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Wie wir bereits wissen, war Sir Henry Lindsay im Hafen von El Refugio gelandet, wo der gewaltige Rio Grande del Norte sich als Grenzstrom zwischen Mexiko und Texas in den Meerbusen ergießt.
Trotz der Größe des Rio Grande und der vielen Hilfsmittel, mit denen El Refugio von der Natur aus bedacht wurde, ist diese Stadt dem Verkehr noch fernliegend geblieben. Es hat dies seinen Grund teils in den ungeordneten Zuständen jener Gegenden und teils darin, daß die Binnenlande, die der Strom durchfließt, sich dem Handel, das heißt dem Welthandel, bisher noch verschlossen haben.
So kam es, daß in dem Hafen, als der Engländer ankam, außer einer elenden, brasilianischen Barke keine größeren Schiffe lagen.
Wie wir wissen, hatte Lindsay den Inhalt seines Fahrzeugs umladen lassen, doch hatte Geierschnabel sich in Fort Guadeloupe einer Ungenauigkeit schuldig gemacht. Lindsay hatte zwei kleine Schraubendampfer an Bord, die auf wenig Tiefgang berechnet waren, und dazu eine Anzahl von Booten, die zum Flußtransport seiner Waren bestimmt waren.
Jetzt lagen diese Fahrzeuge ein Stück von der Mündung des Stromes aufwärts vor Anker und warteten auf die Rückkehr Geierschnabels, bereit abzufahren, indem die Lastboote von den beiden Dampfern bugsiert werden sollten.
Jeder von diesen hatte eine kleine, bequem eingerichtete Kajüte. In der einen wohnte Sir Henry und in der anderen Miß Amy.
Beide warteten mit Ungeduld auf ihren Boten und gaben sich der Sorge hin, daß ihm ein Unglück widerfahren sei. Sie saßen in Lindsays Kajüte und sprachen darüber. Es war Abend und bereits dunkel geworden.
»Nach der Berechnung, die er mir machte, müßte er bereits dasein«, meinte Lindsay. »Ich darf keine Zeit verlieren. Wenn er nicht kommt, so lasse ich nur noch den morgigen Tag verstreichen, dann fahre ich.« – »Ohne Führer?« fragte Amy. – »Es sind unter den Leuten zwei, die den Fluß eine Strecke aufwärts genau kennen. Übrigens hoffe ich, Geierschnabel unterwegs zu treffen.« – »Aber wenn ihm auf dem Rückweg ein Unfall zugestoßen ist?« – »So muß ich versuchen, ohne ihn fertigzuwerden.« – »Oder wenn dies auf dem Hinweg geschah und er also gar nicht nach Fort Guadeloupe und zu Juarez gekommen ist?« – »Das wäre allerdings schlimm, denn dann würde Juarez von meiner Anwesenheit gar nichts wissen, und meiner Sendung droht Gefahr. Ich kann aber unmöglich hier liegenbleiben. Wenn die Franzosen Wind bekommen, steht zu erwarten, daß sie hierher eilen und alles konfiszieren.« – »Das soll ihnen vergehen, kalkuliere ich!«
Diese Worte wurden am halb offenstehenden Eingang der Kajüte gesprochen, und als Vater und Tochter ihre Blicke dorthin richteten, erkannten sie den so sehnlichst Erwarteten.
»Geierschnabel«, rief Lindsay sichtlich erleichtert. »Gott sei Dank!« – »Ja, Gott sei Dank!« sagte der Jäger, indem er nähertrat. »Das war eine Fahrt Sir, es ist kein Spaß, so eine Fahrt hinauf und wieder herunter zurückzulegen. Und nun ich ankomme, finde ich Sie ewig nicht. Ich hatte keine Ahnung davon, daß Sie hier an dieser Stelle liegen.« – »Jetzt aber haben Sie mich doch gefunden. Nun sagen Sie mir auch, wie es Ihnen ergangen ist.« – »Danke, Sir, ganz gut.« – »Und Ihr Auftrag?« – »Ist ausgerichtet. Sind Sie zur Fahrt gerüstet?« – »Ja. Zwanzig Mann. Ich denke, das wird genug sein.« – »Ich meine es auch, wenn diese Leute zuverlässig sind.« – »Ich hoffe es. Sie haben also Juarez getroffen?« – »Ja.« – »So waren Sie wirklich bis El Paso del Norte?« – »Nein. Ich versäumte in Guadeloupe einige Tage, um den Schwarzen Gerard zu treffen, wurde aber reichlich befriedigt, denn Juarez kam selbst.« – »Ah! So wußte er von Ihnen und kam Ihnen entgegen?« – »Nein, Sir. Er wußte gar nichts, schätze ich. Er kam sozusagen aus eigenem Antrieb. Da oben sind nämlich eigentümliche Dinge vorgegangen, die ich Ihnen erzählen muß, Sir.«
Seine Augen schweiften dabei suchend in der Kajüte herum. Lindsay bedeutete, dies bemerkend, nach einem Feldsessel und sagte:
»Setzen Sie sich und erzählen Sie!« – »Hm! Ich bin für so lange Erzählungen nicht eingerichtet, Sir. Meine Kehle trocknet beim Reden so leicht ein und würde, wenn Sie...« – »Gut!« unterbrach ihn Lindsay lachend. »Ich werde sogleich für einen Tropfen sorgen, dem es eigen ist, trockene Kehlen anzufeuchten.«
Er öffnete einen Wandschrank, nahm aus demselben eine Flasche nebst einem Glas, goß das letztere voll und sagte:
»Hier, trinken Sie, Herr Geierschnabel. Sie werden übrigens wohl auch Hunger empfinden!« – »Ich leugne das nicht, Sir, doch mag der Hunger warten. Das Essen pflegt mich im Sprechen zu stören. Die Worte wollen heraus und die Schlucke hinab; sie treffen unterwegs zusammen, woraus natürlich nichts Gescheites entstehen kann, schätze ich. Einen Tropfen Rum aber darf man auf die Zunge nehmen, ohne daß er stört.«
Damit nippte er genügsam von seinem Glas. Ein echter Westmann ist niemals ein Trinker wie zum Beispiel ein Matrose.
»Ich bin begierig, was Sie mir erzählen werden«, sagte Lindsay.
Der Yankee nickte mit schlauem Lächeln.
»Und ich bin begierig, wie Sie es aufnehmen werden«, meinte er. – »Also wirklich wichtige Dinge?« – »Ja.« – »Wichtig für unser Unternehmen?« – »Ja, aber auch wichtig in anderer Beziehung.«
Er machte ein höchst geheimnisvolles und dabei schelmisches Gesicht. Da er aber sich nicht sofort weiter erklärte, fragte Lindsay:
»Welche Beziehung meinen Sie?« – »Nun, ich habe gehört, daß es persönliche Beziehungen geben soll.« – »Sie wollen sagen, daß mich das, was Sie mir zu berichten haben, auch persönlich interessieren wird, vom jetzigen Unternehmen abgerechnet?« – »Ja, Sir; gerade dieses meine ich.« – »So erzählen Sie schnell!« – »Also ich kam nach Fort Guadeloupe, zum alten Pirnero – ein prachtvoller, alter Kerl, aber dennoch ein ganz bedeutender Esel, Sir.«
Der Sprecher drehte sich dabei zur Seite, spitzte den Mund und spuckte, jedenfalls in Erinnerung an seine Szenen mit Pirnero, mit einer solchen Sicherheit aus, daß der Strahl hart an Lindsay vorüber und zu dem offenen Fensterchen der Kajüte hinausflog.
Lindsay fuhr mit dem Kopf zurück.
»Bitte«, sagte er. »War es mit diesem Schuß auf mich abgesehen?« – »Keine Sorge, Sir!« antwortete der Jäger ruhig. »Ich pflege dahin zu treffen, wohin ich will, es geht kein Tropfen verloren. Sie befanden sich nicht im geringsten in Gefahr! Also ich kam nach Guadeloupe und fand den Schwarzen Gerard. Ich dachte, er solle mich nach Paso del Norte bringen, aber das war nicht nötig, denn Juarez kam mir zuvor. Das hatte seine Gründe. Wissen Sie, daß der Kampf bereits begonnen hat?« – »Kein Wort.« – »Nun, Juarez beginnt sich zu regen. Er hat die Apachen zur Seite. Diese haben in der Teufelsschlucht eine ganze Kompanie vernichtet, und dann hat Juarez in Fort Guadeloupe den Feind so auf das Haupt geschlagen, daß nur ein einziger entkommen ist, der aber auch skalpiert wurde. Nun ist der Präsident nach Chihuahua, um es zu nehmen...« – »Ah! Hat er dazu genug Mannschaften bei sich?« – »Keine Sorge, Sir! Von Chihuahua wird er nach Coahuila gehen, um dieses zu nehmen, und dann kommt er, um sich mit Ihnen zu treffen.« – »Wo?« – Am Zusammenfluß des Rio Sabina.« – »Wann?« – »Es ist so berechnet, daß wir am Rendezvous zu gleicher Zeit ankommen, wenn Sie morgen früh aufbrechen, Sir.« – »Ich werde noch heute abend aufbrechen, wenn die Finsternis kein Hindernis ist.« – »Sie hindert uns nicht. Der Strom ist breit genug, und das Wasser glänzt auch im Dunkeln, so daß man es vom Land unterscheiden kann.« – »Wird Juarez selbst kommen oder einen Vertreter senden?« – »Er kommt selbst, kalkuliere ich.« – »Natürlich mit hinreichender Bedeckung?« – »Das versteht sich! Es wird kein Mangel an Leuten sein, denn sobald er in Chihuahua erscheint, wird ihm alles zuströmen.« – »Sie wissen also wirklich genau, daß er die Franzosen vernichtet hat?« – »Sehr genau, denn ich war dabei und habe mitgeholfen.« – »Führte Juarez die Seinen persönlich an?« – »Eigentlich ja, obgleich er am Kampf nicht selbst teilgenommen hat. Die Hauptpersonen waren, wenigstens zunächst, der Schwarze Gerard, der das Fort zu verteidigen hatte, und dann Bärenauge, der Häuptling der Apachen.«
Geierschnabel hatte diesem Wort eine kräftige Betonung gegeben. Amy hob schnell das Köpfchen höher und sagte:
»Bärenauge? Welch ein ähnlicher Name!« – »Mit Bärenherz, nicht wahr?« fragte der Jäger. – »Ja, allerdings«, antwortete sie. »Haben Sie diesen letzteren gekannt?« – »Früher nicht, aber jetzt«, erwiderte er in ziemlich gleichgültigem Ton. – »Sie meinen vom Hörensagen?« – »O nein, ich meine persönlich.« – »Was Sie sagen! Sie kennen einen Häuptling namens Bärenherz? Wo haben Sie ihn getroffen?« – »Eben jetzt in Fort Guadeloupe.« – »So ist das ein Zufall. Die Indianer legen sich sehr oft Tiernamen bei. Irgendeiner hat diesen berühmten Namen angenommen.« – »O nein! Ein Indianer nimmt keinen Namen an, der einem anderen gehört.« – »Auch nicht, wenn er von einem anderen Stamm ist?« – »Dann erst recht nicht.« – »Zu welchem Stamm gehörte Bärenherz, den Sie in Guadeloupe sahen?« – »Er ist ein Apache, und Bärenauge ist sein Bruder.« – »Mein Gott, Papa, ist das nicht höchst eigentümlich?« – »Allerdings«, antwortete der Lord, auf dessen Gesicht sich ein außerordentliches Interesse abzuspiegeln begann. – »Herr Geierschnabel, ich muß Ihnen sagen, daß jener Bärenherz seit langen Jahren verschwunden ist.« – »Das stimmt, Sir. Sein Bruder Bärenauge hat deshalb in jeder Woche einen Weißen skalpiert. Er hat ihn lange vergeblich gesucht und war der Meinung, daß der Häuptling von Weißen getötet worden sei.« – »Aber jetzt sagen Sie ja, daß Sie Bärenherz gesehen haben!« – »Allerdings, Sir.« – »Den Verschwundenen?« – »Ja, ihn selbst, keinen anderen.«
Da sprangen beide, Vater und Tochter auf, und der erstere rief:
»Welch eine Nachricht! Herr Geierschnabel, Sie wissen gar nicht, was Sie uns dadurch bringen!«
Der Jäger verbarg ein schlaues Zucken seiner Lippen und beteuerte:
»Es ist der richtige, Sir!« – »Haben Sie nicht erfahren, wo er während dieser Zeit gewesen ist?« – »Wo soll er gewesen sein? Er wird sich in der Savanne oder irgendwo umhergetrieben haben. Diese Rothäute sind ja die reinen Vagabunden.« – »Oh, er war keiner! Sie meinen, daß er bei dem Präsidenten bleibt?« – »Ja.« – »Und vielleicht mit nach dem Sabinafluß kommt?« – »Ich denke es, Sir.« – »Gott sei Dank! Wir werden ihn sehen und mit ihm sprechen. Wir werden erfahren, was er von seinen damaligen Gefährten weiß, und wie es ihm selbst ergangen ist. Haben wir erst eine Spur gefunden, so verfolgen wir dieselbe, soweit es nur möglich ist. Hatte er denn nicht jemanden bei sich, Master Geisterschnabel?«
Der Gefragte machte das unbefangenste Gesicht von der Welt.
»O doch«, antwortete er. »Es war dabei ein Mann, ein gewisser Bernardo Mendosa, eine Indianerin, namens Karja, eine Señorita Emma und...«
Da flog Amy auf ihren Vater zu, warf ihm die Arme um den Hals und rief:
»Hörst du es, Papa! Oh, wir werden Nachrichten erhalten!« – »Diese Señorita Emma schien verlobt zu sein«, fuhr Geierschnabel ruhig fort. »Wenigstens gab es da einen Señor, mit dem sie außerordentlich zärtlich tat.« – »Hörten Sie vielleicht seinen Namen?« – »Ja. Er hatte einen Bruder mit, der Kapitän oder Steuermann gewesen war. Sie heißen Helmers. Der andere Bruder war übrigens ein berühmter Jäger und hatte sich als solcher den Namen Donnerpfeil erworben.«
Da legte der Lord dem Jäger die Hand fest auf die Schulter. Aber diese Hand zitterte, und seine Stimme zitterte auch, als er fragte:
»Waren das alle, alle, die dort beisammen waren?« – »Ich muß nachsinnen, Mylord. Ja, da fällt mir noch einer ein, ein Kerl von einer riesigen Figur, mit einem Bart, der bis zum Gürtel reichte.« – »Wie hieß er? Schnell, schnell!« – »Hm! Er war eigentlich ein Arzt, aber auch ein berühmter Jäger gewesen. Sie hatten ihn sogar den Fürsten des Felsens genannt.« – »Sternau?« fragte oder vielmehr jauchzte Amy. – »Sternau«, nickte der Jäger. »Ja, so hieß er.« – »Weiter, weiter! Gab es nicht noch einen, einen einzigen?« – »Noch einen sehr alten Mann, den sie Don Ferdinando nannten. Ich glaube, der alte Pirnero sagte, daß dieser Señor ein Graf Rodriganda sei.«
Da konnte sich der Lord nicht mehr länger halten.
»Wunderbar, höchst wunderbar!« rief er, seine Tochter fest in die Arme schließend. »Was werden wir alles erfahren, Amy!«
Sie aber wandte sich mitten in der Umarmung mit dem Gesicht zu dem Jäger und fragte:
»Gibt es sonst keinen mehr zu nennen, keinen?« – »Noch einen, Miß, aber der ist nun auch der letzte.« – »Wer ist es? Wer? Um Gottes willen, reden Sie.« – »Das war ein sehr schöner, junger Mann, der trotz der Verschiedenheit der Jahre dem alten Grafen sehr ähnlich sah, ganz außerordentlich ähnlich.«
Die Augen Amys öffneten sich fast unnatürlich weit. Ihr Busen wogte, und die Blässe des Todes breitete sich über ihr schönes Angesicht. Sie wollte sprechen, aber sie brachte vor Erregung kein Wort hervor.
»Wie hieß dieser junge Mann?« fragte der Lord. – »Sternau nannte sich sogar mit ihm ›du‹. Ich glaube, er sagte ›Mariano‹ zu ihm.« – »Ma – ri – ano!« hauchte Amy.
Sie glitt an dem Vater nieder auf die Knie, schlang die Arme um seine Knie und brach in ein herzbrechendes, aber erlösendes Schluchzen aus. Da bog der Lord sich zu ihr herab, legte ihr die Hand auf das Haupt und sagte, während auch ihm die Tränen über die Wangen rollten:
»Mein Kind, mein liebes, liebes Kind! Das ist eine große Erschütterung. Gebe Gott, daß du sie zu überwinden vermagst!«
Geierschnabel schlich sich durch die halbgeöffnete Tür hinaus. Draußen spuckte er sein Priemchen über die ganze Breite des Decks hinweg in das Wasser der Stromes, zog aus der Tasche ein anderes Stückchen Kautabak, schob es langsam in den Mund und murmelte selbstgefällig:
»Das hat du gut gemacht, Alter! Ganz ausgezeichnet gut. Ich bin doch eigentlich ein kluger Kerl! Hätte ich die Nachricht mit einem Male gebracht, so wäre Miß Amy in alle möglichen Ohnmachten gefallen oder gar vor Ärger über diese große Freude gestorben. Diese Frauen sind aus ganz anderem Holz wie wir; aber, hole mich der Teufel, dennoch steht auch mir das Wasser in den Augen. Ei, ei, Geierschnabel, du bist trotz deiner riesigen Klugheit doch auch nichts weiter als eine alte Frau.«
Er schritt auf dem Deck hin und her und spuckte rechts und links in das Wasser hinab, als könne er auf diese Weise seiner Rührung den geeignetsten Ausweg verschaffen, dann schlich er sich wieder zur Kajüte, vor deren Tür er stehenblieb, um zu warten, bis man ihn rufen würde.
Drinnen ertönten halblaute Stimmen wie im Gebet; dann aber hörte er Amy fragen:
»Wo aber ist Geierschnabel?« – »Hier bin ich, Mylady«, sagte er, schnell eintretend. – »Wir müssen noch einige Fragen an Sie tun. Haben Sie über die genannten Personen weiter nichts erfahren, als was Sie uns mitteilten?«
Er schob das Priemchen von einer Seite auf die andere, fuhr sich kratzend mit der Hand in die Haare und antwortete:
»Oh, Mylady, ich kann keine Ohnmacht sehen. Ich falle sonst gar selbst mit um!« – »Ah, Sie wollten mich schonen?« – »Ja, das wird vielleicht das richtige sein, kalkuliere ich.« – »Sie wissen also mehr?« – »Möglich!«
Da faßte sie ihn bei der rauhen Hand und bat im dringendsten Ton:
»Sprechen Sie, sprechen Sie! Jetzt können Sie alles, alles sagen, denn ich bin nun vorbereitet, alles zu hören.« – »Auch von diesem Mariano?« fragte er mit schalkhaftem Lächeln. – »Auch von ihm«, antwortete sie errötend. »Aber warum sprechen Sie da gleich diesen Namen aus?« – »Weil Señor Mariano das reine Pulver war, als ich sagte, daß ich ein Bote von Sir Henry Lindsay sei.« – »Was sagte er?« – »Hm, als er erfuhr, daß Miß Amy sich bei ihrem Vater befinde, da wollte er mit mir in mein Kanu, um mit nach El Refugio zu gehen.« – »Warum brachten Sie ihn nicht mit?« – »Weil mein Kanu nur für einen Mann gebaut ist, und weil die anderen ihm abredeten. So werden Sie ihn erst bei Juarez sehen, aber er hat mir so viele Grüße aufgetragen, daß ich glaube, ich habe unterwegs einige Millionen davon verloren. Es bleiben aber noch so viele übrig, daß man die ganze Erde damit tapezieren könnte.« – »War er gesund? Wie sah er aus? Wie war er gekleidet?« – »Er war gesund; er sah aus wie der Erbe eines gräflichen Hauses und war ganz so gekleidet, wie es hier in Mexiko Sitte ist.« – »Haben die genannten Personen sich auch mit an dem Kampf beteiligt?« fragte der Lord. – »Ja. Ich glaube, ohne ihre Hilfe wäre es gar nicht gelungen, der Franzosen Meister zu werden. Das weiß Juarez auch anzuerkennen.« – »Gott!« sagte Amy ängstlich. »Sie gehen mit nach Chihuahua. Sie werden jedenfalls dort auch zu kämpfen haben und in Coahuila abermals.« – »Tragen Sie keine Sorge um diese Leute, Mylady. Sie scheinen sich freiwillig unter das Kommando Sternaus begeben zu haben, und der ist ein Kerl, der sehr genau weiß, was er tut. Er wird sich und die Seinen keiner unnötigen Gefahr aussetzen, davon bin ich überzeugt.« – »Aber wo haben denn nur die Verschwundenen während dieser langen Zeit gesteckt?« – »Es ist am besten, ich erzähle Ihnen gleich alles, was ich darüber erfahren habe. Aber, Mylord, meine Gurgel ist wieder so hart und spröde, daß...« – »Hier steht ja die Flasche«, fiel Sir Lindsay ein. »Schenken Sie sich nur ein!«
Geierschnabel tat, wie ihm geheißen war, nippte leise und begann dann seinen Bericht.
Es ist unnötig zu sagen, daß die beiden Zuhörer mit der gespanntesten Aufmerksamkeit auf jedes seiner Worte lauschten. Alle ihre Sinne waren sozusagen jetzt im Gehör vereint. Als der Jäger geendet hatte, fügte er hinzu:
»So, das ist alles, was ich weiß. Das Ausführliche werden Sie von den Herren selbst erfahren, wenn wir den Sabina erreicht haben.« – »Also Señorita Emma und Karja kommen auch mit nach Coahuila?« fragte Amy. – »Jedenfalls.« – »Und nach dem Sabinafluß?« – »Das glaube ich nicht. Aber man reitet in einem Tag hin. Sie können also die Damen sehr leicht zu sehen bekommen.« – »Ich habe Sie noch viel, viel zu fragen...« – »Oh, Mylady, ich weiß nichts mehr!« versicherte er.– »Nein, Sie wissen noch vieles. Man muß nur danach fragen.« – »Sie können mich aufschneiden, so weiß ich nichts mehr!« – »O doch! Ihr Männer denkt nur nicht gleich an alles. Es gibt so viele Nebenumstände, die Ihr für überflüssig haltet, die aber für uns Damen von großer Wichtigkeit sind. Ihr besinnt Euch nicht darauf; wenn man Euch aber daran erinnert, so erhält man dennoch eine Antwort.« – »Es gibt gewiß und wahrhaftig nichts weiteres, worauf ich mich besinnen könnte«, beteuerte er. »Sie können mir das glauben, kalkuliere ich.« – »Nun, so will ich es Ihnen beweisen. Was für Augen hat jene Señorita Resedilla, von der Sie erzählten?« – »Blaue.« – »Und die beiden jungen Mexikanerinnen Pepi und Zilli?« – »Schwarz, sehr schwarz.« – »Wo hatte jener kleine André, den Sie einen Deutschen nannten, seine Heimat?« – »In Rheinbayern. Und ein Bruder von ihm ist ein Jäger bei einem alten Hauptmann und Oberförster in Mainz.« – »Vielleicht in Rheinswalden?« fragte sie schnell. – »Ja, so heißt das Ding.« – »Der Hauptmann heißt Rodenstein?« – »Ich glaube fast, daß dies der richtige Name ist.« – »Welch ein Umstand! Man sieht so recht deutlich, daß Gott der Herr die Fäden in seiner allmächtigen Hand hält. Sie aber bemerken, daß es doch noch vieles gibt, was Sie mir mitteilen können.« – »Hm, es scheint so. Wer denkt auch daran, bei einer Erzählung zu sagen, von welcher Farbe die Augen eines Menschen sind!« – »Nach solchen Dingen eben werde ich mich erkundigen; sie haben für mich einen hohen Wert. Könnten wir doch aufbrechen! Ist es nicht möglich?« – »Mylord fragte bereits. Es ist nicht schwer.« – »Aber Sie werden ermüdet sein?« – »Pah, ein guter Jäger kennt keine Müdigkeit. Wenn Sie aufbrechen wollen, Mylord, so stehe ich zur Verfügung. Sind Ihre Leute beisammen?« – »Alle. Auch die Kessel sind geheizt, wie Sie wohl bemerkt haben.« – »Sie verteilen die Frachtboote an die beiden Dampfer?« – »Natürlich.« – »So gibt es also zwei Züge. Das ist unangenehm, geht aber nicht anders. Ich werde als Pilot auf dem vordersten Dampfer sein. Und Sie?« – »Auf demselben Dampfboot.« – »Und Mylady?« – »Ihre Kajüte befindet sich auf dem anderen Dampfer.« – »Das gefällt mir nicht. Könnte nicht Mylady auf unserem Dampfer sein?« – »Warum? Es würde das die Bequemlichkeit stören.« – »Aber Myladys Sicherheit erhöhen.« – »Sie trauen also nicht?« – »Ich bin glücklich auf und ab gekommen; aber in diesem Land und bei diesen Zeiten darf man nicht unvorsichtig sein. Wir werden daher niemals, wie man es sonst tut, des Abends am Ufer vor Anker gehen, sondern stets in der Mitte des Stromes bleiben. Sind Ihre Leute gut bewaffnet?« – »Ja, alle. Übrigens habe ich Geschütze auf den Booten stehen. Wir haben also gar nichts zu befürchten, Master Geierschnabel.« – »Das sollte man denken, doch wollen wir trotzdem nichts versäumen. Treffen Sie die Vorbereitungen zur Abfahrt, ich werde nach den übrigen sehen.«
Der Jäger begab sich von Boot zu Boot und traf unter den für die Fahrt angeworbenen Leuten mehrere Bekannte. Auch die anderen machten den Eindruck auf ihn, daß man sich auf sie verlassen könne. Er erteilte dem Steuermann des zweiten Dampfbootes den Befehl, sich möglichst dicht hinter dem ersten Train zu halten, und kehrte dann zu dem Lord zurück.
Nun wurden die Schlepptaue ausgegeben und die Kähne aneinandergehängt. Die Bootspfeife gab das Zeichen, die Anker zu heben, und bald setzten sich die beiden Züge, einer hinter dem anderen, stromaufwärts in Bewegung.
Es war zwar dunkel, aber einige Sterne leuchteten, und der eigentümliche Glanz des Wassers bot Anhalt genug, sich zu orientieren.
Vorn am Bug stand Geierschnabel, um fleißig auszuschauen, und neben ihm hatte Amy Platz genommen. Sie fragte ihn nach hundert und aber hundert Kleinigkeiten, und jetzt sah der Jäger ein, daß es noch außerordentlich viel zu berichten gab, was er gar nicht für der Rede wert gehalten hatte.