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Während also Sternau nach Amerika und der Herzog von Olsunna auf der Eisenbahn nach Deutschland dampften, glaubten die Bewohner von Rheinswalden sicher nicht, daß ihnen eine Gefahr drohe, und dennoch war es so.
Zu Genheim bei Bingen saß Graf Alfonzo am Fenster und blickte hinaus auf die vor ihm sich ausbreitenden Gärten und Felder. Er war sehr lange krank gewesen, trug auch jetzt noch den Arm in der Binde, fühlte sich aber sonst ziemlich wohl und hergestellt.
In seiner Nähe stand Gerard Mason. Auch er trug den Arm in der Binde; der Schlag der Eisenbahnschiene war schlimmer gewesen, als er es vorher eingestanden hatte; doch konnte ihn das nicht mehr hindern, für seinen Herrn tätig zu sein. Er empfing eben jetzt einen Befehl desselben. Er sollte sich nämlich nach Rheinswalden begeben und dort Erkundigungen einziehen.
Graf Alfonzo schärfte ihm alle Einzelheiten ein und machte ihn besonders darauf aufmerksam, daß er ja mit dem Jägerburschen des Oberförsters bereits bekannt sei und sich nur an diesen zu wenden brauche.
Gerard fuhr also mit der Bahn nach Mainz und ging von da nach Rheinswalden, um sich das Opfer anzusehen, das durch ihn sterben sollte. Das Glück war ihm günstig, denn als er so die Straße durch den Wald dahinschritt, trat Ludwig zwischen den Bäumen hervor und erkannte ihn sogleich.
Sie begrüßten sich und sprachen, weiterschreitend, zunächst über den Eisenbahnunfall. Dies gab dem Franzosen Gelegenheit, von den Verletzungen zu sprechen, die er und sein Herr erlitten hatten. Er habe gehört, daß es hier einen Doktor Sternau gäbe, der ein berühmter Arzt sei; zu ihm wolle er gehen, um sich nochmals untersuchen zu lassen, ob sein Arm richtig behandelt worden sei. Auch kenne er den Doktor Sternau bereits von Paris aus.
Er erfuhr nun von dem redseligen Ludwig, daß Sternau nicht mehr hier sei. Der Jagdgehilfe freute sich, einmal so recht von der Leber weg sprechen zu können, und erzählte alles, was er von den Bewohnern des Schlosses wußte. So erfuhr denn der Garotteur von Rodriganda, von Cortejo, von Henrico Landola, der jetzt gesucht wurde, von Sternau und Helmers, die zur See waren.
Sonderbar! Alle diese Namen standen in dem Notizbuch, das Gerard Mason sich abgeschrieben hatte. Dieses Buch mußte mit all den abenteuerlichen Begebenheiten in direkter Beziehung stehen. Es lag ihm sehr daran, den Zusammenhang zu erfahren, doch handelte es sich zunächst nur noch darum, Gräfin Rosa zu sehen, um sein Opfer genau kennenzulernen.
Darum sagte er dem Jäger, daß er Frau Doktor Sternau sprechen wolle, da Sternau selbst nicht zugegen sei, und als sie Rheinswalden erreicht hatten, meldete ihn Ludwig an. Frau Sternau, ihre Tochter und Rosa befanden sich in der Wohnung der ersteren, als Ludwig sagte, daß ein Franzose aus Paris sie zu sprechen wünsche; es sei derjenige, der damals bei dem Eisenbahnunfall von der Schiene verletzt worden sei. Der Fremde erhielt die Erlaubnis, einzutreten; als er drei Damen gegenüberstand anstatt nur einer, überkam ihn eine Art von Verlegenheit, doch überwand er dieselbe und machte eine ziemlich gelungene Verbeugung.
»Verzeihung, Madame«, sagte er zu Frau Sternau. »Ich wollte eigentlich mit dem Herrn Doktor Sternau sprechen.« – »Der ist leider verreist«, entgegnete Rosa in französischer Sprache sehr freundlich zu ihm. – »Ich hörte es; aber ich bringe ein Herz voll Dankbarkeit mit, das ich Ihnen zu Füßen legen möchte, da der Herr Doktor nicht selbst anwesend ist.« – »Ah, Sie kennen ihn? Sie sind Franzose, wie mir der Diener sagte?« – »Ja.« – »Und wohnen in Paris?« – »Allerdings.« – »So hat er Ihnen gewiß in einer Krankheit beigestanden?« – »Nein. Hat der Herr Doktor Ihnen nicht erzählt von der armen Annette Mason?« – »Ich kenne den Namen nicht.« – »Welche sich in die Fluten der Seine stürzte?« – »Nein. Mein Gott, welch ein armes Kind!« – »Und der er nachsprang, mitten in der dunkelsten Nacht und in einer der tiefsten und gefährlichsten Stellen?« – »Kein Wort hat er davon erzählt! Er ist ihr nachgesprungen?« – »Ja, und er hat sie herausgeholt und auf seinen Armen zu einer braven Frau getragen. Und dann hat er ihr bei dem Professor Letourbier eine gute Stellung verschafft. Das alles hat er getan.« – »Und davon wissen wir nichts, gar nichts!« – »Nun, ich bin zufällig in der Nähe, und so kam ich, um ihn einmal zu sehen und ihm zu danken. Wie schade, daß ich ihn nicht sprechen kann!«
Rosa hatte sich erhoben und war ihm nahe getreten. Ihr schönes Antlitz strahlte von Glück über die Heldentat, die von dem geliebten Mann berichtet wurde.
»Sie müssen ein braver Mann sein, da Sie so dankbar sind«, sagte sie. »Wann ist das geschehen, was Sie hier erzählen?« – »Kurz vor seiner Abreise von Paris nach hier.«
Gerard blickte in Rosas Augen und fühlte sich überwältigt von dem Strahl, der aus denselben drang. Das also war Sternaus Frau; das war Rosa de Rodriganda, die er verschwinden lassen sollte! Nie, niemals!
»Wir danken Ihnen! Sie haben uns mit Ihrer Erzählung eine große Freude bereitet. Können wir Ihnen irgendeine Bitte erfüllen?« fragte sie. – »Ich habe keinen Wunsch, als daß es Ihnen stets wohlergehen möge, gnädige Frau.« – »Ich danke, mein Freund!« – »Es gibt Menschen, die Ihnen das Gegenteil wünschen ...« – »Warum denken Sie dies?«
Gerard, der den Blick nicht von ihr wenden konnte und von ihrem Anblick immer mehr berauscht wurde, fuhr fort:
»Es gibt sogar Leute, die Ihnen nach dem Leben trachten.« – »Mein Gott!« rief sie, erschrocken zurückweichend. »Ja, es gibt Leute, die Mörder dingen und bezahlen, um Sie und den Herrn Doktor verschwinden zu lassen, aber Gott hat Sie in seinen besonderen Schutz genommen; er wird nicht zugeben, daß Ihnen ein Haar Ihres Hauptes gekrümmt werde.« – »Sie erschrecken mich! Wovon sprechen Sie?« – »Ich will es Ihnen sagen, Madame«, antwortete er, ganz trunken von der Nähe eines so herrlichen Wesens. »Hier in der Nähe wohnt Graf Alfonzo de Rodriganda unter einem falschen Namen; er hat aus Paris einen Mörder mitgebracht, der Sie töten soll, aber dieser Mann ist nur mit nach Deutschland gegangen, um Sie zu warnen. Mehr kann ich nicht sagen, adieu!«
Ehe ihn jemand halten oder fragen konnte, war er verschwunden. Die drei Damen standen einander regungslos gegenüber.
»Was war das?« fragte Rosa. – »Gott, bin ich erschrocken!« seufzte die Mutter. – »Ist das Wahrheit oder Mystifikation?« fragte Fräulein Sternau. – »Das war Wahrheit«, sagte Rosa. – »Ja, dieser Mann war kein Lügner!« stimmte Frau Sternau bei. – »Aber wer war er?« – »Er nannte den Namen seiner Schwester, Annette Mason.« – »War er selbst der gedungene Mörder?« – »Seine Worte machen es wahrscheinlich!« – »Also der Graf ist in der Nähe!« – »Aber wo?« – »Mein Kind, rufe einmal Ludwig!« bat die bedachtsame Mutter.
Die Tochter rief den Gehilfen. Er erschien augenblicklich.
»Wissen Sie, wie der Mann heißt, den Sie eben zu uns brachten?« fragte Frau Sternau. – »Nein.« – »Auch nicht, was er ist?« – »Er ist Diener.« – »Bei wem?« – »Bei einem italienischen Marchese.« – »Wo befindet sich dieser?« – »Beim Lehrer Wilhelmi in Genheim.« – »Bei Wilhelmi? Wie kommt ein Marchese in das Schulhaus?« – »Er hat beim letzten Unglück den Arm gebrochen, und der Arzt ließ ihn hinschaffen.« – »Hast du ihn gesehen?« – »Nein.« – »Oder gehört, ob er jung ist oder alt?« – »Nein.« – »Hm! Laß anspannen!« – »Sogleich?« fragte er, als er sah, daß es sich um etwas Wichtiges handeln müsse. – »Sofort!« beschied sie ihn. Ludwig eilte hinaus, und Rosa fragte die Mutter:
»Sie wollen ausfahren?« – »Ja, und Sie sollen mit.« – »Wohin?« – »Nach Genheim, um uns diesen Marchese anzusehen.« – »Das ist auffällig, Mama!« – »Nein. Der Lehrer ist ein Cousin von mir.« – »Und wenn es der Graf wäre, der sich bei ihm befindet?« fragte Rosa besorgt. – »So lassen wir ihn auf der Stelle festnehmen.« – »Aber die Gefahr, in die wir uns begeben! Ich habe einen anderen Vorschlag.« – »Welchen?« – »Wir fahren nach Mainz zum Staatsanwalt und nehmen denselben mit.« – »Kind, das ist ein sehr kluger Einfall. Machen wir schnell Toilette, daß wir keinen Augenblick versäumen.« – »Ist Eile so dringend nötig?« – »Ja, sonst fliegt der Vogel aus.« – »Gerade jetzt?« – »Gewiß. Dieser brave Mann ist ehrlich. Er hat uns gewarnt, aber er wird es auch dem Grafen sagen, daß er uns gewarnt hat. Und was dann geschieht, das kann man sich denken.« – »Er wird sofort abreisen.« – »Und lieber alles andere im Stich lassen, denn wenn er festgenommen würde, so hätte er sein ganzes Spiel verloren. Darum müssen wir eilen!«
Gerard hatte das Zimmer und das Schloß verlassen und wollte nach Mainz zurückkehren, aber er war so entzückt, so aufgeregt, daß er beschloß, nicht die Straße zu gehen, sondern, den Wald durchquerend, die Einsamkeit zu genießen.
So wanderte er langsam in der angenommenen Richtung weiter, als er plötzlich eine Blöße erreichte, auf der ein einsames Häuschen stand. Es war die Wohnung des Waldhüters Tombi.
Dieser baute davor an einem der Läden herum, als er den Fremden kommen sah. Beide standen und blickten einander an.
»Wer sind Sie?« fragte Tombi. – »Ein Fremder, der durch den Wald nach Mainz will«, antwortete Gerard. »Und wer sind Sie?« – »Ich bin Forsthüter.« – »Bei wem?« – »Beim Herrn Hauptmann von Rodenstein. Haben Sie es so eilig, daß Sie gerade durch den Wald gehen wollen?« – »Nein, es war eine kleine Laune von mir.« – »Sie sprechen das Deutsche recht fremd.« – »Ich bin Franzose.« – »Ah, und ich Spanier.« – »Spanier? Ist's wahr?« – »Ja, ich bin ein spanischer Zigeuner.«
Gerard dachte sofort an das geschriebene Notizbuch. Was der Waldhüter las, erfuhr sicherlich niemand, denn wer kümmerte sich um einen Zigeuner.
»Darf man bei Ihnen ein bißchen ausruhen?« fragte er daher. – »Gewiß! Kommen Sie mit herein in die Stube.«
Die Männer traten ein und unterhielten sich dort über alle möglichen Gegenstände. Der Waldhüter erzählte, daß er trotz seiner Jugend in Spanien, Frankreich, Italien, Deutschland, Polen und anderen Ländern gewesen sei, und da fragte Gerard:
»Aber sprechen Sie denn auch die Sprachen dieser Länder?« – »So ziemlich!« – »Und schreiben und lesen?« – »So ziemlich!« – »Lesen Sie spanisch?« – »Ja.« – »Ich habe da ein altes Heft gefunden, das spanisch sein muß. Wollen Sie es einmal ansehen?« – »Zeigen Sie!«
Gerard gab dem Hüter das Buch hin, das er bei sich stecken hatte, dieser nahm und las es. Je weiter er hinein kam, desto eifriger wurde er, bis er es endlich, als er ganz damit fertig war, ruhig in seine eigene Tasche steckte.
»Nun?« fragte Gerard. – »Es ist spanisch.« – »Was ist der Inhalt?« – »Das ist nichts für Sie.« – »Oho! Sie haben wohl die Güte, mir das Heft zurückzugeben!« – »Nein, diese Güte werde ich nicht haben.«
Da richtete sich Gerard, der Garotteur, langsam auf und fragte:
»Darf ich erfahren, warum Sie mir die Rückgabe verweigern?« – »Weil dieses Heft nicht Ihr Eigentum ist«, antwortete Tombi gleichmütig. – »Ach! Wem sollte es denn sonst gehören?« – »Dem Grafen Alfonzo de Rodriganda. Ich ersehe es aus dem Inhalt.« – »Nun gut, so habe ich es ihm wiederzugeben, denn er hat es verloren.« – »Das ist nicht wahr!« – »Nicht wahr?« rief Gerard zornig. »Mein Herr, reizen Sie mich nicht; ich bin nicht gewohnt, Widerstand zu finden.« – »So haben wir beide ganz dieselben Gewohnheiten, wie es scheint«, sagte Tombi ruhig. »Eine solche Handschrift hat kein Graf; man sieht, daß dies hier nur eine Abschrift ist. Sie haben das Buch gefunden und abgeschrieben. Dem Grafen gaben Sie das Original zurück, die Abschrift aber behielten Sie, um sie zu verwerten.«
Der einfache Waldhüter stand wie ein Examinator vor dem riesigen Garotteur. Dieser blickte ihn mit zornig glühenden Augen an und erwiderte:
»Und selbst wenn es so wäre, gehörte doch diese Abschrift mir. Sie ist ein Produkt meiner Arbeit, und Sie werden sie mir herausgeben!« – »Nein, das werde ich nicht«, antwortete Tombi. – »So werde ich Sie zu zwingen wissen!« rief Gerard, indem er die mächtigen Fäuste ballte und drohend erhob.
Da lächelte der Waldhüter und sagte:
»Sie kennen mich nicht, sonst würden Sie in einem anderen Ton mit mir sprechen. Aber im Gegenteil habe ich das Glück, Sie zu kennen, und das kommt mir sehr zustatten. Sie werden nie wagen, Hand an mich zu legen. Ich erkannte Sie sofort, als ich Sie sah, obgleich ich mich wundere, Sie hier in Deutschland zu sehen.« – »Ach, wirklich? Sie wollen mich kennen?« fragte Gerard erschrocken. – »Ja. Sie sind ein Schüler unseres famosen Friseurs, den wir Papa Terbillon nennen! Habe ich recht?«
Mason trat einen Schritt zurück und rief:
»Bei Gott, Sie kennen Terbillon?« – »Ja. Sie sind Gerard Mason, der berühmte Garotteur.«
Gerard erbleichte; Tombi aber fuhr in beruhigendem Ton fort:
»Erschrecken Sie nicht, wir sind ja Freunde! Papa Terbillon gehört zu uns. Ich bin Zigeuner; ich bin Tombi, der Sohn der Mutter Zarba. Sie kennen Sie doch?« – »Zarba?« rief der Franzose erstaunt. »Oh, wer sollte diese nicht kennen! Sie ist überall und nirgends; sie ist nicht nur die Königin der Zigeuner, sondern sie beherrscht alle Leute, die vom Gesetz aus der Gesellschaft gestoßen sind.« – »Ja, sie hat ein Verzeichnis aller ihrer Verbündeten. Ihr Name, Monsieur Gerard, ist auch mit dabei. Ich war längere Zeit in Paris, daher kenne ich Sie. Sie wissen nun, daß Sie mir vertrauen können. Wie sind Sie zu diesem Buch gekommen?« – »Das darf ich nicht sagen.« – »Warum nicht?« – »Ich habe nicht das Recht, einem Mann zu schaden, dem ich diene. Sollte ich aber seinen Dienst verlassen, so bin ich bereit, Ihnen alles mitzuteilen.« – »Gut. Sie sind mir sicher. Ich will nicht forschen, was Sie nach Deutschland führt, es hat ein jeder das Recht, seine Geheimnisse zu bewahren. Muß ich es dennoch später wissen, so werden Sie es mir doch sagen. Für jetzt genügt mir der Besitz dieses Buches, das für mich sehr wichtig ist, und ich bin überzeugt, daß Sie es mir nun, da Sie mich kennen, freiwillig überlassen werden. Wie lange gedenken Sie, sich in Deutschland aufzuhalten?« – »Ich reise baldigst ab.« – »So weiß ich, daß Sie bald in Paris zu finden sind. Der Sohn Zarbas, der zukünftige König der Gitanos, hat das Recht, eine solche Rücksicht zu fordern. Haben Sie sonst noch einen Wunsch oder einen Befehl?« – »Nein. Lassen Sie uns also als Freunde scheiden, nachdem wir uns einen Augenblick lang scheinbar als Feinde gegenübergestanden haben.«
Die Männer nahmen Abschied voneinander.
Als der Franzose die Hütte verlassen hatte, schlug Tombi das Buch abermals auf, überflog den Inhalt und sagte mit triumphierender Miene:
»Welch ein Zufall! Welch ein Glück! Da kommt dieser Mason, der mich nicht erkannt hat, weil ich in Paris falsche Frisur trug, aus Frankreich nach Deutschland, weiß nicht, welchen Schatz er besitzt, und gibt mir mit demselben den Schlüssel zu dem Rätsel, das wir bisher vergebens zu lösen trachteten! Jetzt endlich ist es in unsere Hand gegeben, klar zu blicken und mit der Rache zu beginnen. Das muß ich Zarba sofort melden.«
Auch Gerard wunderte sich über das Zusammentreffen, obgleich es ihm bereits oft begegnet war, daß er in einem scheinbar völlig fremden Menschen ein Mitglied jener großen Verbrüderung kennengelernt hatte, welche sich über ganze Länder verbreitet hatte und zu der auch Zarba mit den Ihrigen gehörte.
Er ging durch den Wald und dachte an Rosa. Dieses herrliche Weib hatte einen tiefen, nicht sinnlichen, sondern ethischen Eindruck auf ihn gemacht. Diese Frau sollte er ermorden? Nein und abermals nein! Sie war ja noch dazu die Frau desjenigen Mannes, der seine Schwester vom Tod des Ertrinkens errettet hatte.
Aber an seinem gegenwärtigen Herrn wollte er auch nicht zum Verräter werden. Er war ein gewalttätiger Mensch, der vor keinem Raub, vor keinem Mord zurückbebte, aber eine Lüge machte er nicht gern. Darum beschloß er, seinem Herrn alles zu sagen.
Er kam erst spät am Abend nach Hause. In dem Zimmer des Grafen war kein Licht; dieser befand sich bei der Familie des Lehrers.
»Ach!« sagte der Garotteur zu sich. »Das paßt! Töte ich die schöne Frau nicht, so komme ich um die Summe, die ich noch zu erhoffen habe. Dieser sogenannte Marchese d'Acrozza ist ein Schurke, ich trete aus seinem Dienst, und dann ist es keine Untreue, wenn ich mich bezahlt mache.«
Er schlich sich also leise zur Wohnung Alfonzos empor und brannte das Licht an. Da stand der Handkoffer, in dem die Wertsachen aufbewahrt wurden, der Schlüssel steckte dran. Gerard öffnete und sah eine gefüllte Brieftasche, deren Inhalt er untersuchte. Sie enthielt sechzigtausend Franken. Daneben lagen zwei Beutel, mit Goldstücken gefüllt.
»Eine schöne Summe!« schmunzelte der Garotteur. Jetzt kann ich Hochzeit machen und ein ehrlicher Mann werden. Wie wird sich mein Mädchen freuen! Es ist kein Verbrechen, dieses Geld zu nehmen. Der Marchese, der sicherlich nicht d'Acrozza, sondern Rodriganda heißt, benutzt es, um Verbrechen auszuführen, ich aber benutze es, um glücklich zu sein und glücklich zu machen!«
Er steckte darauf alles zu sich, verschloß den Koffer, verlöschte das Licht und schlich sich leise wieder zur Treppe hinab. Nun erst tat er, als ob er von seinem Ausflug zurückkehrte, trat unten ein und wurde von seinem Herrn bedeutet, ihm nach oben zu folgen. Als sie aber aus dem Wohnzimmer des Lehrers in den Hausflur traten, sagte er zu Alfonzo:
»Monsieur, gehen wir nicht hinauf in das Zimmer! Was wir zu sprechen haben, das eignet sich am besten für die dunkle Nacht.«
Darauf trat er hinaus ins Freie, und Alfonzo folgte ihm. Als sie sie nun überzeugt hatten, daß kein Lauscher vorhanden sei, fragte Alfonzo:
»Warum führst du mich nach hier? Was gibt es so Geheimnisvolles?«
Der Gefragte stellte sich breitspurig vor ihn hin, steckte die Hände in die Taschen, in denen sich das Geld befand, und sagte im Vollgefühl eines reichen Mannes, der mit einem armen Schlucker spricht:
»Sehr vieles gibt es, sehr vieles, was Sie gar nicht erwarten werden, Monsieur. Unsere Mission ist nämlich gescheitert!« – »Alle Teufel! Ist Rosa de Rodriganda nicht in Rheinswalden?« – »Sie ist da. Ich habe aber von meinem Bekannten, dem Jäger, so vieles gehört, was der Sache eine ganz andere Wendung gibt.« – »So rede!« gebot Alfonzo drängend. – »Hören Sie zunächst, daß Rosa de Rodriganda verheiratet ist!« – »Alle Teufel!« rief der Graf. »Mit wem?« – »Mit Herrn Doktor Sternau. Und dieser ist verreist, um einen Seekapitän Landola aufzusuchen.« – »Tollheit!« sagte Alfonzo; seiner zitternden Stimme war der Schreck leicht anzumerken. – »Warten Sie, Monsieur, es kommt noch toller! In Rheinswalden weiß man, daß ein gewisser Graf Alfonzo de Rodriganda von Spanien nach Deutschland gekommen ist.« – »Bist du verrückt?« – »Nein«, kicherte der Franzose listig, »man hat mir kein Gift gegeben, wie der Gräfin Rosa, ich bin also noch nicht wahnsinnig.« – »Mensch!« brauste Alfonzo auf. – »Pst, Monsieur, lassen Sie uns leise reden!« warnte Mason in überlegenem Ton. »In Rheinswalden weiß man sogar, daß dieser Don Alfonzo sich bereits in Deutschland befindet, ja, daß er hier unter dem Namen eines Marchese d'Acrozza bei einem Lehrer wohnt.«
Alfonzo antwortete nicht. Er brauchte einige Zeit, um sich zu sammeln, dann sagte er:
»Ist das möglich?« – »Ja. Ich glaube sogar, daß man bereits unterwegs ist, um diesen Alfonzo, der aber ein geborener Cortejo ist, festzunehmen.«
Da verriet sich der Spanier, indem er sagte:
»Pah, sie mögen kommen! Sie werden mich nicht erkennen, denn ich trage ja die Maske, die mir Papa Terbillon angefertigt hat.« – »Oh, diese Maske ist bereits sehr hinfällig geworden, Monsieur. Die Schminke entfärbt sich, die Falten trocknen aus, und der Bart wird von dem natürlichen Haar, welches nachwächst, abgestoßen. Ein leidlicher Polizist wird sofort erkennen, daß alles Kunst ist; ich bin überzeugt davon.« – »So gehen wir von hier fort und suchen einen sicherern Ort. Ich verlasse Deutschland jedenfalls nicht eher, als bis diese Rosa tot ist!« – »Sie wird nicht sterben; sie ist bereits gewarnt, Monsieur.« – »Ah! Wer sollte sie gewarnt haben? Es weiß niemand von unserem Vorhaben!« – »Ich selbst habe sie gewarnt«, sagte Gerard aufrichtig. – »Du?« fragte Alfonzo. »Mensch, fällt es dir ein, Spaß mit mir zu treiben?«
Da trat der Franzose näher, legte ihm seine mächtige Faust auf die Schulter und sagte:
»Monsieur, hören Sie, daß ich im Ernst zu Ihnen spreche! Ich bin Gerard Mason, der Garotteur; man kennt mich in meinen Kreisen als einen braven Kerl, mit dem aber nicht gut zu spaßen ist. Dieser Doktor Sternau hat meine Schwester mit eigener Lebensgefahr aus der Seine gefischt; ich werde es nicht dulden, daß ihm oder einem der Seinigen ein Haar gekrümmt werde. Sie wollen seine Frau töten, die für Ihre Schwester gilt. Wir stehen uns gleichberechtigt gegenüber. Sie sind weder ein Marchese, noch ein Graf. Ich bin Gerard Mason, der Garotteur, und Sie sind Alfonzo Cortejo, der Betrüger, Giftmischer und Mörder. Wir sind uns ebenbürtig, und ich sage Ihnen, daß Doktor Sternau mit all den Seinen unter meinem Schutz steht. Ich war bis jetzt in Ihren Diensten und werde nicht hinterlistig an Ihnen handeln. Ich habe die Familie Sternau zwar gewarnt, aber ich habe Sie nicht verraten. Sie haben Zeit zur Flucht. Kehren Sie augenblicklich nach Spanien zurück! Ich werde Frau Sternau überwachen und sage Ihnen: Geschieht ihr das geringste Leid von Ihnen, so sterben Sie unter den unerbittlichen Fäusten des Garotteurs. Denken Sie nicht, daß Sie mächtiger sind, als ich es bin. Ihre Macht bestand in dem Geld. Sie haben keins mehr; diese Macht befindet sich jetzt in meinen Händen. Vergessen Sie nicht, was ich Ihnen sagte, ich werde Wort halten. Leben Sie wohl, Monsieur!«
Er preßte mit seiner Faust die Schulter Alfonzos, daß diesem ein lauter Schmerzensschrei entfuhr, und trat zurück – um dann im Dunkel des Abends zu verschwinden.
Alfonzo stand da, als hätte ihn der Schlag gerührt. Alles war vergebens. Er erkannte, daß mit diesem schrecklichen Mann nicht zu spaßen sei.
»Diese Macht befindet sich jetzt in meinen Händen! Was wollte er damit sagen?«
Mit diesen Worten kehrte Alfonzo in das Haus zurück und begab sich nach seinem Zimmer. Dort angekommen, zündete er die Lampe an und öffnete den Koffer. Mit einem Ruf des Schreckens fuhr er zurück.
»Fort! Alles fort! Die Brieftasche und die Beutel! Sechzigtausend in Scheinen und zehntausend in Gold! Dieser Dieb!«
Alfonzo starrte mit offenen Augen auf die leeren Stellen, an denen sich das Verschwundene befunden hatte, und murmelte:
»Es bleiben mir noch dreihundert Franken, die ich zufälligerweise in meiner Börse habe. Ich muß fliehen, sogleich! Er sagte ja, daß die Verfolger unterwegs seien. Aber diese kleine Summe wird reichen, bis ich zu einem Bankier komme, dem ich mich ohne Gefahr vorstellen kann. Glücklicherweise habe ich meine Legitimationen nicht im Portefeuille gehabt, sonst wären auch sie verschwunden.«
Er packte in den Koffer, was unumgänglich notwendig war, und verließ dann heimlich das Haus. Auch er verschwand ebenso im Dunkel der Nacht, wie vorhin der Garotteur. Rosa Sternau war einer großen Gefahr entgangen.
Nur zwei Stunden später erschien der Mainzer Staatsanwalt in Begleitung mehrerer Gendarmen im Schulhaus, wo sich alles bereits zur Ruhe gelegt hatte. Die Familie des Lehrers wurde geweckt, aber als man die Stube des Marchese untersuchte, fand man die überzeugendsten Beweise, daß beide, er und sein Diener, die Flucht ergriffen hatten. Es wurden sofort alle Maßnahmen getroffen, ihrer habhaft zu werden, aber vergebens, sie waren glücklich entkommen.