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27. Kapitel.

Als das Boot, mit welchem Geierschnabel vom Dampfer stieß, an das Ufer gerudert wurde, war die ganze Besatzung in größter Spannung, was geschehen werde.

Sie beobachteten den ganzen Vorgang mit atemloser Spannung, bis plötzlich ein Schuß erscholl und gleich darauf eine ganze Reihenfolge von Schüssen.

»O Gott, sie schießen ihn nieder!« jammerte Amy. – »O nein«, antwortete der Steuermann. »Zwar habe ich kein Fernrohr, aber ich glaube im Gegenteil, daß er sie niederschießt.«

Der erste Schrei des Geiers erscholl und gleich darauf der zweite.

»Gott sei Dank, er befreit sich!« rief Amy ganz entzückt. – »Siehst du ihn dort auf dem Pferd?« fragte der Lord, die Hand ausstreckend. – »Ja. Er galoppiert gerade nach dem Wald.«

Der dritte Geierschrei erscholl und gleich darauf der vierte. Der Reiter war verschwunden.

»Er ist gerettet!« jubelte Amy. – »Er reitet zu Juarez!« fügte ihr Vater hinzu. »Dem Himmel sei Dank. Mir war sehr bange um ihn. Aber noch ist er nicht gerettet. Sieh, man verfolgt ihn.«

Die Mexikaner verschwanden im Wald.

»Oh, er wird sich nicht einholen lassen; er hat uns dies versichert«, meinte Amy. »Doch, wen bringt man dort an das Ufer, Papa?«

Der Lord richtete sein Fernrohr dorthin und antwortete nach einer Weile:

»Das ist ja Cortejo.« – »Was ist mit ihm?« – »Er muß im Gesicht verwundet sein. Man wäscht ihn. Mehr kann ich jetzt nicht erkennen.«

Die Männer in den Booten hörten das Brüllen und Wimmern Cortejos, das nach und nach leiser wurde und endlich ganz aufhörte.

»Die Verwundung muß sehr schmerzhaft sein«, sagte Amy. – »Recht so. Er hat es verdient«, antwortete der Lord. »Ich gäbe sehr viel darum, wenn der Mann in meine Hände fiele!« – »Juarez kommt und wird ihn fangen, Papa.« – »Ich hoffe es. Leider ist es jetzt dunkel. Wer weiß, was geschieht. Vielleicht verlassen sie den Platz, weil ihre Kriegslist verunglückt ist.«

Die Annahme erwies sich als unbegründet, denn bald sah man die zahlreichen Verfolger zurückkehren. Sie lagerten sich, und als der Abend hereinbrach, wurde drüben sogar ein Feuer angebrannt, dessen Schein in goldenen Strahlen auf das Wasser fiel.

»Sie bleiben, Papa«, sagte Amy. »Ist das schlimm für uns?« – »Schlimm nicht, obgleich ich vermute, daß sie uns einen Besuch machen werden.« – »Aber ihre List ist ja nicht gelungen!« – »Eben deshalb. Sie wollten mich in ihre Hand bekommen und mit meiner Person auch die Ladung. Sie haben sich geirrt und werden infolgedessen, um ihr Ziel zu erreichen, einen Angriff wagen müssen.« – »Da stehen wir doch in großer Gefahr.« – »Wir werden wachsam sein, mein Kind. Wir werden hören, wenn sie kommen, und ich lasse die Geschütze vorher richten, daß sie die ganze Oberfläche des Wassers bestreichen. Jedenfalls bauen sie sich ein Floß.«

Von jetzt an verging über eine halbe Stunde, da erlosch plötzlich das Feuer am Ufer. Die goldenen Lichtstrahlen verschwanden, und es herrschte nun die tiefste Finsternis auf der Flut.

»Nun wird es wohl beginnen«, flüsterte Amy. – »Höchstwahrscheinlich. Gehe in die Kajüte, mein Kind.«

Amy ging schweigend, kehrte aber nach einigen Augenblicken wieder zurück.

»Willst du nicht dortbleiben?« fragte ihr Vater. – »Nein. Ich habe mir einen Revolver geholt, Pa.«

Pa ist die englische Abkürzung für Papa.

»Um Gottes willen, du willst dich doch nicht etwa mit am Kampf beteiligen?« – »Ja, wenn es sein muß«, entgegnete sie mit fester Stimme. – »Nun, so will ich wünschen, daß die Geschützsalven genügen, den Angriff abzuschlagen und daß es nicht zum Handgemenge kommt.«

Da rief auch schon der Steuermann, der fortgesetzt die Wasserfläche betrachtete:

»Sie scheinen zu kommen!« – »Soll ich Licht geben?« – »Ja, es ist Zeit.«

Einige Augenblicke später zischten einige Raketen empor. Man konnte die ganze Oberfläche des Stromes deutlich überblicken. Der Steuermann hatte ganz richtig gesehen. Vom Ufer an bis zur Hälfte des Weges sah man Kopf an Kopf die Mexikaner herbeischwimmen.

»Feuer!« rief Lindsay mit lauter Stimme.

Ein lautes Gekrach war die Antwort; ein prasselndes Plätschern folgte. Die Boote schaukelten auf und nieder. Schrei auf Schrei, Ruf auf Ruf erscholl auf dem Strom, dann ward es wieder still und dunkel.

»Mehr Raketen«, bat der Steuermann.

Eine neue Feuergarbe stieg empor, und da sah man nun, daß die Schüsse nicht vergebens gewesen waren. Viel Feinde zwar schienen nicht getötet worden zu sein, doch konnte man deutlich bemerken, daß sie alle dem Ufer wieder zustrebten. Eine Art von Floß wurde stromab getrieben, und der darauf lag, schien tot zu sein. Hätte Lindsay geahnt, daß dieser Mann Cortejo war, so hätte er sicherlich ein Boot ausgesandt, um sich seiner zu bemächtigen.

»Sie fliehen dem Ufer zu, wir haben gewonnen«, jubelte Amy. – »Für dieses Mal, ja«, antwortete der Lord. »Es steht aber zu erwarten, daß sie einen zweiten Angriff unternehmen.« – »Wollen wir demselben nicht ausweichen?« fragte der Steuermann. – »Auf welche Weise?« – »Wir dampfen ganz einfach eine Strecke aufwärts.« – »Aber wir sollen Juarez hier erwarten.« – »Er wird uns auch finden. Er kann vor morgen nachmittag nicht hier sein, und da befinden wir uns längst wieder hier.« – »Sie glauben nicht, daß uns die Mexikaner folgen werden?« – »Bei diesem Dunkel, durch den Wald und das Ufergestrüpp? Das ist unmöglich. Sie werden sich die Köpfe einrennen.« – »Aber laufen wir nicht auch Gefahr?« – »Nein. Wir haben zwar eine gefährliche Krümmung vor uns, aber wir werden sehr langsam fahren.« – »So will ich Ihnen den Willen tun.«

Der Steuermann gab seine Befehle, die mit halblauter Stimme von Boot zu Boot weitergegeben wurden, und bald setzte sich der Zug in langsame Bewegung.

Drüben am Ufer standen die Mexikaner in tiefer Dunkelheit. Der Anführer ließ zunächst das Feuer wieder anschüren, so daß ein jeder seine abgelegten Oberkleider und Schießwaffen wiederfinden konnte.

Nun stellte sich auch heraus, welchen Schaden die Kartätschen angerichtet hatten. Es fehlten gegen dreißig Mann.

»Der Teufel hole diese Halunken«, knirschte der Mann. »Wie kamen sie dazu, die Raketen steigen zu lassen, gerade als wir unterwegs waren?« – »Sie haben uns gehört«, antwortete einer. – »Unmöglich, das muß eine andere Bewandtnis haben.« – »Ich kann mir denken, welche«, meinte ein anderer. »Sie sind dadurch aufmerksam geworden, daß wir unsere Feuer ausgelöscht haben. Sie haben sich denken können, weshalb wir dies taten.« – »Richtig! So ist es. Wir müssen den Angriff wiederholen, lassen aber die Feuer dieses Mal brennen.« – »Da sehen sie uns kommen.« – »Nein. Wir gehen eine Strecke stromaufwärts, schwimmen so weit wie möglich hinüber und lassen uns dann abwärts treiben, daß wir von der anderen Seite, wo sie uns gar nicht vermuten, an sie kommen.« – »Das wäre wohl praktisch, wird aber zu nichts führen. Da schaut nur hinüber.«

Aller Augen richteten sich nach dem Fluß. Aus den Essen der beiden Dampfer flogen Funken empor; dann hörte man das Rauschen der Räder.

»Donnerwetter, sie dampfen fort«, rief der Anführer. – »Ja, sie entgehen uns.« – »Nun können wir ihnen morgen abermals nachsetzen.« – »Und unsere Verwundeten mitschleppen.« – »Das ist unmöglich, das hält uns auf.« – »Ja, was soll sonst geschehen?« – »Werft sie ins Wasser. Was nützen uns diese Kerle, die doch sterben müssen!«

Dieser Vorschlag wurde angenommen, und trotz allen Bittens und Flehens wurden die Schwerverwundeten in den Strom geworfen, der ihre Körper mit sich fortnahm. Ihr Rufen und Wimmern hörte man noch einige Zeit.

Die Dampfessen warfen jetzt lange Funkenschweife, da die Maschinen mit Holz geheizt wurden. Die Mexikaner sahen diese Garben hinter der Krümmung des Flusses verschwinden.

»Was nun tun?« fragte einer.

Der Führer blickte finster zu Boden und antwortete:

»Es bleibt uns nur eins zu tun, ihnen den Weg abzuschneiden.« – »Geht dies?« – »Ja. Der Fluß macht hier eine große Biegung nach dem Sabina hin. Wenn wir diese Ecke abschneiden, kommen wir ihnen zuvor.« – »Wann brechen wir auf?« – »Heute natürlich nicht, erst mit Tagesanbruch. Jetzt wird geschlafen.«

Diese Leute hatten einen grausamen Mord an ihren eigenen verwundeten Kameraden begangen, aber dennoch schliefen sie ruhig, ohne auch nur eine Wache auszustellen, so sicher fühlten sie sich.


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