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9. Kapitel.

Nur Gerard blieb bei Alfonzo zurück. Dieser betrachtete sich, während sein Herr noch in Ohnmacht lag, das Stübchen. Es enthielt außer dem Bett einen Tisch, eine Kommode, einige Stühle, einen Waschtisch, einen Spiegel und zwei Bilder.

Nach einiger Zeit machte der Graf eine Bewegung, und infolgedessen stellte Gerard die Lampe so, daß ihr Schein den Patienten nicht in das Gesicht treffen konnte. Dadurch fiel dieser Schein nun direkt auf die Bilder, so daß Gerard sie deutlich erkennen konnte.

»Alle Teufel!« sagte er leise, sich erhebend und hinzutretend. »Wer ist denn das?«

Das eine Bild stellte einen jungen Mann und das andere ein junges Mädchen dar. Der erstere war in spanische Tracht gekleidet, und das letztere trug die Fetzen einer Zigeunerin. Obgleich es nur Kreidezeichnungen waren, erkannte man sehr deutlich, daß die Zigeunerin eine große Schönheit war.

»Wer ist denn das?« wiederholte Gerard verwundert. »Das ist doch mein Herr!«

In diesem Augenblick bewegte Alfonzo sich, und Gerard eilte zu ihm hin. Der Kranke hatte die Augen geöffnet und blickte im Raum umher.

»Wo bin ich?« fragte er, sich besinnend. – »Beim Lehrer«, antwortete Gerard. – »Bei welchem Lehrer?« – »Sie wissen das nicht?« – »Nein.« – »Oh, dann sind Sie auch im Kopf verletzt. Sie haben ja mit dem Lehrer gesprochen.« – »Ich? Wo?« fragte Alfonzo verwundert. – »An der Bahn.« – »An der Bahn? Ach so. Es kam ein Mann und wollte mich zu sich nehmen. Ich besinne mich. In welchem Ort sind wird?« – »In einem Dorf, das Genheim heißt. Der Lehrer hat Ihnen sein bestes Zimmer angewiesen.« – »Wo bin ich verletzt? Ah, am Arm.«

Alfonzo hatte den Arm bewegen wollen und fühlte dabei Schmerz.

»Ja, Monsieur. Sie haben ihn zweimal gebrochen.« – »Donnerwetter! Was wird da aus unserer Reise?« – »Sie wird auf einige Zeit unterbrochen werden.« – »Das ist verdammt unangenehm! Aber ein Armbruch geniert ja nicht beim Gehen. Wenn er eingerichtet ist, werden wir die Reise fortsetzen.« – »Dazu müßten wir die Erlaubnis des Arztes haben.« – »Ich frage nicht nach seiner Erlaubnis. Wann wird er zu mir kommen?« – »Sobald er von der Unglücksstätte fort kann.« – »So werde ich gleich nach dem Verband abreisen.«

Gerard lächelte.

»Sie sind ja nicht nur am Arm verletzt«, sagte er. »Am Kopf ebenfalls.« – »Dummheit! Ich fühle nur ein wüstes Pressen.« – »Aber Sie geraten doch aus einer Ohnmacht in die andere.« – »Wirklich?« – »Ja. Ich denke, wir werden einige Zeit hier verweilen müssen.« – »Sind mein Köfferchen und die übrigen Effekten gerettet?« – »Das muß sich erst finden. Sie waren im Gepäckwagen.« – »Wie heißt der Lehrer, bei dem ich mich befinde?« – »Ich weiß es nicht. Soll ich fragen?« – »Nein.«

Alfonzo drehte sich ab, und dabei fiel auch sein Blick auf die beiden Bilder. Seine Augen vergrößerten sich, und seine Lippen bebten.

»Mein Gott, was ist das?« fragte er. – »Kennen Sie die Bilder, gnädiger Herr?« – »Kennen? Oh, gewiß, ich kenne sie!« – »Wer ist es?«

Unter anderen Verhältnissen wäre es sicher nicht geschehen, jetzt aber gab der Graf doch eine Antwort. Er war jedenfalls am Kopf verletzt

»Das ist mein Vater.« – »Ihr Vater? Ah, darum sieht das Bild Ihnen so ähnlich.« – »Und Zarba.« – »Zarba? Wer ist das?« – »Eine Zigeunerin. Spring rasch hinunter und frag, wie der Lehrer heißt.« – »Das wird auffallen, Monsieur. Es ist besser, wir warten. Die Lehrerin hat versprochen, bald wiederzukommen.«

Der Kranke nickte und schloß die Augen. Nach einiger Zeit öffnete er sie wieder, fuhr sich mit Hand an den schmerzenden Kopf und fragte:

»Gerard, hast du diese Bilder bereits gesehen?«

Der Gefragte stutzte. War sein Herr denn irre?

»Ja«, antwortete er. – »Hast du mich vielleicht gefragt, wen sie vorstellen?« – »Nein«, sagte Gerard, um ihn auf die Probe zu stellen. – »Wirklich nicht?« – »Nein.« – »Mir war es gerade so, als wenn ich mit dir darüber gesprochen hätte.« – »Ich weiß nichts davon.« – »So bekümmere dich nicht darum. Du brauchst nicht zu wissen, wer sie sind.«

Alfonzo schloß die Augen wieder, aber über sein Gesicht zuckte und zitterte es, als ob er mit wirren Gedanken ringe. Da trat die Lehrerin vorsichtig herein und fragte leise:

»Ist er noch nicht wieder erwacht?« – »O doch«, antwortete Gerard ebenso leise.

Aber der Kranke hatte das Flüstern doch vernommen.

»Wer ist da?« fragte er, ohne die Augen zu öffnen. – »Ich bin es, die Wirtin«, antwortete die Lehrerin französisch.

Da öffnete der Kranke die Augen, blickte sie forschend an und sagte:

»Sie sprechen französisch?« – »Ja, mein Herr.« – »Wo haben Sie es gelernt?« – »Im Institut. Ich war Erzieherin.« – »Ah, das ist gut. So können wir miteinander sprechen.«

Dann schloß Alfonzo die Augen wieder, und es verging fast eine Viertelstunde, ehe er sie wieder öffnete, aber er schien die Gegenwart des Dieners ganz vergessen zu haben, er richtete den Blick auf die Bilder und fragte:

»Wer ist dieses Mädchen, Madame?« – »Eine Zigeunerin«, antwortete sie. – »Wohl ein Phantasiebild?« – »Nein, ein Porträt.« – »Ah, sie ist eine Schönheit. Wo lebt sie?« – »Sie lebt in Spanien, in Saragossa, sie hieß Zarba.« – »Zarba! Lebt sie noch?« – »Vielleicht.« – »Und wer ist der Herr neben ihr?« – »Ein Spanier.« – »Ja, er trägt spanische Tracht. Auch ein Porträt?« – »Ja. Es war ein gewisser Gasparino Cortejo.« – »Ah! Was war er?« – »Er war Haushofmeister bei dem Herzog von Olsunna.« – »Sie sind eine Deutsche?« – »Ja.« – »Wie kommen Sie zu diesen Porträts?« – »Wir haben sie von einer entfernten Verwandten meines Mannes.« – »Wie heißen Sie?« – »Mein Mann heißt Wilhelmi.« – »Ah! Und wie heißt jene Verwandte?« – »Sie ist eine geborene Wilhelmi, jetzt aber eine verwitwete Sternau.«

Alfonzo schwieg eine Weile, er hatte viel zu denken, aber sein Kopf war zu schwach dazu. Endlich aber sagte er, langsam und jedes einzelne Wort sich überlegend:

»Wo ist Sternau zu den Bildern gekommen?« – »In Spanien. Die Verwandte meines Mannes war Gouvernante dort.« – »Bei wem?« – »Erst bei einem Bankier Salmonno, dann bei dem Herzog von Olsunna.« – »Und sie lebt noch?« – »Ja.« – »Hat sie Kinder?« – »Zwei. Einen Sohn und eine Tochter.« – »Was ist der Sohn? – »Er ist Arzt, er war in der letzten Zeit in Spanien bei einem Grafen de Rodriganda.«

Bei diesem Namen horchte der Diener Gerard auf.

»Ah! Wie ist sein Name?« – »Karl Sternau.« – »Wo befindet er sich?« – »Auf Schloß Rheinswalden bei dem Hauptmann von Rodenstein, wo er zur Heilung seiner Braut, eine Gräfin de Rodriganda, lebt.« – »Ah! Kommt er zuweilen zu Ihnen?« – »Niemals.« – »Woher wissen Sie denn so genau, daß er hier ist?« – »Ein Jäger des Schlosses war in der Nähe Gevatter, er suchte mich auf, da er unsere Verwandtschaft kennt, und erzählte mir alles.« – »Aber warum hat jene Frau Sternau die beiden Bilder aus der Hand gegeben?« – »Um nicht an eine Zeit erinnert zu werden, in der sie sehr unglücklich gewesen ist. Aus diesem Grund hat sie dieselben dem Vater meines Mannes zur Aufbewahrung gegeben.« – »Haben Sie von den Erlebnissen dieses Doktor Sternau etwas gehört?«

Jetzt wurde Frau Wilhelmi aufmerksam. Warum fragte der Kranke so angelegentlich nach diesem allen?

»Kennen Sie ihn etwa, Monsieur?« fragte sie. – »Nein«, antwortete er. – »Oder haben Sie von ihm gehört?« – »Nein. Ich interessiere mich nur für ihn, weil jemand, der als deutscher Arzt eine spanische Gräfin als Braut besitzt, sicherlich doch Interessantes erlebt haben muß.«

Die Frau fühlte sich durch die Antwort beruhigt und erwiderte:

»Da haben Sie recht. Es ist wahrhaft Romanhaftes, was dieser Karl Sternau erlebt hat.« – »Darf man es erfahren?« – »Gern, aber Sie sind zu schwach dazu.«

Die Röte des Fiebers färbte allerdings Alfonzos Wangen. Er fühlte sich auch zu Tode matt, und der Arm schmerzte ihn fürchterlich, ebenso wie sein Kopf, aber er wollte, er mußte hören, was diese Frau von der Sache wußte.

»Ich bin nicht schwach«, sagte er. »Bitte, erzählen Sie immerhin!«

Während der Diener mit großer Spannung horchte, begann nun die Lehrerin:

»Der alte Graf de Rodriganda war blind, und Karl Sternau sollte ihn operieren. Die Operation gelang, aber dafür wurde der Graf wahnsinnig.« – »Es wird ihm bei der Operation ein Gehirnnerv verletzt worden sein.« – »Nein, man hat ihm ein Gift eingegeben, das wahnsinnig macht« – »Ah!«

Alfonzo war ganz erstarrt, in diesem versteckten Winkel Deutschlands einen Bericht über jene Vorkommnisse anhören zu müssen. Es begann ihm unheimlich zu werden, er fühlte, daß eine neue Ohnmacht die Arme nach ihm ausstreckte, aber er strengte alle seine Kräfte an, sie von sich fernzuhalten. Er mußte alles hören, was diese Frau wußte.

»Doktor Sternau hat das Gift entdeckt und auch das Gegenmittel gewußt«, fuhr die Lehrerin fort, »aber da hat man den alten Grafen geraubt.« – »Geraubt? Unmöglich!« – »Ja, doch!« – »So etwas kommt nur in Romanen vor.« – »Oh, auch in Wirklichkeit.« – »Weshalb sollte man ihn geraubt haben?« – »Man hat ihn entführt, damit er nicht wiederhergestellt werden könne. Sogar seiner Tochter hat man dieses fürchterliche Gift gegeben.« – »Und ist auch sie wahnsinnig geworden?« – »Ja.« – »Und jetzt ist sie Braut! Wie läßt sich dies vereinigen?« – »Man hat dann Doktor Sternau falsch beschuldigt und ihn eingesteckt, damit er sie nicht heilen könne. Aber es ist ihm gelungen, zu entkommen, er hat die Gräfin befreit und ist mit ihr nach Deutschland gekommen. Hier hat er sie wie durch ein Wunder geheilt. Sie ist seit zwei Tagen gesund, und nun wird es wohl bald eine Hochzeit geben.« – »Das wird nicht so schnell gehen!« – »Warum nicht?« – »Weil Verschiedenes dazu erforderlich ist, ehe eine spanische Gräfin mit einem deutschen Arzt getraut werden kann.« – »Oh, ich kenne diesen Karl Sternau, für ihn gibt es niemals Hindernisse.« – »Aber, wozu hat man denn dem Grafen und der Gräfin Gift gegeben? Man muß doch einen Grund dazu gehabt haben.« – »Der Erbfolge wegen.« – »Ah! Sehr romanhaft!« – »Ja, es soll ein Sohn dasein, der gar nicht der Sohn des Grafen ist.« – »Donnerwetter.«

Dieser Fluch sollte wohl ironisch klingen, aber er klang mehr nach Überraschung. Sogar die Röte des Fiebers wich dabei aus dem Gesicht des Kranken.

»Ja«, fuhr die Frau des Lehrers fort. »Der Hauptspitzbube ist ein gewisser Gasparino Cortejo, eben der, dessen Jugendbild Sie hier erblicken.«

Gerard Mason horchte auf. Hatte sein Herr nicht gesagt, daß es das Bild seines Vaters sei? War dieser falsche Marchese d'Acrozza der Sohn dieses Gasparino Cortejo? Aber wie kam er da zu dem Notizbuch, in dem »Alfonzo, Graf de Rodriganda y Sevilla« zu lesen war?

»Inwiefern der Hauptspitzbube?« fragte der Kranke. – »Er hat den richtigen Sohn des alten Grafen vertauscht und seinen eigenen Bankert an dessen Stelle geschoben.« – »Alle Teufel!« rief Alfonzo, jetzt noch mehr erschrocken als vorher. – »Ja, nun ist der Sohn dieses Cortejo der junge Graf de Rodriganda, aber Doktor Sternau wird dafür sorgen, daß er es nicht lange bleibt.«

Gerard warf einen Blick auf das Bild und dann auf seinen Herrn, er nickte leise mit dem Kopf, er wußte nun, woran er war; da er seinen Herrn gesehen hatte, bevor er noch bei Papa Terbillon in Paris sein Äußeres verändern ließ, war ihm wohlbekannt, wie ähnlich dieser Marchese dem Gasparino Cortejo war. Die Lehrerin freilich konnte dies nicht erkennen.

»Und hat Ihnen dies alles der Jäger erzählt?« fragte Alfonzo. – »Ja.« – »Von wem weiß er es?« – »Auf Schloß Rheinswalden wissen es alle.« – »Bedientenphantasie«! – »Nein, Wahrheit! Wie der gute Ludwig es erzählte, mußte man es glauben, obgleich es allerdings einen Punkt gab, der lächerlich war. Er sagte nämlich, er kenne das Gift, das Graf und Gräfin bekommen haben.« – »Ah! Welches sollte es sein?« – »Die sogenannte spanische Fliege.« – »Bringt diese etwa Wahnsinn hervor?« – »Möglich, obgleich die Wirkung vorher eine andere ist, aber der Wahnsinn des Grafen und der Gräfin scheint mir nicht derart gewesen zu sein, daß er durch den Genuß von Kanthariden hervorgebracht worden sein könnte.« – »Eine Geschichte, ein Roman«, meinte Alfonzo, indem seine Stimme immer müder wurde. – »Oh, Monsieur, Sie werden ohnmächtig!« rief erschreckt die Lehrerin und wollte beispringen, aber Gerard hielt sie zurück. – »Lassen Sie!« flüsterte er. »Die Ohnmacht wird ihn stärken. Bitte, kommen Sie heraus.«

Damit führte er die Frau leise aus dem Zimmer und fuhr fort: »Madame, wollen Sie mir versprechen, meinem Herrn nichts zu sagen, daß ich dieser Unterredung beigewohnt habe. Ich habe triftige Gründe zu dieser Bitte.« – »Und diese Gründe darf ich nicht erfahren?« – »Jetzt noch nicht, aber später werde ich sie Ihnen mitteilen.« – »Ihr Herr scheint der Familie Rodriganda nicht fernzustehen, vielleicht ist er verwandt mit ihr?« – »Das ist mir nicht wahrscheinlich. Sie sprachen von einem Jäger, von dem Sie das Erzählte erfahren haben, ist er noch in der Nähe?« – »Er wollte erst nächsten Mittag abreisen. Sie wollen mit ihm sprechen in dieser Angelegenheit?« – »Vielleicht« – »Er hat Gevatter gestanden bei dem zweiten Bahnwärter von der Unglücksstätte aufwärts, und dort ist er jedenfalls noch zu finden.« – »Ah, es war auf der Unglücksstelle ein Mann, der Jägeruniform trug. Er kam mit einem Bahnwärter herbei.« – »Das ist er ganz sicher gewesen.« – »So werde ich warten, bis der Arzt hiergewesen ist und dann zu ihm gehen.« – Ich habe nichts dagegen einzuwenden, da ich glaube, Ihren Herrn bis zu Ihrer Rückkehr allein pflegen zu können.«

Als jetzt Gerard wieder in das Zimmer trat, lag Alfonzo mit offenen Augen im Bett. Er hatte einen abwesenden Blick, der aber wieder zu sich kam, als er auf den Diener fiel.

»Gerard?« fragte Alfonzo leise. – »Monsieur!« – »Warst du fort?« – »Ja.« – »War die Wirtin jetzt bei mir?« – »Ja.« – »Hast du gehört, was ich mit ihr gesprochen habe?« – »Sie sehen ja, daß ich nicht hiergewesen bin.« – »Hm! Gib mir einmal deinen Taschenspiegel her!«

Gerard griff in die Tasche und gab ihm das Verlangte hin. Als Alfonzo nun sich sehr aufmerksam in dem Spiegel betrachtete, dachte sein Diener bei sich: Jetzt will er sehen, ob bei dem Zusammenprall die Toilettenkünste gelitten haben.

Der Graf schien das Resultat seiner Forschung für ein befriedigendes zu halten, denn er gab den Spiegel zurück und meinte:

»Ich sehe nicht so leidend aus, als ich glaubte. Hast du schon einmal ein Glied gebrochen oder einer deiner Bekannten? Das Einrichten muß sehr weh tun ...« – »Hm! Jacques Guijard, mein Meister, brach einst den Arm. Und als der Arzt denselben zurechtgezogen hatte, meinte er, das hätte nicht weher getan, als ob einen ein Floh sticht.« – »Das war ein Schmied?« – »Ja.« – »Aber kein Marchese. Du hättest das viel besser ausgehalten als ich. Warum mußte doch mein Wagen umstürzen und nicht der deinige! Du bist ja auch ein Schmied.« – »Sie fuhren erster Klasse und ich dritter, Monsieur, und der gute Gott scheint der dritten günstiger zu sein als der ersten.«

Das lange Gespräch mit der Wirtin hatte die Kräfte des Grafen doch zu sehr angestrengt. Er fiel wieder in seine Apathie zurück. Es war dieses Mal keine wirkliche Ohnmacht, sondern eine Stumpfheit, eine Unempfänglichkeit gegen äußere Eindrücke.

Erst gegen Morgen kam der Arzt. Auch er sah außerordentlich angegriffen aus, er hatte sich über seine Kräfte anstrengen müssen und kam nun doch noch zu dem entfernten Patienten, dem er seine Hilfe versprochen hatte, und zwar in Begleitung des Lehrers, der bis jetzt an der Unglücksstätte mitgearbeitet hatte, um den Verunglückten die erste Hilfe zu bringen.

Die Lehrerin empfing sie.

»Wie steht es?« fragte sie. »Ist das Unglück groß?« – »Es sind der Opfer weit mehr, als wir erwarteten«, antwortete Wilhelmi. »Wie geht es unserem Marchese?« – »Er fällt aus einer Ohnmacht in die andere.« – »So sind edle Teile verletzt«, sagte der Arzt. »Wir haben glücklicherweise alles bei uns, was wir brauchen. Kommen Sie, Wilhelmi!« – »Soll ich mit?« fragte die Frau. – »Nein, das ist nichts für Sie.«

Die beiden Männer gingen nach oben, und bald hörte die lauschende Lehrerin das laute Wimmern des Patienten, der nicht die Kraft besaß, seiner Schmerzen Herr zu werden.

Nach langer Zeit kamen die Herren wieder herab. Gerard war bei ihnen.

»Das war ein böser Akt«, sagte der Arzt »So ein feiner Herr hat keine Widerstandsfähigkeit. Er wird aufopfernder Pflege bedürfen.« – »Daran soll es nicht fehlen«, erwiderte die Lehrerin. »Ist die Einrichtung des Armes gelungen?« – »Ich glaube. Aber sein Kopf macht mir Sorgen, er hat eine mehr als kräftige Kontusion erlitten. Wir müssen unausgesetzt Eisumschläge machen. Haben Sie Eis?« – »Ja«, entgegnete der Lehrer. Im Wald draußen gibt es trotz des milden Wetters dessen mehr als genug. Wir haben da Schluchten, wohin keine Sonne dringen kann. Ich werde mir sogleich welches holen lassen.« – »Darf ich jetzt einmal fort?« fragte Gerard. – »Ja«, versetzte der Arzt. »Ihr Herr ist so angegriffen, daß er vor einigen Stunden sicher nicht erwachen wird.« – »Bis dahin bin ich zurück.« – »Ich werde mich seiner in Ihrer Abwesenheit annehmen«, meinte die brave Lehrerin.

Gerard ging. Es war Tag geworden, so daß er den Weg finden konnte. Je mehr er sich der Bahn näherte, desto deutlicher sah er, welche Verwüstung der Fluß angerichtet hatte. Der fürchterliche Aufprall der Wogen hatte den Bahndamm gerade in dem Augenblick zerrissen, in dem der Zug an die gefährliche Stelle kam. Jetzt waren zahlreiche Arbeiter beschäftigt den Durchbruch zu verstopfen. Das war bei der Macht, mit der sich die Fluten hindurchdrängten, eine sehr schwierige Arbeit. Man rollte schwere Baumstämme hinab, die sich vor die Dammöffnung legten und so dem Wasser Halt geboten. Darauf warf man riesige Quaderstücke, die die Kraft des Wassers zum großen Teil brachen und nun durch Steinschutt verbunden wurden, der die Wogen vollends zur Seite lenkte, so daß man zur Ausfüllung durch Erde schreiten konnte. Oben auf dem Damm war man bereits beschäftigt die beschädigten Schienen zu entfernen und durch neue zu ersetzen.

Das sah Gerard, als er kam. Am Fuß des Dammes standen die Herren der Kommission, die gekommen waren, den Sachverhalt zu untersuchen und zu ermitteln, wen die Schuld treffe. Es hatte sich bereits herausgestellt, daß der Wärter, auf dessen Strecke das Unglück geschehen war, seine Pflicht getan habe. Die Hauptzeugen waren sein Kollege und der Jäger Ludwig, der auch vernommen worden war. Beide konnten beschwören, daß der Betreffende vor der Ankunft des Zuges seine Strecke besichtigt habe. Die einzige Ursache bildete der Fluß, der seine Ufer durchbrochen und sich nun mit aller Macht gegen den Bahndamm geworfen hatte.

Aus fernen Maschinen Werkstätten waren kräftige Eisenarbeiter herbeigeeilt, die mit ihren schweren Werkzeugen unter den Wagentrümmern aufräumten. Ihnen sah Gerard eine Weile zu, bis er bemerkte, daß der Jäger sich einmal allein befand und nun zu sprechen sei, dann trat er zu ihm und sagte höflich:

»Erlauben Sie, daß ich mich bei Ihnen bedanke!« – »Warum?« fragte Ludwig, aber er besann sich sofort und fügte hinzu. »Ah, ich habe Sie heute nacht bereits gesehen.«

»Ja, Sie kamen sofort, nachdem das Unglück geschehen war, um uns zu helfen.« – »Sie sind unverletzt hier?« »Ja, Gott sei Dank. Aber mein Herr hat den Arm zweimal gebrochen und auch eine Kontusion am Kopf.« – »Das ist schlimm dahier! Wo liegt er?« – »Drüben im Dorf Genheim, beim Lehrer Wilhelmi.« – »Da ist er an einem guten Ort.« – »Sie kennen diese braven Leute?« fragte Gerard. – »Sehr gut. Sie sind ja mit meiner Herrschaft daher verwandt. Ich war gestern dort.« – »Mit Ihrer Herrschaft? Darf ich fragen, wer das ist?« – »Jawohl. Ich stehe da drüben in Rheinswalden beim Oberförster Hauptmann von Rodenstein in Dienst. Er ist verwitwet, und seinem Haus steht eine Frau Sternau vor, die mit dem Lehrer Wilhelmi verwandt ist.« – »Diese Dame ist nicht verheiratet?« – »Nein, sie ist Witwe dahier.« – »Sternau, Sternau ...!« sagte Gerard nachdenklich. – »Ist dieser Name Ihnen bekannt?« – »Ja, von Paris her.« – »Ah! Möglich!« – »Ich kannte dort einen Doktor Sternau, der ein Deutscher war.« – »Vielleicht ist dies der Sohn unserer Frau Sternau.« – »Er war bei Professor Letourbier...« – »Das stimmt, das stimmt dahier! Der junge Herr war bei diesem Professor.« – »Ah! Wo befindet er sich jetzt?« – »In Rheinswalden, bei uns.« – »Er hat eine Dame aus Spanien bei sich?« – »Ja. Er hat sie von einer fürchterlichen Fliege geheilt dahier.« – »Und einen Spanier nebst einer Spanierin als Dienerschaft?« – »Ja, das ist unser Alimpo und unsere Elvira. Woher wissen Sie das?«

Gerard durfte nicht zu viel sagen, er antwortete also:

»Ich erfuhr es ganz zufällig. Ich sprach mit einer Dienerin des Professors, die mir es im Lauf des Gesprächs erzählte.« – »So sind Sie ein Franzose dahier?« – »Ja.« – »Und Ihr Herr auch?« – »Nein; er ist ein Italiener, ein Marchese d'Acrozza.« – »Ein Marchese? Das ist so viel wie ein Marquis dahier?« – »Ja.« – »So freut es mich, daß er sich in so guten Händen befindet. Bei Wilhelmis ist er so gut aufgehoben, daß er gewiß zufrieden sein wird dahier. Ich denke, daß er sich ...«

Der Jäger wurde unterbrochen.

Droben auf dem Damm war eine Schiene gesprungen, und die eine Hälfte derselben stürzte herab, gerade in der Richtung, in der die beiden Sprechenden standen.

»Vorsicht! Weg da unten!« rief es von oben.

Es war bereits zu spät. Sie sprangen zwar beide zur Seite, aber das Schienenstück traf auf einen Stein auf, dadurch wurde die Richtung seines Falls verändert und es schlug mit seiner ganzen Schwere auf Gerard hernieder, der augenblicklich zusammenbrach.

»Mein Gott, den hat es erschlagen dahier!« rief Ludwig erschrocken.

In der Zeit von einer Minute waren alle Anwesenden um den Bewußtlosen versammelt.

»Es ist ein Diener. Wer kennt ihn?« fragte ein Herr der Untersuchungskommission. – »Ich«, sagte der Jägerbursche. – »Nun?« – »Er steht bei einem italienischen Marchese in Diensten, der heute nacht mit verunglückt ist.« – »Und wo befindet sich dieser Herr?« – »Drüben in Genheim beim Lehrer Wilhelmi.«

Der Herr bog sich nieder und untersuchte den Verletzten.

»Er ist nicht tot«, sagte er, »er atmet noch. Der Schlag hat ihn auf die Schulter getroffen. Welch eine Unvorsichtigkeit, sich hierher zu stellen!«

Ein anderer Herr schnitt den Livreerock auf und untersuchte die Schulter.

»Die Knochen dieses Mannes müssen von Panzerstahl geschmiedet sein. Ich glaube, daß nur das Schlüsselbein verletzt ist«, sagte er.

Die Schmerzen dieser etwas derben Untersuchung erweckten Gerard aus seiner Betäubung, er schlug die Augen auf und blickte sich im Kreis um.

»Wie befinden Sie sich?« fragte ihn der Herr, der ihn zuletzt untersucht hatte.

Gerard machte sehr erstaunte Augen, besann sich aber, erhob sich und fühlte nach seiner Schulter.

»Donnerwetter, die Clavicula ist kaputt!« sagte er. – »Die Clavicula? Was ist das dahier?« fragte Ludwig. – »Das Schlüsselbein«, antwortete der Schmied gleichmütig.

Dann bückte er sich nieder, faßte die Schiene mit der Hand der unverletzten Seite, hob sie empor, wog sie prüfend, blickte forschend an dem Damm empor und sagte:

»Ein Wunder ist es nicht. Wenn ein solches Stück sieben Meter hoch herunterstürzt, so mag der Teufel ein ganzes Schlüsselbein behalten!«

Die Anwesenden blickten sich ganz erstaunt an, dann begann einer zu lächeln, nachher zu lachen, die anderen stimmten ein. Und so ernsthaft die Situation eigentlich war, es erschallte rundum ein lautes Gelächter, das erst verstummte, als einer der Herren rief:

»Aber Mensch, ich denke, es muß Sie totgeschlagen haben!« – »Pah! Das müßte anders kommen!« – »Ich wollte Sie eben aufladen und nach Genheim schaffen lassen.« – »Danke sehr, Monsieur! Ich gehe selbst.«

Gerard machte in der Tat Miene, den Platz zu verlassen.

»Aber so warten Sie doch!« warnte man ihn jedoch da. »Nehmen Sie wenigstens jemand mit. Sie werden unterwegs umfallen!« – »Keine Sorge, meine Herren!« sagte er. »An einem Schlüsselbeinbruch fällt man nicht um, der heilt unter Umständen sogar von selbst. Besten Dank, und adieu!«

Damit ging er. Die Leute blickten ihm nach, so lange sie ihn sehen konnten, aber sie bemerkten nicht das leiseste Zittern an ihm. Er war ein Garotteur, seine Nerven waren von Eisen, seine Flechsen von Stahl und seine Knochen von einer Materie, die einen Bruch wohl auszuhalten vermag.


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