen.
»Aber so lass mich doch ausreden!« schrie der Exkapitän unmutig, »also Marchande des modes und nebstdem die Tochter eines kleinen kaiserlichen Beamten, die bekanntlich…«
»Ah, der Selige war ein braver Mann!« unterbrach ihn der Alte und schüttelte missbilligend den grauen Kopf.
»Alles recht! Ich meine nur, wenn der Thomas eine Marchande des modes liebt, kann er keine absonderliche Lust an der Muskete haben, und wenn er sie heiratet, wird er der Loyalste unter den Mailänder Bourgeois und vergisst für immer, dass sein Vater in fünfzig Schlachten denen gegenüberstand, zu deren Kontingent jetzt seine Kinder heranwachsen.« – Der Kapitän hielt eine Weile inne, dann horchte er aufmerksam gegen die Gasse hin: »Na, höre da einmal zu, alter Braun! Das Geschrei, das entsetzliche Gebimmel und Gebammel, die Masse Menschen, und ich wette, wenn die Österreicher den ersten Choc machen, verkriecht sich das ganze Heldentum in den Häusern und ein Kanonenschuss fegt die Straße leer! – Gehst du also wirklich nicht mit?«
»Ich komme nach! Mich drängt es selbst zu dem Mädchen, es ist so allein und schutzlos.«
»Nun dann adieu! Ich sehe mir's an, ob sie so gut schießen, die auferstandenen Paladine Italiens!« sagte mit einem zweifelhaften Lächeln der Kapitän.
»Adieu Kapitän!« rief der alte Braun.
Die beiden napoleonischen Ruinen schieden. Der eine schwamm mit dem Strome der Revolution, der andere folgte dem Zuge seines Herzens. –
In dem Häuschen, das der junge Mann früher betreten, und dem sein Vater nun zuschritt, war es wie ausgestorben; die Fensterläden und die Haustüre geschlossen, und seine Bewohnerschaft entweder in Kellern verkrochen oder draußen mit beschäftigt bei dem großen Werke der »Befreiung Italiens«.
Bloß in einem kleinen Vorzimmerchen des ersten Stockes hörte man ein leises Geflüster und sah durch die halboffene Türe, dass es von zwei Personen ausging, die im Hintergrunde des Zimmers saßen, das, der geschlossenen Fensterläden wegen, durch eine Schirmlampe beleuchtet wurde.
Es war die eine davon der Sohn des alten Braun, die andere seine Geliebte oder Braut, wie er sagte, die Putzmacherin.
Thomas war ein ganz hübscher Bursche mit einem offenen, gutmütigen Gesichte und hellblinkenden Augen, nur viel zu lang für das neben ihm sitzende nette Mädchen, obwohl er nach dem Wunsche des alten Grenadiers noch zehn Zoll im Wachsen einzubringen hatte.
Die Putzmacherin war bildhübsch, wie man sagt, obwohl etwas blass in Folge ihrer Stubenarbeit. Sie trug ein glattes, an dem Halse schließendes Kleid von grauem Orleans, das einen untadelhaften Wuchs zeigte und die lichtbraunen Haare etwas schief gescheitelt, was dem sanften Gesichtchen einen eigentümlichen, munteren Reiz verlieh.
Die grobe, graue Bluse, die den kräftigen Leib des jungen Braun umhüllte, sah noch weit gröber aus in dieser sauberen und zierlichen Nachbarschaft; das schien aber der Liebe keinen Abbruch zu tun, wie die schönen, blauen Augen des Mädchens bewiesen, die mit rührender Innigkeit an dem jungen Handwerker hingen.
»Wenn nur Dein Vater wollte!« flüsterte das Mädchen mit besorgtem Tone, »der könnte da am leichtesten helfen; er gilt viel unter den Clubisten als alter Soldat!«
»Fürchte nichts, liebe Lotti!« tröstete sie der junge Mann, »lass nur den Abend kommen, dann machen wir selbst Lärm und sagen, Deine Mutter verpflege einen verwundeten Barrikadenmacher: das ist das Leichteste, weil es so meist fremdes Gesindel ist; mit dem Vater ist es nichts; er ist zwar eine gute Haut, aber wenn er unter seine Alten kommt, da ist's, als ob der Teufel in ihn führe – da will er nichts hören, als hauen, stechen, schießen und hängen!«
»Ja wär's nur schon Abend – aber bis dahin – mein Gott! Es kommt jemand!« rief das Mädchen erbleichend und sprang auf.
In diesem Augenblicke ging auch die Türe des Nebenzimmers leise auf, und eine alte Frau, die Mutter der Putzmacherin, rief flüsternd: »Kinder, es ist jemand an der Türe!«
»Ohne Furcht, Mutter! Lotti sei kein Kind!« rief der junge Mann und ging zur Türe, »ich werde sie schon abfertigen.«
Die Frauen blieben ängstlich harrend an der offenen Türe stehen.
»Was gibt's? Wer ist da?« rief Thomas, an der Türe angekommen.
»Der alte Braun, Du Schlingel!« tönte es von außen zurück, »der arme Vater, der seinen ungeratenen Sohn wegholen muss von der Schürze zur Bürgerpflicht, damit die Leute nicht mit Fingern auf ihn zeigen, der sein einziges Kind nicht einmal –«
»Ich bitt' Euch, Vater, schweigt und kommt herein!« sagte Thomas verdrießlich und machte die Türe auf; »ich habe es Euch schon tausendmal gesagt, ich bin ein Handwerker und kein Soldat, und soll ich einer werden, so geschieht's gewiss nur, um auf österreichischer Seite zu stehen!«
»Was, Du bist nicht Soldat? Du, eines Soldaten Kind, Du willst nicht Soldat sein? – Die bauen da die schönsten Barrikaden, verteilen Gewehre und Munition in Hülle und Fülle, läuten Sturm, dass einem das Herz im Leibe lacht – und er will nicht mit, will nicht Soldat sein! Du pflichtvergessener Schuft!« schrie der alte Mann und hob die schwere Faust.
Aber er fühlte sie aufgefangen und gehalten durch den kräftigen Arm seines Sohne, der ihn ins Haus zog: »Schimpft nicht, Vater, und schreit nicht so«, raunte dieser ihm zu, »und redet nicht von Pflicht – Ihr, der Ihr den Teufel davon versteht wie alle Eure Kameraden, die nichts sinnen, als die Friedensgrüne wieder zu verdrängen durch das Blutrot des Krieges!«
»Was? Ich verstehe nichts von Pflicht? Ich?« stieß der alte Soldat entrüstet heraus.
»Sicher nicht«, antwortete Thomas trotzig, »oder sagt mir, gegen wen anders Ihr eine habt, und zwar die der dankbaren Treue, als gegen Österreich, das Euch Schutz und Brot gab, als das gerühmte Frankreich Euch, den unnütz gewordenen Söldner, hinaus stieß in die Welt –«
»Aber ich bin kein Österreicher!« brummte der Alte verlegen.
»So seid Ihr sein Gast – und in diesem Augenblicke gewiss ein undankbarer, denn Ihr geht hin, um teilzunehmen an dem Kampfe gegen sein gutes Recht, und das an der Seite von Banditen und dem Auswurfe aller Nationen!«
Der Alte wollte etwas Heftiges erwidern, da fühlte er eine Hand, wie leichter Flaum sich auf seinen Arm legen, er sah sich um und in das liebliche Antlitz der Geliebten seines Sohnes.
»Ich bitt' Euch, Vater, mäßigt Euch!« sprach sie ihn schmeichelnd an, »es liegt ein schwer Verwundeter oben!«
»Hoho! Hat's denn schon etwas abgesetzt? Da sagt der Gelbschnabel da kein Wort davon!« sagte der Alte besänftigt, indem er lächelnd in die angstgerötete Wange des Mädchens kniff.
Thomas warf einen unzufriedenen Blick auf die Putzmacherin und sagte nach kurzem Bedenken: »Nun, da Ihr wisst, sollt' Ihr auch alles wissen; es ist auch gut, damit Ihr erfahret, auf welche Art Eure Kameraden den Krieg führen: es ist ein Herr aus Deutschland, ein Baron, der gestern, als er vom Hotel Reichmann zum Gouvernement wollte, hier vor dem Hause meuchlings niedergestoßen wurde.«
Der Alte schaute bei diesen Worten betroffen bald seinen Sohn, bald das Mädchen an; dann sagte er kleinlaut: »Es wird ein Verräter, ein Spion sein!«
»Es ist ein Fremder, ein hier gänzlich Unbekannter!« erklärte Thomas verweisend, »kommt mit hinauf und hört selbst, wie es dem armen Herrn ging! Lotti wollte Euch ohnedies ersuchen, ihn schützen zu helfen!«
»Schützen – gegen wen denn?« fragte der Alte, die Treppe hinansteigend.
»Gegen wen, fragt er!« sagte Thomas unwillig, »vor den Österreichern nicht, aber vor den Italienern, wenn der Krawall anhalten sollte.«
»Hoho! Du hast Ideen, geh', geh'! Du bist ein dummer Junge!« sprach der Alte leichthin und trat durch das Vorzimmer in ein Gemach, das die Witwe des Beamten dem verwundeten Baron von Badern eingeräumt hatte.
Die Putzmacherin und der junge Handwerker folgten. –