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Die Unterhaltung war durch dieses kleine Intermezzo noch lebhafter geworden als zuvor und kam zuletzt doch wieder auf den Angelpunkt der ganzen Situation, auf Sternau, um den sich alles drehte.
»Es ist eine unangenehme Fügung, ihn gefunden und sofort wieder verloren zu haben«, klagte der Herzog. »Es handelte sich nur um eines Tages Länge, so säße er hier bei uns, ebenso glücklich wie wir, wie ich hoffe. Hat er nicht gesagt, wann seine Seereise beendet sein wird?« – »Nein«, antwortete Otto. »Er kann dies selbst nicht wissen. Er hat nämlich eine außerordentlich abenteuerliche Aufgabe zu lösen.« – »Welche?« – »Er will einen Seeräuber fangen.« – »Einen Seeräuber?« fragte Flora erschrocken. »Mein Gott, welche Gefahr!« – »Unser Otto scherzt!« lächelte der Herzog. »Mit einer kleinen Luxusjacht fängt man keinen Seeräuber.« – »Und dennoch scherze ich nicht«, sagte Otto. »Diese Sache ist ernst, sehr ernst. Es handelt sich um das Glück, ja um die ganze Existenz einer hochgestellten Familie. Hast du einmal von dem berüchtigten Korsarenschiff ›Lion‹ gehört, Papa?« – »Von dem ›Lion‹, Kapitän Grandeprise? Ja, oft. Er soll ein schrecklicher Mensch sein, wie man sich erzählt.« – »Nun, diesen Grandeprise will Sternau fangen.« – »Nicht möglich!« rief Olsunna erbleichend. – »Und doch ist es so.« – »So ist er verloren.« – »Ich glaube es nicht. Sternau ist ein Held. Er hat fremde Welten bereist, sich mit Löwen, Panthern, Elefanten, Krokodilen, Kaffern, Arabern und Indianern herumgeschlagen, er ist ein Riese an Kraft und ein Virtuose in Führung der Waffen. Wenn es einen gibt, der Grandeprise fängt, so ist er es.« – »Oh, nun sinkt mir all mein Mut!« klagte der Herzog. »Ich werde den Sohn wohl nie wiedersehen.« – »Aber warum begibt er sich in diese fürchterliche Gefahr?« fragte Flora. – »Um Geheimnisse zu entdecken, die für ihn sehr wichtig sind, um Menschen zu finden, die man geraubt und versteckt hat, um Verbrecher zu bestrafen, die ihn und seine Familie in das Verderben bringen wollen.« – »Seine Familie? Also seine Mutter und Schwester?« – »Ich meine eigentlich die Familie seiner Frau.« – »Seiner Frau! Ah, er ist verheiratet?« rief der Herzog, indem er vom Stuhl emporsprang. »An diese Möglichkeit habe ich noch gar nicht gedacht.« – »Ja, er ist sehr glücklich verheiratet«, sagte Otto, der jetzt ein innerliches Lächeln kaum unterdrücken konnte. – »Das ist unangenehm, höchst unangenehm!« rief der Herzog. »Ich habe die Absicht, ihn anzuerkennen; er soll der Erbe meiner Titel, meiner Würden und Besitzungen werden, und nun steht zu erwarten, daß ...« – »Daß er als Arzt keine solche Partie gemacht hat wie ich als Maler, nicht wahr?« vervollständigte Otto. – »Ja, das meine ich.« – »Ich kann dich glücklicherweise beruhigen, lieber Papa. Er ist keine Mesalliance eingegangen.« – »Nach dem Maßstab eines Arztes?« – »Allerdings, auch nach diesem nicht. Es ist übrigens eigentümlich; auch seine Frau ist eine Spanierin.« – »Ah! Woher?« fragte Flora. – »Aus Rodriganda in Aragonien.« – »Aus Rodriganda, der Besitzung des Grafen Emanuel de Rodriganda y Sevilla?« – »Ja, mein Herz.« – »Dort bin ich bekannt. Ich war einmal einige Zeit bei der Gräfin Rosa; sie besuchte dann auch uns in Madrid. Ich war leider älter als sie, sonst wären wir sicher Freundinnen geworden. Sie hatte sich nur einer einzigen Dame angeschlossen, einer Engländerin, die Amy Lindsay hieß.« – »Diesen Namen kenne ich; Sternau nannte ihn mir vorgestern.« – »Er kennt sie?« fragte Flora überrascht. – »Sehr gut. Er war zu gleicher Zeit mit ihr auf Rodriganda. Er war aus Paris dorthin gerufen worden, um einen Kranken zu operieren; dabei lernte er die Dame kennen, die jetzt seine Frau ist.« – »O weh!« sagte der Herzog enttäuscht. »Rodriganda ist klein. Dort gibt es keine einzige Familie, deren Tochter ich mir als Schwiegertochter wünschte.« – »Nicht?« fragte Otto, indem sein inneres Lächeln nun auch äußerlich zutage trat. »Eine Familie gibt es doch wohl dort, lieber Papa!« – »Welche wäre das?« – »Diejenige des Grafen.« – »Pah! Graf Emanuel sucht sich für seine Tochter keinen Arzt aus!« – »Warum nicht? Da doch der Herzog von Olsunna sich einen Maler ausgesucht hat?« – »Schelm!« – »Übrigens ist der jetzige Besitzer von Rodriganda nicht mehr Graf Emanuel, sondern dessen Sohn Alfonzo.« – »Wirklich?« rief der Herzog bestürzt. »So wäre Graf Emanuel gestorben? Wir haben längere Zeit im Ausland und überdies sehr abgeschieden gelebt; ich konnte also so rein private Ereignisse nicht verfolgen.« – »Man sagt allerdings, daß er gestorben sei, Sternau bezweifelt dies. Er reist doch eben deshalb, um den Grafen zu suchen, wie er mir erzählte.« – »Das verstehe ich nicht. Steht ihm die Familie des Grafen so nahe?« – »Freilich, lieber Vater! Der Graf ist sein Schwiegervater, und Gräfin Rosa ist seine Frau.«
Jetzt war es an Flora und ihrem Vater, überrascht zu sein, jedoch auf freudige Weise.
»Gräfin Rosa, seine Frau!« rief der Herzog. – »Meine gute, süße Rosa, meine Schwägerin!« rief Flora. – »Freilich, freilich!« lachte Otto, ganz entzückt darüber, daß er diesen zwei lieben Menschen eine so fröhliche Nachricht geben konnte. »Oh, Freund Karl hat keine Mesalliance getan; das fällt ihm gar nicht ein! Wir werden Rosa sehen. Sie wohnt jetzt ja in Rheinswalden, sie und Elvira mit ihrem Alim ... Mein Gott, was ist das! Dieser Name ...!«
Er war vom Stuhl emporgefahren und starrte verstört ins Leere.
»Was hast du?« fragte Flora. »Du meinst wohl den Kastellan Alimpo, der immer spricht: Das sagt meine Elvira auch?« – »Ja, den meine ich. Ich kenne ihn nicht, aber Sternau hat mir von ihm erzählt. Oh, und an ihn dachte ich nicht. Gott, wäre es möglich!« – »Was denn?« rief Flora fast angstvoll, als sie Ottos erschreckte Züge sah.
Er beantwortete diese Frage nicht, sondern wandte sich zu dem Herzog:
»Lieber Vater, du kennst den Grafen Emanuel?« – »Ja, sehr gut.« – »Wann hast du ihn zum letzten Mal gesehen?« – »Vor zwei Jahren. Er ist blind geworden.« – »Er ist wieder sehend. Er war eben der Kranke, dessentwegen Sternau aus Paris geholt wurde; er hat ihn glücklich operiert, so daß er wieder sehen kann. Und du, Flora, kennst du den Grafen auch?« – »Ja, ich war ja bei ihm.« – »Würdet ihr ihn wiedererkennen, selbst wenn er durch eine abzehrende Krankheit erschreckend hager geworden wäre?« – »Ich hoffe es«, sagte der Herzog. – »Ich auch«, stimmte Flora bei. »Die Züge, die Graf Emanuel trägt, können sich nicht in der Weise verändern, daß man ihn nicht erkennen könnte. Warum fragst du so, Otto?«
Der junge Maler antwortete abermals nicht. Es war ein beinahe ungeheuerlicher Gedanke, der ihn in Anspruch nahm. Sternau hatte ihm seine Erlebnisse mitgeteilt und dabei auch den treuen Alimpo und seine Elvira erwähnt. Er hatte ferner im Lauf des Gesprächs erwähnt, daß der wahnsinnig gewordene Graf Emanuel nichts gesprochen habe, als einige stereotype Worte; er habe sich für seinen Diener gehalten. Diese stereotype Redensart hatte Sternau leider aber nicht wörtlich angeführt.
Nun war Otto auf dem Leuchtturm gewesen und hatte den Wahnsinnigen gesehen und auch sprechen gehört. Das war ihm eingefallen, aber er hatte die gehörten Worte in keinerlei Beziehung zu der Angelegenheit der Rodrigandas gebracht. Jetzt aber, da er von Sternau gesprochen hatte, war ihm plötzlich der Gedanke gekommen, ob der Wahnsinnige auf dem Leuchtturm nicht Graf Emanuel sein könne. Dieser Gedanke war, wie bereits gesagt zwar ungeheuerlich, aber es war bisher so Außerordentliches geschehen, daß man alles für möglich halten konnte.
Er faßte einen Entschluß und trat an das kleine Schreibpult, das in dem Zimmer stand, nahm ein weißes Blatt Papier und schrieb darauf:
»Dringendes Telegramm an Frau Doktor Sternau in Rheinswalden bei Mainz.
Welches sind die Worte, die Graf Emanuel immer wiederholte, als er wahnsinnig geworden war? Bitte um sofortige Rückantwort. Sehr eilig und wichtig. Meine Adresse weiß Frau Sternau.«
Er las die Depesche den beiden vor.
»Was soll das bedeuten? Warum fragen Sie an?« fragte der Herzog. – »Weil es möglich ist, daß ich den Grafen hier gesehen habe.« – »Hier? Es häufen sich immer mehr Rätsel. Der Graf ist wahnsinnig. Er soll hier sein!« – »Es ist möglich. Ich werde Ihnen sogleich alles erzählen.«
Otto klingelte und übergab dem Diener die Depesche zur schleunigen Besorgung. Dann fand er Zeit, alles zu erzählen, was Sternau ihm berichtet hatte. Man kann sich denken, mit welcher Spannung die Augen der beiden Zuhörer an seinen Lippen hingen. Wie sie stolz leuchteten, wenn er einen neuen Zug von Sternaus Mut und Tatkraft erwähnte; wie verhielten sie den Atem, wenn er berichtete, daß sein Freund sich in Gefahr befunden habe! Es war so vieles, so Unglaubliches! Und nun war dieser Held gar zur See gegangen, um den Knoten der Verwicklung zu zerhauen, wie einst der mazedonische Alexander.
Hunderte von Ausrufungen der Freude, des Schmerzes, des Staunens, der Bewunderung, des Entzückens, des Schreckens unterbrachen ihn. Es verging weit über eine Stunde, ehe Otto bis an den gestrigen Tag und seinen Besuch auf dem Leuchtturm gelangt war. Als er geendet hatte, schlug der Herzog die Hände zusammen und rief:
»Welch ein Mensch ist dieser Sternau, mein Sohn! Ich werde ihn mit Freuden in meine Arme schließen, wenn Gott mir die Gnade gewährt, ihn wiederzusehen.« – »Und ich werde stündlich für ihn beten«, fügte Flora bei, »daß der gute Gott ihn beschützen möge auf seinem gefahrvollen Weg. Zürne ihm nicht, mein Vater, daß er sein schönes Weib verlassen hat, um den Bösewicht zu verfolgen.« – »Zürnen? O nein!« sagte Olsunna. »Wenn meine Stimme hinaustönen könnte über die weite See, so würde ich ihm nachrufen, daß ich ihn für diesen kühnen Entschluß segne. Nun ich weiß, was ihn auf seiner kleinen Nußschale hinausgetrieben hat in die Wüste des Meeres, bin ich überzeugt, daß er zurückkehren wird. Gott muß einen solchen Mann beschützen; er kann den Gerechten nicht untergehen lassen, um den Ungerechten mit Glück zu überschütten. Jetzt aber liegt uns der Graf Emanuel nahe. Was werden wir tun, mein Sohn?« – »Wir gehen sofort nach dem Leuchtturm und rekognoszieren den Wahnsinnigen«, erwiderte Flora. »Mann kann nicht begreifen, wie er hierher kommen konnte, aber nun ich deine Erzählung gehört habe, Otto, ist mir selbst das Allerunglaublichste glaubhaft geworden.«
– »Wir wollen nicht unvorsichtig sein«, antwortete der Maler. »Dieser Wärter Gabrillon ist mir sehr verdächtig erschienen, aber ...« – »Ach«, unterbrach ihn der Herzog, dem ein neuer Gedanke kam, »was hat diese Zarba bei ihm gewollt?« – »Zarba, die Zigeunerin, von der Sternau mir erzählte?« fragte Otto. – »Ja, dieselbe.« – »Sie war gestern auf dem Leuchtturm?« – »Gestern. Sie sprach ja auch mit uns. Ach, das zu erzählen, hatte ich vergessen, mein Sohn.« – »Da gewinnt meine Vermutung sehr an Wahrscheinlichkeit. Diese Zarba hat überall die Hand im Spiel. Wenn sie hier gewesen ist so steht zu erwarten, daß sie einen Faden der uns jetzt interessierenden Begebenheiten bis hierher gesponnen hat. Dieser Gabrillon hat ganz das Aussehen eines Zigeuners; sie soll ja die Königin der Gitanos sein. Und warum hat er keine Legitimation über den Wahnsinnigen auf der Mairie niedergelegt?« – »Wir müssen sofort zu ihm!« rief Flora. – »Nein, jetzt noch nicht. Wir müssen erst die Antwortdepesche aus Rheinswalden erwarten, dann können wir mit um so größerer Sicherheit auftreten. Wie gut, daß ich mein Telegramm als dringend bezeichnet habe! Wir können die Antwort bereits in zwei Stunden erhalten, und ich werde um diese Zeit mich nach meiner Wohnung verfügen, um sie empfangen zu können.«
Es wurden nun die Einzelheiten besprochen, die vorher nicht ausführlich zu behandeln gewesen waren. Der Herzog fühlte sich gar nicht mehr krank. Durch die Schicksale seines Sohnes hatte sein Geist eine Spannkraft erhalten, die sich auch seinem Körper mitteilte. Er war nicht müde, er sah zwar hager, aber sehr wohl aus, und als die Zeit gekommen war, trieb er selbst den Maler fort, damit die Eröffnung der erwarteten Depesche ja keinen Augenblick verzögert werde.
Otto ging nach seinem Hotel, aber noch war keine Antwort da. Er wartete von Viertelstunde zu Viertelstunde – da endlich klopfte es an, und der Bote des Telegrafenamts trat ein. Er riß, als dieser die Tür kaum hinter sich geschlossen hatte, das Telegramm auf und verschlang die Worte. Ja, da stand, nach vorheriger Angabe der Adresse, die wichtige, verhängnisvolle Antwort:
»›Ich bin der treue, gute Alimpo.‹
Gott, warum fragen Sie? Haben Sie eine Spur gefunden? Teilen Sie es mir ja sogleich mit.
Rosa Sternau.«
Er steckte das Telegramm ein, nahm den Hut und stürmte zur Tür hinaus und die Treppe hinab, ohne sich erst Zeit zu nehmen, die Tür zu verschließen. Die Leute blickten ihm verwundert oder lächelnd nach, als sie ihn im Sturmschritt vorüberlaufen sahen. Erst vor dem Eingang der Mairie holte er Atem, dann begab er sich nach der Expedition, klopfte an und trat ein, ohne die Aufforderung dazu abzuwarten.
Der Beamte sah ihn halb freundlich, halb mißbilligend an und fragte:
»Sie scheinen es sehr eilig zu haben, Monsieur? Wollen Sie mir vielleicht melden, daß Sie mit der gestrigen Genugtuung zufrieden sind?« – »Ja, das will ich, mein Herr. Also meinen besten Dank! Aber ich komme in einer noch viel, viel wichtigeren Angelegenheit.« – »Ah!« sagte der Maire, indem er sich erhob und erwartungsvoll die Brille von der Nase auf die Stirn schob. »Es muß allerdings sehr wichtig sein, denn Sie sind ganz echauffiert!« – »Das hat seinen guten Grund. Ich komme, um mir in einer kriminellen Angelegenheit Ihre amtliche Hilfe zu erbitten.« – »Kriminell?« fragte der Beamte, indem er schnell die Brille wieder auf die Nase rückte und den jungen Mann forschend anblickte. »Ach, kriminell! Wissen Sie, was das zu bedeuten hat?« – »Ich denke.« – »Kriminell kommt her von crimen, Verbrechen; es handelt sich also um ein Verbrechen?« – »Ja. Sie haben schleunigst eine Zigeunerin namens Zarba verfolgen zu lassen, respektive dem Präfekten sofort telegrafisch Meldung zu tun, daß er diese Verfolgung in seinem ganzen Kreis anbefiehlt. Sie ist gestern hiergewesen. Ferner haben Sie ...« – »Pst, Monsieur!« unterbrach ihn der Maire. »Nicht so hitzig! Was ich tue, oder was ich zu tun habe, das werde ich selbst entscheiden, nachdem ich gehört habe, um was es sich handelt. Bis jetzt hatten Sie nicht die Güte, es mir mitzuteilen.«
Otto verbeugte sich ein wenig.
»Verzeihen Sie, Monsieur!« sagte er. »Ich bin so aufgeregt, daß ich wirklich die schuldige Höflichkeit verletzt habe. Gestatten Sie mir also, Ihnen das Nötige in kurzen Worten zu sagen!« – »Gut, setzen wir uns!«
Sie nahmen Platz, und Otto begann:
»Der spanische Graf Emanuel de Rodriganda y Sevilla wurde plötzlich geisteskrank, und einer der bedeutendsten Ärzte konstatierte, daß dies die Folge einer Dosis Kuraregift oder Pohon Upas sei, die ihm verbrecherischer Weise beigebracht worden war. Es gab Personen, die Veranlassung hatten, den Grafen zu töten, oder wenigstens seiner Selbstbestimmung zu berauben, um sein Erbe anzutreten. Der betreffende Arzt nahm ihn in Behandlung; er hätte ihn hergestellt, aber des anderen Morgens war der Graf verschwunden. Später fand man in einem nahen Abgrund eine Leiche. Die betreffenden Leute rekognoszierten dieselbe als diejenige des Grafen, der Arzt aber behauptete, es sei der Körper eines ganz anderen Menschen. Die Personen, von denen ich spreche, waren mächtig, die Aussage des Arztes wurde nicht berücksichtigt, und man setzte die Leiche als die des Grafen in der Familiengruft bei. Auch Gräfin Rosa, die Tochter des Grafen, war durch eine Dosis des erwähnten Giftes um den Gebrauch ihres Verstandes beraubt worden, der erwähnte Arzt aber entriß sie mit Gewalt den Händen ihrer Feinde, entführte sie in das Ausland und stellte sie vollständig wieder her.« – »Parbleu! Das ist ja ein Kriminalroman, wie er im Buche steht! Aber was habe ich als französischer Maire mit einem Verbrechen zu tun, das in Spanien vollbracht wurde?« – »Was ist jetzt sagte, betrifft Sie nicht, mein Herr; es war nur die Einleitung. Der Arzt war überzeugt, daß man eine falsche Leiche untergeschoben und den wahnsinnigen Grafen entfernt habe. Er sucht ihn jetzt überall, sogar auf der See, kann ihn aber nicht finden, denn der Wahnsinnige ist mit Gewalt nach Frankreich geführt worden und wird dort gefangengehalten.« – »Donnerwetter! Das ginge uns nun allerdings etwas an! Aber warum kommen Sie gerade zu mir?« – »Weil sich das Versteck in Ihrem Amtsbereich befindet.« – »Teufel! Ein crimen, ein ordentliches, regelrechtes crimen! Ich werde sofort einschreiten. Wo befindet sich der Graf?« – »Auf dem Leuchtturm!«
Der Maire fuhr einige Schritte zurück und rief entsetzt:
»Unmöglich!« – »Nein, wirklich! Sie können in arge Verlegenheit geraten, Monsieur! Sie haben einen wahnsinnig Gemachten aufgenommen, ohne nach seiner Legitimation zu fragen. Derjenige, den Gabrillon für seinen Verwandten ausgibt, ist der Graf Emanuel de Rodriganda.«
Dem Maire stand bereits der Angstschweiß auf der Stirn.
»Höchst fatal!« sagte er. Ich werde diesen Gabrillon coram nehmen! Aber, mein Herr, können Sie beweisen, daß dieser Mann wirklich der Graf ist?« – »Ja. Als er vom Wahnsinn befallen wurde, verging ihm das Gedächtnis vollständig; dies ist eine spezifische Wirkung des Gifts. Nur eine Erinnerung ist ihm geblieben. Es befand sich sein Kastellan Alimpo bei ihm, und dies hat er festgehalten; er hält sich für jenen Diener und sagt stets nur die Worte: ›Ich bin der treue, gute Alimpo.‹ Sie geben zu, daß kaum die Möglichkeit vorhanden ist, daß ein zweiter Wahnsinniger auf gerade diese Monomanie und ganz dieselben Worte verfällt. Sie sind also ein sichere Erkennungszeichen.« – »Wahrscheinlich. Doch müßte zuvor amtlich bestätigt werden, daß der unglückliche Graf sich gerade dieser Worte bedient hat.« – »Diese Bestätigung wird mir leicht werden. Aber es gibt hier noch Herrschaften, die den Grafen ganz genau kennen und ihn rekognoszieren werden.« – »Das wäre allerdings sehr wesentlich. Aber sind diese Personen nicht etwa gerichtlich zu beanstanden?« – »Nein. Es sind der Herzog von Olsunna und Prinzeß Flora, seine Tochter.« – »Das genügt! Das genügt vollständig, mein Herr!« – »Um ganz sicher zu gehen, habe ich an die Gräfin Rosa de Rodriganda depeschiert und um telegrafische Mitteilung jener Worte gebeten. Hier ist die Antwort. Bitte, lesen Sie!« – »Ah! ›Ich bin der treue, gute Alimpo!‹ Richtig! Hm! Mein Herr, ich stehe mit allen Kräften zu Diensten, aber ich hoffe, daß Sie diese fatale Angelegenheit in einer Weise behandeln, die mir keinen Schaden wegen meiner kleinen Vergeßlichkeit bringt.«
Dieser Mann hatte wirklich Angst.
»Ich werde mich bemühen, Ihren Wunsch zu erfüllen«, antwortete der Maler. – »Aber was ist's mit jener Zigeunerin? Zarba heißt sie, nicht wahr?« – »Sie ist jedenfalls diejenige, die in diese Angelegenheit eingeweiht ist. Sie ist vielleicht eine Bekannte Gabrillons und war gestern vormittag hier, ihn zu besuchen. Wir müssen sie finden!« – »Ich werde alles tun, was Sie befehlen.« – »So geben Sie sofort Order, daß nach der Zigeunerin gefahndet werde, und sodann kommen Sie mit der nötigen Hilfe zum Herzog. Wir begeben uns nach dem Leuchtturm; das übrige wird sich finden.« – »Schön! Gut! Vortrefflich. In einer Viertelstunde werde ich bei Durchlaucht sein. Ich finde Sie dort?« – »Ja, ganz sicher!« – »Sie malen wohl für die Durchlaucht?« – »Nein«, antwortete Otto lächelnd. »Ich bin der Verlobte der Prinzessin.«
Der Maire schob die Brille zurück, trat beiseite und rief:
»Unmöglich, mein Herr!« – »Warum unmöglich, Monsieur?« – »Sie ein Maler, und die Durchlaucht eine herzogliche Prinzessin?« – »Überzeugen Sie sich selbst« – »Also doch! Also wirklich! Gratuliere demütigst Monseigneur, gratuliere!«
Er machte die tiefste Reverenz, die er fertigbrachte, und begleitete den Verlobten einer Prinzessin bis auf die Straße, wo er die Brille von der Nase nahm und mit derselben einige Höflichkeitsphrasen in die Luft zeichnete.
Nun eilte Otto zu Olsunna. Dort war seine Rückkehr mit der größten Ungeduld erwartet worden, und als er eintrat riefen ihm zwei Stimmen zugleich entgegen:
»Wie ist's? Wie steht's?«
Er blieb vor ihnen stehen, faltete die Depesche auseinander und las:
»›Ich bin der treue, brave Alimpo! Gott, warum fragen Sie? Haben Sie eine Spur gefunden? Teilen Sie es mir ja sogleich mit, Rosa Sternau.‹« – »Also er ist es!« rief der Herzog. – »Kein Zweifel!« – »Nun sogleich nach dem Leuchtturm, vorher aber auf die Mairie!« sagte Flora. – »Ich war bereits dort. In einer Viertelstunde ist der Maire hier.« – »Recht so, mein Sohn!« meinte Olsunna. »Aber werde ich bis zum Leuchtturm gehen können?« – »Dies wird gar nicht nötig sein, mein lieber Vater. Wir bringen den Grafen her. Der Maire wird ganz gern darauf eingehen.« – »Aber ich gehe mit!« sagte Flora entschlossen. »Oh, warum mußte uns der Bruder so schnell verlassen! Er hätte hier einen der Gesuchten gefunden.«
Der Maire stellte sich eher ein, als er gesagt hatte. An dieser Eile war jedenfalls der Rang der Personen schuld, mit denen er es zu tun hatte. Er erging sich in den demütigsten Verbeugungen und Redensarten und meldete, daß er drei Gendarmen und noch fünf handfeste Zivilisten mitgebracht habe.
»So vieler Menschen bedarf es gar nicht«, sagte Otto lächelnd. »Wir wollen kein Aufsehen erregen und uns deshalb verteilen. Wir nähern uns dem Turm in der Art und Weise von absichtslosen Spaziergängern, das übrige wird sich dann ergeben.«
Dieser Vorschlag wurde angenommen, und man entfernte sich. Otto nahm Flora am Arm, die ihm mitteilte, daß auch ihr Diener den Grafen de Rodriganda genau kenne. Er hatte früher sogar in dessen Diensten gestanden und erinnerte sich genau eines kleinen Males, das die Erlaucht gerade unterhalb des linken Ohres habe. Das war ein Zeichen mehr.