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24. Kapitel.

Wenn man vom Rio Grande de City, welche Stadt am linken Ufer des Flusses liegt, stromaufwärts fährt, so trifft man am rechten Ufer bald auf den Ort Mier. Von da an aber legt der Strom eine Strecke von wohl fünfzehn deutschen Meilen zurück, ehe man nach Revilla und Bellevilla gelangt, wo der Sabinafluß in den Rio Grande fällt.

Auf dieser langen Strecke sieht man fast nur Wald an beiden Ufern stehen. Dieser Wald ist mit dichtem Buschwerk eingesäumt, aber in nur geringer Entfernung vom Fluß hört dasselbe auf, und der Hochwald erhebt seine riesigen Stämme wie gigantische Säulen gen Himmel.

Unter diesem Säulendach ist das Fortkommen selbst zu Pferde leicht, während das Ufergestrüpp die Schnelligkeit außerordentlich beeinträchtigt.

Im tiefen Schatten dieses Waldes ritt eine ansehnliche Reiterschar parallel mit dem Flußufer stromaufwärts. Sie waren alle sehr gut bewaffnet, aber ihre Pferde schienen ungewöhnlich angegriffen zu sein.

Zwei ritten an der Spitze. Der eine von ihnen war Pablo Cortejo, der lächerliche Prätendent der Präsidentschaft von Mexiko. Seine Züge waren düster, er schien sich in sehr schlechter Stimmung zu befinden. Auch jedem einzelnen seiner Leute sah man es an, daß sie die üble Laune ihres Anführers teilten. Dieser führte mit seinem Nachbar eine halblaute Unterhaltung, bei der sich mancher Fluch hören ließ.

»Verdammter Einfall, zwei Dampfer vorzuhängen!« sagte Cortejo. – »Das möchte noch sein, Señor«, meinte der andere. »Noch verdammter aber ist der Einfall, niemals an das Ufer zu legen. Wir hatten auf eine nächtliche Überrumpelung gerechnet. Damit aber ist es nichts!« – »Der Teufel hole diesen Engländer! Reiten wir von San Juano mit ihm um die Wette, treiben unsere Pferde fast in den Tod, und alles ohne Erfolg.«– »Wir können ihn nur durch List fangen, Señor.« – »Dein Vorschlag taugt auch nichts. Der Engländer legt doch nicht an.« – »Das soll er auch nicht. Er soll nur selbst an das Ufer kommen.« – »Er wird es nicht tun.« – »Das laßt nur meine Sorge sein, Señor.« – »Also du wolltest das wirklich wagen?« – »Ja; aber natürlich gegen die versprochene Belohnung.« – »Die sollst du haben. Wann kommen wir an den Ort?« – »In einer halben Stunde. Er ist ganz geeignet zu unserem Vorhaben. Ich bin einmal vorübergekommen und habe eine Nacht dort kampiert.« – »Deine Ansicht scheint mit nicht ganz unrichtig zu sein. Fangen wir den Engländer, so ist das andere auch unser. Aber ihn nur erst haben.« – »Wir bekommen ihn, Señor, ich bin überzeugt davon.«

Der Mann hatte die Zeit richtig bestimmt. Nach Verlauf einer halben Stunde erreichten sie eine Stelle, wo der Fluß eine sehr scharfe Krümmung machte. Die dadurch entstandene, in das Wasser hineinragende Halbinsel bestand, wie man sich denken kann, aus felsigem Boden und war nur mit einem niedrigen Pflanzenwuchs besetzt. Diese Stelle bot einen freien Ausblick über die ganze Breite des Flusses, konnte aber auch von diesem aus deutlich überblickt werden. Erst etwa fünfzig Schritt von dem Ufer begann der Wald. Was innerhalb desselben vorging, konnte man vom Fluß aus nicht sehen.

Hier im Wald machte die Truppe halt.

Unterdessen war Lord Lindsay in die Nähe dieser Stelle gelangt, ohne zu ahnen, daß auf dem rechten Ufer ihm eine so bedeutende Schar von Männern folge, die im Sinn hatten, ihm seine Ladung fortzunehmen.

Die Sonne stand ziemlich tief, als der vorderste Dampfer die Krümmung erreichte. Der Lord stand mit Geierschnabel neben dem Steuermann.

»Wie weit haben wir noch bis zur Mündung des Sabina?« fragte der erstere den Jäger. – »Wir werden sie morgen mittag erreichen und dann in den Sabina einbiegen. Wir fahren da allerdings einen Winkel. Wer den Weg kennt und ein gutes Pferd besitzt, kann den Ort, wo wir erwartet werden, in der kürzesten Zeit erreichen. Aber, sehen Sie, Mylord. Steht dort links an der kahlen, offenen Bank nicht ein Mann?« – »Allerdings«, antwortete der Gefragte. »Jetzt setzt er sich nieder.« – »O nein«, meinte der Steuermann. »Der war nicht niedergesetzt, sondern niedergesunken. Der Mann scheint verletzt zu sein.« – »Jetzt erhebt er sich wieder, aber nur höchst mühsam«, versetzte Geierschnabel. »Er winkt. Es scheint, wir sollen ihn mitnehmen.« – »Tun wir das«, bat Amy, die herbeigetreten war. »Wollen wir nicht ein Boot aussetzen, Papa?« – »Ich denke allerdings, daß wir dies tun sollten«, antwortete der Lord. »Wir dürfen einen Unglücklichen, der hilflos in der Wildnis liegt, den Beistand nicht verweigern.« – »Hören wir erst. Er ruft«, sagte Geierschnabel.

Sie sahen, daß der Mann die Hände an den Mund legte.

»Juarez!«

Nur dies eine Wort rief er herüber, und es schien die beabsichtigte Wirkung hervorzubringen.

»Ein Bote des Präsidenten«, sagte der Lord. »Wir müssen ihn aufnehmen. Ich selbst werde mit an das Ufer gehen, um mit ihm zu sprechen.« – »Das werden Sie nicht tun, Mylord. Wir befinden uns hier im Urwald, und Sie dürfen sich nicht exponieren. Es genügt, ein Boot auszusetzen und den Mann zu holen. Und das werden wir jetzt sogleich tun.«

Der Steuermann gab den Befehl, und bald ruderten zwei Männer dem Ufer zu. Man sah von dem kleinen Dampfer aus, der unterdessen beigelegt hatte, was der zweite ebenso tat, daß die beiden Ruderer an das Ufer stiegen, das Boot befestigten und sich zu dem Mann begaben, der liegenblieb. Sie sprachen mit ihm, kehrten dann ohne ihn in das Boot zurück und kamen wieder herbeigerudert. Während der eine im Boot blieb, kam der andere an Bord gestiegen.

»Nun, warum bringt ihr ihn nicht mit?« fragte der Lord. – »Er ist vom Pferd gestürzt, hat sich dabei schwer verletzt. Er leidet fürchterliche Schmerzen, wenn man ihn anfaßt; darum bat er uns, ihn liegenzulassen; er sei tödlich verletzt und werde sowieso sterben müssen. Sein Pferd ist im Wald mit ihm durchgegangen und hat ihn an einen Baum geschleudert. Als er wieder zu sich gekommen war, hat er sich bis an das Ufer geschleppt.« – »Der arme Mann. Man muß ihn dennoch holen«, sagte Amy. – »Warum aber winkte er uns, wenn er unsere Hilfe von sich weist?« fragte Geierschnabel. – »Er ist ein Bote von Juarez. Er hat den Auftrag erhalten, sich am Fluß aufzustellen und Lord Lindsay zu erwarten, um ihm eine höchst wichtige Nachricht mitzuteilen«, antwortete der Mann. – »Das ist nicht sehr wahrscheinlich. Juarez weiß, wo er uns zu erwarten hat. Sendet er uns wirklich einen Boten entgegen, so kann es nur sein, weil er das Rendezvous verändert hat oder Grund findet, uns vor irgendeiner Gefahr zu warnen. Übrigens, warum richtete der Mann da drüben seine Botschaft nicht an dich aus?« – »Er verlangt, Sir Lindsay selbst zu sprechen, weil die Botschaft zu wichtig sei, als daß er sie einem anderen sagen könne.« – »Das kommt mir verdächtig vor. Hast du sein Pferd gesehen?« – »Nein. Es war ja mit ihm durchgegangen.« – »Gab es keine Fußtapfen in der Nähe?« – »Man konnte nichts sehen. Der Boden ist felsig.« – »Den nahen Waldrand hast du nicht beobachtet?« – »Doch; aber es war nichts Verdächtiges zu bemerken.« – »Ich werde wohl hinüberfahren müssen«, meinte der Lord. – »Papa, bleibe da!« bat Amy. »Ich ahne, daß du dich dabei in Gefahr befindest.« – »Ich muß aber doch wissen, was Juarez mir sagen läßt.« – »Der Bote wird es auch einem anderen mitteilen.« – »Nein, das tut er nicht«, bemerkte der Bootsmann. »Er hat mir ausdrücklich aufgetragen, daß er es keinem anderen sagen darf.« – »So muß man noch einmal versuchen, ob er nicht mit herüberkommt.« – »Er kommt nicht. Er behauptet, im Sterben zu liegen. Jede Bewegung und jede Berührung verursachten ihm so ungeheure Schmerzen, daß ein Transport herüber ganz unmöglich ist.« – »Nun, so fahre ich hinüber«, erklärte der Lord. »Ich nehme eine bewaffnete Begleitung mit, so daß ich vollständig sicher bin.«

Geierschnabel spuckte höchst ungeduldig aus.

»Wissen Sie, Mylord, wie viele Leute dort hinter den Bäumen versteckt sein können?« fragte er. – »So gehe ich gar nicht an das Land. Ich kann ja vom Boot aus mit dem Mann sprechen.« – »Aber man kann Sie vom Wald aus mit einer Kugel töten.« – »Um Gottes willen, Papa, bleibe da!« bat Amy.

Da stieß Geierschnabel ein kurzes, lustiges Lachen aus, hustete einige Male, spuckte in den Fluß hinab und sagte:

»Ah, Mylord, da kommt mir ein allerliebster Gedanke. Ich selbst werde gehen.« – »Aber er wird Ihnen nichts sagen, da er mich verlangt.« – »Pah! Ich gebe mich für Sir Henry Lindsay aus.«

Der Lord machte ein verwundertes Gesicht und erwiderte lachend:

»Sie scherzen, Geierschnabel.« – »O nein. Es ist mein völliger Ernst. Der Kerl wird Sie doch nicht kennen?« – »Ich glaube nicht. Aber es wird ein Wagnis für Sie sein.« – »Ein Wagnis? O nein, es ist im Gegenteil ein Spaß, ein Gaudium für mich. Ich kalkuliere, daß ich den Lord nicht übel spielen werde.«

Er zog dabei eine äußerst spaßhafte Miene. Amy sah seine lange Nase, seine sehnige, ausgetrocknete Gestalt, seine bloße, behaarte Brust, seine zerrissene, weit um ihn herum schlotternde Kleidung und sagte heiter:

»Ja, ich glaube auch, daß Sie ein außerordentlicher Lord sein würden.« – »Nun, an der nötigen Gravität sollte es nicht fehlen«, antwortete der Jäger. »Wir sind von ganz gleicher Länge, Mylord. Haben Sie nicht vielleicht einen Anzug, wie man ihn in London oder New York trägt, bei sich?« – »Oh, mehrere.« – »Zylinderhut, Handschuhe, Krawatte und Augenglas, vielleicht auch einen Regenschirm?« – »Das versteht sich.« – »Nun, wollen Sie mir diese Kleinigkeiten nicht gütigst einmal borgen?«

Diese Frage rief eine schnelle und heitere Verhandlung hervor, deren Resultat war, daß Geierschnabel als Lord Lindsay an das Land gehen sollte.

Er begab sich mit dem Engländer nach dessen Kajüte und erschien in kurzer Zeit auf dem Verdeck, mit den erwähnten Kleidungsstücken angetan.

Amy machte Miene, in ein lautes Lachen auszubrechen, er aber gab ihr einen schnellen Wink und sagte in warnendem Ton:

»Still, Mylady! Das Lachen einer Dame dringt sehr weit. Man könnte es drüben am Ufer hören.« – »Aber man kann da doch nicht ernsthaft bleiben«, sagte sie, indem es ihr nur mit Mühe gelang, ihre Heiterkeit zu unterdrücken.

»Haben Sie keine Sorge! Die da drüben sollen sicherlich nicht über mich lachen.« – »Aber Sie sind unbewaffnet«, warnte Lindsay. – »Ich werde mein Messer und zwei Revolver zu mir stecken; das genügt.«

Er begab sich mit langen, wichtigen Schritten nach der Stelle, die er für sich reserviert hatte, und steckte die genannten Waffen in die Taschen.

Er bildete allerdings hier im Urwald eine höchst seltsame Figur. Ein Anzug von grauem Tuch, Gamaschen, Lackschuhe, grauer Zylinderhut, gelbe Handschuhe, Regenschirm und ein Zwicker auf der langen, ungeheuren Habichtsnase gaben ihm ein Aussehen, das selbst in einer großen, belebten Stadt, um wieviel mehr aber hier, im höchsten Grade auffallen mußte.

Als er wieder zurückgekehrt war, meinte er:

»Es sind jetzt zwei Fälle möglich. Entweder der Kerl da drüben ist wirklich ein Bote von Juarez, oder die ganze Geschichte ist eine Falle, die über Ihnen zuklappen sollte.« – »Ich hoffe das erstere«, meinte der Lord. – »Und ich vermute das zweite«, behauptete der Jäger. »Haben Sie recht, so bin ich bald wieder hier. Bestätigt sich aber meine Ahnung, so weiß ich allerdings noch nicht genau, wie das alles enden wird.« – »Was hätten wir in diesem Fall zu tun, Master Geierschnabel?« – »Sie hätten hier vor Anker liegenzubleiben, bis ich wiederkomme.« – »Und wenn Sie nicht wiederkommen?« – »So warten Sie bis übermorgen früh und dampfen vorsichtig weiter. Sie werden Juarez auf alle Fälle finden. Aber ich bitte Sie, strenge Wache zu halten. Nimmt man mich da drüben fest, so hat man die Absicht, sich Ihrer Ladung zu bemächtigen; man wird Sie also während der Nacht zu überfallen versuchen.« – »Wir werden nicht schlafen, sondern wachen.« – »Laden Sie Ihre Geschütze mit Kartätschen, und zwar sofort, aber so, daß man es drüben nicht bemerkt. Die Geschütze sind übrigens mit Wachsleinwand zugedeckt. Man wird also gar nicht merken, was vorgeht.« – »Aber Sie? Ich befürchte sehr Schlimmes für Sie!« – »Haben Sie ja keine Sorge. Mich hält man nicht fest. Selbst wenn man mich gefangennehmen will, werde ich entkommen. Ich eile dann zu Juarez.« – »Aber wie wollen Sie zu diesem gelangen?«

Der Gefragte schoß einen Strahl von Tabaksbrühe über Bord und antwortete:

»Zu Pferde natürlich.« – »Aber Sie haben ja kein Pferd.« – »Ich nicht, aber die da drüben. Übrigens kenne ich die Ecke, die zwischen hier und dem Sabinafluß liegt, sehr genau. Es ist jetzt noch ziemlich licht. Ehe es Nacht wird, erreiche ich die Prärie und bin, wenn das Pferd nur leidlich ist, mit Tagesanbruch bei Juarez. Derselbe wird dann jedenfalls sofort aufbrechen, um diese Kerle beim Schopf zu nehmen.« – »Aber wie soll ich wissen, ob man Sie feindlich behandelt oder ob Sie entkommen sind?« – »Die feindliche Behandlung werden Sie mit den Augen sehen, das Entkommen aber mit den Ohren hören. Sitze ich einmal auf dem Pferd, so werde ich ganz sicher nicht eingeholt. Ist Ihnen der Schrei des mexikanischen Geiers bekannt?« – »Ja, sehr gut.« – »Nun, wenn ich einen solchen Schrei ausstoße, so bin ich frei; beim zweiten sitze ich zu Pferde, und beim dritten bin ich in der festen Überzeugung, daß ich entkommen werde. Hören Sie dann aus der Ferne noch einen vierten Schrei, so ist dies ein Zeichen, daß ich mich zu Juarez unterwegs befinde.« – »Wir werden scharf aufpassen, Master.« – »Gut. Also kann das Abenteuer beginnen.«

Geierschnabel griff in die Tasche seiner funkelnagelneuen Stoffhosen, zog eine riesige Rolle Kautabak hervor und biß sich ein gehöriges Stück herunter.

»Aber, Sir, ein Lord kaut gewöhnlich nicht«, lachte Amy. – »Pah! Ein Lord kaut auch«, antwortete er. »Warum sollte sich gerade ein Lord den feinsten Lebensgenuß versagen? Alle Lords kauen, aber sie lassen es vielleicht den Damen gegenüber nicht merken.«

Mit diesen Worten nahm er den Regenschirm unter den Arm und sprang in das Boot, dann gab er den beiden Männern, die noch wartend im Boot saßen, das Zeichen, die Ruder einzulegen.


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