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Es war am Nachmittag desselben Tages, als Alfonzo de Rodriganda, der sich hier Marchese d'Acrozza nannte, in seinem Zimmer saß und in banger Sorge an seine Brieftasche dachte. Da wurde ihm vom Kellner ein Schmied namens Gerard gemeldet.
»Lassen Sie ihn eintreten!« sagte er schnell.
Der Garotteur kam herein und verbeugte sich sehr höflich.
»Ah, endlich!« sagte Alfonzo. »Haben Sie geforscht und gefunden?« – »Das geht nicht so schnell, mein Herr. Diese Art Leute gehen sehr vorsichtig zu Werke.« – »Also noch gar nichts?« – »Ich habe Gelegenheit gehabt, einem der Garotteurs einen kleinen Dienst zu erweisen, und da er sich mir da zum Gegendienst verpflichtet fühlt und diese Leute einander alle kennen, so glaubte ich Hoffnung zu haben ...« – »Papperlapapp!« unterbrach ihn der Graf. »Machen Sie mir nichts weis! Ich weiß genau, daß Sie selbst Garotteur sind.« – »Wirklich?« fragte der Schmied. »Von wem wissen Sie es?« – »Von Ihrem Mädchen.« – »Schön, ich gebe es zu, Monsieur. Zugleich aber erkenne ich auch, daß man sich auf Sie nicht verlassen kann, denn Sie sind unvorsichtig und plauderhaft.«
Der Graf trat stolz einen Schritt zurück.
»Was wagen Sie!« rief er. »Ich bin ein Marchese!« – »Und ich ein Garotteur!«
Diese vier Worte waren in einem Ton gesprochen, der dem Grafen Respekt einflößte.
»Was bezwecken Sie mit Ihren Worten?« fragte er. – »Daß ich jedem die Wahrheit sage, er mag sein, wer er will. Warum mußten Sie mir sagen, daß ich ein Garotteur bin? Warum mußten Sie es mich wissen lassen, daß mein Mädchen so unvorsichtig gewesen ist, mich Ihnen zu verraten? Kein Mensch hat Sie gezwungen, und irgendeinen Nutzen haben Sie auch nicht davon!«
Alfonzo begann Respekt vor diesem Mann zu bekommen. »Er paßt für dich; er ist kühn, rücksichtslos und verschwiegen!« dachte er, und laut fügte er hinzu:
»Sie haben recht, Gerard, ich war unvorsichtig. Also, was haben Sie erfahren?« – »Ich will offen gestehen, daß ich alle Garotteurs der Hauptstadt kenne. Ein jeder hat seinen bestimmten Bezirk, in welchen ein anderer nur ausnahmsweise einmal kommt; daher wissen wir stets mit ziemlicher Gewißheit zu sagen, wer diese oder jene Garotte unternommen hat. Ich habe nun heute früh den Inhaber des Bezirks, in dem Sie beraubt wurden, aufgesucht, aber er ist es nicht gewesen, er liegt krank. Ich bin nun weiter forschen gegangen und glaube, den Richtigen gefunden zu haben.« – »Ah, welch ein Glück!« – »Ich sagte, ich glaube, den Richtigen gefunden zu haben. Ich muß mich zunächst überzeugen. Darf ich die Frage aussprechen: Sie waren gestern abend im Theater und besuchten dann ein Weinhaus in der Rue Montorgeuil, vor der Sie durch die Rue de la Tonnellerie gingen?« – »Ja, es ist so, wie Sie sagten.« – »Und bogen von da in die verhängnisvolle Straße de la Poterie ein?« – »Das stimmt! Woher wissen Sie das?« fragte der Graf schnell. – »Derjenige, den ich im Verdacht habe, der Täter zu sein, war auch im Theater, auch in demselben Weinhaus und ist dann denselben Weg gegangen. Er teilte es mir mit, ohne zu ahnen, was ich eigentlich bei ihm wollte.« – »Ah, er ist es, er ist es! Haben Sie ihn gefragt?« – »Nein, das wäre sehr unvorsichtig.« – »Aber was kann mir das übrige nützen?« – »Sorgen Sie sich nicht! Ich habe ihm von dem Überfall erzählt. Er tat natürlich so, als ob er gar nichts davon wisse.« – »Sagten Sie, daß ich keine Anzeige gemacht habe und ihn nicht bestrafen lassen will, vielmehr daß er die Wertsachen behalten darf, da es mir nur auf die Brieftasche ankommt?« – »Ja.« – »Und was antwortete er?« – »Ich erzählte, daß ich Sie getroffen hätte, Monsieur, und daß ich dies alles aus Ihrem eigenen Mund erfahren hätte. Er wußte natürlich sofort, daß ich ihn für den Täter hielt und daß ich die Absicht hatte, ihn zur Herausgabe des Portefeuille zu bewegen; aber er war vorsichtig, er gestand nichts ein, er tat, als wisse er von nichts. So viel aber habe ich ganz gewiß erreicht, daß er das Portefeuille aufbewahrt, wenn er es nicht vielleicht bereits vernichtet hat.« – »Aber was nützt mir das Aufbewahren? Haben muß ich es!« – »Dies Aufbewahren nützt Ihnen sehr viel, Monsieur. Sie können von dem Mann doch nicht verlangen, daß er so mir nichts dir nichts gesteht, daß er es gewesen ist, und mir dann die Brieftasche gibt« – »Nein.« – »Sie können auch nicht verlangen, daß er die Brieftasche umsonst herausgibt da er ja nun weiß, welchen Wert dieselbe für Sie hat« – »Nein. Aber ich will ihn ja bezahlen!« – »Richtig. Sie werden jedoch zugeben, daß er versuchen wird, möglichst viel zu erlangen.« – »Wenn das, was ich geboten habe, noch nicht zureicht so gebe ich mehr.« – »Gut. Ich werde ihn heute abermals besuchen.« – »Tun Sie Ihr Möglichstes; ich werde dankbar sein. Vielleicht habe ich dann etwas Lohnenderes für Sie, ich werde noch mit Ihnen darüber sprechen, sobald wir mit dieser Angelegenheit zu Ende sind.« – »Dann wird es vielleicht zu spät sein, weil ich Paris bereits in den nächsten Tagen verlasse.« – »Wirklich?« – »Ja! Ich ziehe in die Provinz.« – »Das ist mir nicht lieb – das ist mir unangenehm«, meinte der Graf sinnend. – »Vielleicht entschließen Sie sich zu einer vorläufigen Mitteilung!« – »Hm, ja, setzen Sie sich.«
Der Schmied nahm in gespannter Erwartung Platz, der Graf schritt einige Male hin und her und sagte dann:
»Kann ein Garotteur Blut sehen?« – »Haha!« lachte Gerard statt aller Antwort verächtlich.
Er wußte, daß das, was der Graf von ihm verlangen würde, nur ein Verbrechen sein könne; er war fest entschlossen, es nicht zu begehen, aber auch ebenso entschlossen, alle sich ihm bietenden Vorteile auszunützen, denn er wollte einen neuen Hausstand gründen, und dazu war vor allen Dingen Geld nötig.
»Es kann vorkommen, daß ihm eins seiner Opfer unter den Händen stirbt, trotzdem er dies eigentlich gar nicht bezweckt hat?« – »Ja, das kommt wohl vor, Monsieur.« – »Er bebt also vor einem Mord nicht zurück?« – »Fällt ihm nicht ein. Alle Menschen müssen sterben!«
Der Schmied versuchte, sich ein möglichst gewissenloses Air zu geben.
»Ist es Ihnen auch schon passiert, daß Ihnen jemand starb?« – »Hm!« machte er schulterzuckend. »Kommen Sie zur Sache, Monsieur! Ich bin kein Freund von unnützen Einleitungen.« – »Nun, die Sache ist die, daß ich eines Mannes bedarf, der Blut sehen kann; nun habe ich geglaubt, daß Sie der Rechte sind.« – »Möglich!«
Gerard legte dabei die Beine sorglos übereinander und lächelte so verschmitzt wie möglich.
»Sie sagen ja?« – »Wie kann ich das? Ich weiß ja noch gar nicht, um wen oder was es sich handelt!« – »So hören Sie! Ich habe einen Feind, der mir sehr zu schaden sucht, sowie meine ganze Existenz bedroht ...« – »So packen Sie ihn bei seiner Existenz an!« – »Das will ich ja, nur fragt es sich, was Sie unter seiner Existenz verstehen!« – »Sein Leben natürlich!« – »Gut, soweit sind wir eins! Wollen Sie mir behilflich sein?« – »Warum tun Sie es nicht selbst?« – »Das ist mir unmöglich. Sie verstehen die deutsche Sprache, die Sie vollkommen sprechen. Sehen Sie, das ist bei mir nicht der Fall, und daher kann ich die Rache nicht selbst übernehmen. Und Zeit, das Deutsche vorher zu erlernen, gibt es nicht.« – »Was hat diese Sprache mit Ihrer Rache zu tun?« – »Der Mann, den ich meine, wohnt in Deutschland, gegenwärtig hielt er sich hier in diesem Hotel auf. Ich verfolgte ihn bis hierher, aber er ist einen Tag vor meiner Ankunft abgereist.« – »So wollen Sie ihm nach?« – »Ja, und Sie sollen mit.« – »Das wird schwer gehen. Ich bin vorbereitet, Paris zu verlassen und mein Mädchen zu heiraten ...« – »Dieselbe, die ich gestern gesprochen habe?« – »Ja. Sie hat das Haus, worin Sie sie trafen, verlassen. Sie sehen, daß es mich große Opfer kosten würde, Sie zu begleiten.« – »Ich bin reich, ich vergüte Ihnen alles.« – »Hm! Wohin soll die Reise gehen?« – »Nach Mainz. – Wie lange wir abwesend sind, das kommt ganz auf die Verhältnisse und auf Ihre Geschicklichkeit und Entschlossenheit an.« – »Sie meinen, daß ich Ihnen zunächst als Dolmetscher zu dienen habe?« – »Ja, als Dolmetscher in Gestalt eines Dieners in Livree; und zweitens, daß Sie diese Person zu beseitigen haben, sowie auch eine Dame.« – »Die sämtlich sich an demselben Ort befinden?« – »Ja.« – »Und wenn ich Ihnen nun diese Opfer bringen möchte, was bieten Sie mir dafür?« – »Was verlangen Sie?« – »Ich habe eine Braut und einen Vater zurückzulassen, ich habe Pläne aufzuschieben oder gar aufzugeben, welche sich auf meine Zukunft beziehen; dafür sind tausend Franken wohl nicht zu viel!« – »Ich zahle sie, und zwar vor der Abreise.« – »Ferner habe ich zwei Menschen verschwinden zu lassen. Was zahlen Sie für ein Menschenleben, das Sie so außerordentlich belästigt, daß sogar Ihre Existenz dadurch in Frage gestellt wird?« – »Auch tausend Franken.« – »Pah, das ist zu wenig. Ich frage jetzt nicht, wer diese beiden Personen sind, denn später, wenn ich bemerke, daß sie den höheren Standen angehören, könnte ich wohl einen sehr hohen Preis verlangen!« – »Was fordern Sie?«
»Fünfzehnhundert Franken mindestens.« – »Das wäre dreitausend Franken für beide, ich gebe sie, sind Sie nun einverstanden?« – »Noch nicht.« – »Was gibt es noch?« – »Ein jeder Geschäftsmann hat das Risiko zu berechnen. Ich riskiere Leben und Freiheit, das kann ich nicht umsonst tun.« – »Alle Teufel, Sie sind ein guter Rechner.« – »Das muß ich. Wie nun, wenn man mich in Mainz fängt und köpft? Ich muß in diesem Fall für die Meinen sorgen.« – »Ich sehe, daß Sie sehr sorgfältig verfahren, und hoffe, daß Sie in meiner Angelegenheit ebenso handeln. Darum will ich auf Ihre sonst ungewöhnliche Forderung eingehen. Wieviel verlangen Sie für Ihr Risiko?« – »Tausend Franken.« – »Verdammt, das ist viel!« – »Sie werden mir erlauben anzunehmen, daß mein Leben mir tausend Franken wert ist, das Glück der Meinen gar nicht mit gerechnet.« – »Gut. Die Summe beträgt also fünftausend Franken.« – »Ja, und zwar sind dreitausend vorher zu bezahlen, weil ich sie brauche.«
Der Graf lachte zynisch.
»Das ist allerdings ein sehr triftiger Grund. Aber wenn ich sie nun verweigere?« – »So reisen Sie allein nach Mainz. Was ich sage, das gilt. Sie werden mich in dieser Beziehung noch kennenlernen.« – »Gut, so will ich mich einverstanden erklären. Aber ich hoffe auch, daß Sie Ihre Pflicht erfüllen!«
Der Graf bemerkte das zweideutige Lächeln nicht, mit welchem Gerard antwortete:
»Kein Sorge, Monsieur, ich werde meiner Pflicht sicherlich richtig nachkommen.« – »So ist dies abgemacht. Wir werden abreisen, sobald ich die Brieftasche in den Händen habe. Wann gehen Sie wieder hin zu dem Mann?« – »Vielleicht am Abend; eher würde es auffällig sein, auch fürchte ich, daß er dann eine größere Entschädigung verlangen möchte, da er meinen müßte, das Portefeuille sei von höchstem Wert.« – »Gut. So können Sie mir jetzt helfen. Ich habe Ursache, dieses Hotel zu verlassen. Der Wirt soll denken, daß ich nach der Bahn von Orleans fahre, ich will aber in der Nähe des Nordbahnhofs wohnen. Wissen Sie dort ein gutes Hotel?« – »Das Hotel de l'Empereur auf der Rue de St. Quentin, in der Nähe des Bahnhofs.« – »So senden Sie mir den Kellner mit der Rechnung herauf, und holen Sie mir eine Droschke.«
Der Schmied erhob sich von seinem Sitz und ging. Draußen blieb er einen Augenblick stehen und reckte die riesigen Glieder drohend empor.
»Schuft!« murmelte er drohend. »Warte, ich werde dir das Handwerk legen. Zunächst aber muß ich wissen, wem der Mordanschlag gilt.«
Er stieg die Treppe hinab und traf unten auf den Hausknecht.
»Ah, Freund, eine Frage«, sagte er, griff dabei in die Tasche und reichte ihm ein Frankstück hin. – »Danke! Was?« – »Hat kürzlich ein Deutscher hier gewohnt, und zwar Herr Doktor Sternau?« – »Ja, es war ein Deutscher aus Mainz.« – »Hatte er Damen mit?« – »Eine Spanierin. Außerdem waren ein Diener und eine Dienerin bei ihm.« – »Danke! Schicken Sie den Kellner hinauf zum Marchese d'Acrozza. Er will die Rechnung haben.«
Der Schmied ging, um eine Droschke zu holen, und zwar sehr langsam, denn die Auskunft, die er erhalten hatte, gab ihm viel zu denken.
»Ein Doktor, ein Arzt ist es«, brummte er leise vor sich hin. »Und die Dame ist eine Spanierin. Was hat mir denn Annette gesagt, als ich sie gestern bei dem Professor besuchte? Ein deutscher Arzt war es, der sie gerettet hat, und eine kranke spanische Dame ist bei ihm gewesen. Das hat sie von Marion, dem Stubenmädchen, erfahren. Himmel, wenn er es wäre, dem ich an das Leben soll!«
Gerard machte eine Geste in der Luft, als ob er jemand erwürgen wolle, und brummte weiter:
»Das muß ich zu erfahren suchen. Aber wenn diese Dame eine Spanierin ist, so ist dieser unechte Marchese d'Acrozza jedenfalls ein Spanier, und sein Taschenbuch ist in spanischer Sprache geschrieben. Sein richtiger Name steht darin. Er heißt Alfonzo de Rodriganda y Sevilla, und sie ist nicht Italienisch sondern Spanisch; wenigstens liegt Sevilla in Spanien. Na warte, Bursche! Eine Droschke hole ich dir, aber zum Teufel sollst du fahren, wenn der Sternau, dem ich an das Leben soll, derselbe Arzt ist, der meine Schwester Annette aus den Fluten der Seine gezogen hat.«
Gerard erreichte den Halteplatz der Fiaker und nahm einen mit zum Hotel. Dort wurden die Effekten des Marchese aufgeladen. Dieser stieg ein, der Schmied hinten auf, und nun ging es scheinbar dem Bahnhof von Orleans und Lyon zu. Bei der Brücke Notre Dame angekommen aber, gebot der Marchese, in die lange Straße Martin einzulenken und nach dem Nordbahnhof zu fahren.
So gelangten sie an das Hotel de l'Empereur auf der Straße St. Quentin, wo sie abstiegen und Alfonzo sich einige Zimmer anweisen ließ.
»Jetzt weißt du genau, wo du mich zu finden hast?« – »Gewiß, Monsieur.« – »Ich werde nicht ausgehen. Sobald du das Portefeuille hast, kommst du.« – »Ich gehe heute abend hin.« – »Vergiß nicht, daß ich mitten in der Nacht für dich zu sprechen bin!«
Der Schmied ging. Als er außer Sicht des Hotels war, nahm er eine Droschke und ließ sich nach der Rue de Lavande Nummer 4 fahren, wo der Professor wohnte. Der Zutritt zu seiner Schwester stand ihm offen, und als er sich mit seiner Erkundigung an sie wandte, erfuhr er, daß ihr Retter allerdings jener Doktor Sternau gewesen sei, der eine spanische Dame bei sich gehabt.
Er sagte von dem Grund seiner Erkundigung nichts und ging zunächst nach Hause, um seinen Vater aufzusuchen, den er ganz ohne Mittel wußte. Er hatte sich vorgenommen, während seines Aufenthalts in Deutschland in der Weise für den Vater zu sorgen, daß dieser keine Not litt, ohne aber seiner Trunksucht weiter frönen zu können.
Er traf ihn, auf einer alten Matratze liegend, doch in vollständig nüchternem Zustand, da er keine Mittel gehabt hatte, sich Branntwein zu kaufen, und sein Kredit so erschöpft war, daß kein Budiker ihm mehr borgte.
»Kommst du endlich!« grollte der Alte. »Man könnte sterben und verderben.« – »Wie ich sehe, lebst du noch«, antwortete der Sohn. – »Aber wie! Hast du Geld?« – »Hm! Wenig.«
Der Alte sprang von seinem Lager auf.
»Gib her!« sagte er, die vor Begierde zitternde Hand ausstreckend.
Gerard griff in die Tasche und gab ihm einen Frank.
»Eins!« sagte der Vater mit heiserem Lachen. »Zwei –!«
Dabei streckte er die Hand abermals aus.
»Aus zwei wird nichts«, antwortete der Sohn, »weil ich nicht mehr geben kann, als ich selbst habe. Das andere brauche ich für mich.« – »Halunke!«
Bei diesem Wort faßte der Vater den Sohn beim Arm und schüttelte ihn.
»Du schimpfst mich?« fragte dieser. »Mit welchem Recht?« – »Du belügst mich, wenn du behauptest, du habest nichts weiter, und bist doch reich.« – »Reich? Wo soll bei mir der Reichtum herkommen?« – »Pah! Von der Garotte natürlich.« – »Das Geschäft geht schlecht.« – »Nein, es geht gut; ich weiß es ganz genau. Du hast einen reichen Italiener garottiert.« – »Ah«, sagte Gerard überrascht. »Wer sagt das?« – »Papa Terbillon, der bei mir war.« – »Welche Seltenheit!« – »Ja, eine Seltenheit; es konnte sich also nicht um eine Kleinigkeit handeln. Er suchte dich eben dieses Italieners wegen. Er hat dir dieses Mannes wegen zehn Franken gegeben.« – »Das ist wahr.« – »Du stehst also in seinem Dienst.« – »So lange es mir gefällt.« – »Aber du hast den Italiener garottiert in der Rue de la Poterie.« – »Donnerwetter!« meinte Gerard überrascht. »Wer sagt das? Wer will das wissen?« – »Papa Terbillon. Er weiß das ganz genau.« – »Pah! Es ist eine Lüge.« – »Nein, Spitzbube. Der alte Terbillon geht ganz sicher. Er hat es selbst beobachtet. Er war im Theater und in der Weinstube, der Italiener auch, und du ebenso.« – »Das mag sein, er wird sich verkleidet gehabt haben. Aber das beweist noch gar nichts.« – »Der Beweis ist dennoch da, denn Papa Terbillon ist euch gefolgt und hat gesehen, daß du den Italiener in der Straße de la Poterie niedergeschlagen hast.« – »So hat er falsch gesehen.« – »Lüge nicht! Er hat gute Augen und wird dich ins Verderben bringen.« – »Das wollen wir abwarten.« – »Er hat mir anbefohlen, daß du sofort zu ihm kommen sollst.« – »Ich werde zu ihm gehen, sobald es mir beliebt. Übrigens habe ich jetzt keine Zeit dazu; ich muß nach Italien verreisen, wohin ich als Diener eben dieses Mannes gehe, den ich garottieren sollte.« – »Alle Teufel!« – »Das beweist doch zur Genüge, daß ich ihn nicht garottiert habe. Ich werde Papa Terbillon seine zehn Franken zurückerstatten, dann kann er mir nicht sagen, daß ich ihn betrogen habe.« – »Gib sie mir, ich werde sie ihm bringen.« – »Hopp, Alter, das werde ich bleibenlassen, weil du das Geld für dich verwenden würdest.« – »Donner und Doria! Hältst du mich für einen Spitzbuben?« – »Ja, ganz gewiß«, lachte Gerard. »Ich habe Erfahrung genug, um zu wissen, was du bist.« – »Halunke!« rief der Alte. »Und das will mein eigener Sohn sein. Wie kommt denn der Kavalier gerade auf dich?« – »Ich habe mich gemeldet.« – »Bist du des Teufels! Jetzt bist du dein eigener Herr, dann aber ein Diener, ein Sklave.« – »Ich will aufhören, ein Verbrecher zu sein.« – »Ah! Und was wird aus mir? Erst hast du mir Annette genommen, und nun gehst du selbst fort. Wovon soll ich leben?« – »Arbeite!« – »Bist du verrückt?« – »Nein. Hast du früher nicht auch gearbeitet?« – »Das war anders, da lebte deine Mutter noch; da war ich jung und kräftig und – und ...«
Er stockte.
»Und hattest dich dem Branntwein noch nicht ergeben«, fügte Gerard hinzu. – »Hm, du magst recht haben«, sagte der Alte. »Aber man glaubt gar nicht, wie gut ein Schluck dem alten Körper tut.« – »Das ist Täuschung.« – »Was weißt du! Du bist jung!« – »Eine Suppe, ein Glas Bier tut ganz dasselbe. Ich werde es dir beweisen, Vater.« – »Ah, wie?« – »Vielleicht bin ich gar nicht sehr lange fort von hier, und ich will dafür sorgen, daß du während meiner Abwesenheit nicht zu hungern und zu dürsten brauchst« – »Also hast du Geld?« fragte der Alte rasch. – »Dazu ja; aber zum Vertrinken nicht.« – »So gib her, Junge!«
Der Alte streckte abermals die Hand aus. Gerard schüttelte den Kopf.
»Nein, so nicht«, sagte er. »Du würdest alles vertrinken.« – »Ich sage dir, daß ich sparsam sein werde!« beteuerte der andere. – »Ich glaube es nicht.« – »Ja, wie willst du denn für mich sorgen, wenn du mir nichts gibst?« – »Du kennst die Restauration der alten Mutter Merveille. Ich werde zu ihr gehen und für dich abonnieren. Du sollst täglich dort dein Frühstück, Mittags- und Abendbrot haben, das ich für dich im voraus bezahle.« – »Welch eine Schlechtigkeit! Dieser Mensch hat Geld und vertraut es seinem Vater nicht an! Ich mag nicht zur Mutter Merveille!« – »Pah! Überdies werde ich Mutter Merveille noch fünfzig Franken für dich geben.« – »Ah, endlich! Wann kann ich sie mir holen?« – »Täglich.« – »Gut. So hole ich sie mir gleich morgen.« – »Nur nicht so hitzig, Alter! Ich habe gesagt, jeden Tag einen Franken. Auf diese Weise hast du täglich ein Taschengeld; gebe ich dir die Summe sofort, so ist sie in einigen Tagen durch die Gurgel gerollt.« – »Ich verspreche dir, sparsam zu sein.« – »Ich glaube es nicht.« – »Donnerwetter! Soll ich dich massakrieren? Welch ein Gedanke, fünfzig Franken zu besitzen und nicht anrühren zu dürfen.« – »Dieser Gedanke ist ganz heilsam. Überdies werde ich die Wohnungsmiete bezahlen, die während meiner Abwesenheit fällig werden wird.« – »So gib mir das Geld: Ich will es sofort zum Wirt tragen.«
Der Alte steckte zum dritten Mal die Hand aus. Gerard aber lachte und erwiderte:
»Daraus wird nichts; ich werde selbst zu ihm gehen.« – »Du bist ein Teufel!« – »Und du ein Engel, der nicht mit Geld umzugehen versteht. Also du wirst täglich deine Mahlzeiten und einen Franken haben; das genügt. Bist du klug, so suchst du dir etwas dazu zu verdienen; dann stehst du dich wie ein Kavalier. Adieu!« – »Du willst schon fort? So gib mir wenigstens noch fünf Franken.« – »Keinen einzigen. Und nun merke dir: Komme ich zurück, und du hast gut Haus gehalten, so mache ich dir eine große Freude. Ich werde dir dann etwas schenken, und zwar eine Schwiegertochter.« – »Eine Schwie...«, rief der Alte ganz erstaunt. »Wie kommst du auf diesen Witz?«
Er lachte und fragte dann weiter:
»Kerl, so bist du verliebt?« – »Sehr.« – »Nun, dann ist es aus mit dir, und das ganze Geschäft geht kaputt.« – »Welches Geschäft meinst du? Etwa die Garotte? Dieses Geschäft soll allerdings kaputtgehen. Ich will ein ehrlicher Arbeiter werden, Vater.« – »Unsinn! Das bringt kein Garotteur fertig.« – »Ich werde dir das Gegenteil beweisen.« – »Man wird es dir schwer werden lassen. Die Polizei kennt dich zu sehr.« – »Ich werde nicht in Paris bleiben, ich gehe vielmehr in die Provinz. Wohin, das weiß ich noch nicht« – »Und wer ist dein Mädchen, he?« – »Eine Arbeiterin; doch sie hat Geld; ich glaube viertausend Franken.« – »Donnerwetter, das ist etwas!« – »Für den Anfang«, lächelte Gerard.
Er sagte die Unwahrheit um den Vater für sein Mädchen gut zu stimmen, und war entschlossen, sein Geld für das ihrige auszugeben.
»Und wo wohnt sie?« fragte der Alte. – »Das erfährst du später.« – »Ah, du denkst, ich besuche sie und pumpe sie an?« – »Ja.« – »Alle Wetter, du bist verdammt vorsichtig. Aber was wird mit mir, wenn ihr fortzieht?« – »Du gehst mit.« – »Hei! Wird sie mich mitnehmen?« – »Ja, obgleich sie weiß, daß du den Branntwein liebst und Garotteur bist« – »Und will es versuchen mit mir? Kerl, du bist dieses Mädchen gar nicht wert Es muß dich sehr liebhaben, Gerard; darum heirate es. Es muß überdies gut und brav sein.« – »Ich hoffe es.« – »Gut, so will ich mir Mühe geben, ich will einmal sehen, ob ich mit dem Branntwein fertig werde.« – »Versuche es, und du wirst sehen, daß es gelingt. Siehe, ich selbst gewinne ja über mich.« – »Das ist etwas anderes, du bist jung. Wohin gehst du jetzt?« – »Zum Wirt und zur Mutter Merveille.« – »Darf ich gleich mit?« – »Hm, ja; es ist besser, du hörst was ich mit ihr bespreche. Komm.«
Sie gingen zum Besitzer des Hauses, um die Miete zu bezahlen, und suchten darauf die Restauration der Mutter Merveille auf, wo Gerard den Vater als Tischgast anmeldete und den Betrag zweier Monate sofort pränumerando entrichtete.
Am späten Abend suchte dann Gerard einen jener alten, kleinen, aber wohl renommierten Gasthöfe auf, in denen man gut wenn auch einfach und billig wohnt, und ließ sich ein Zimmer geben. In demselben saß er die ganze Nacht und schrieb das Notizbuch des Grafen ab. Außerdem kopierte er noch eine einzelne Seite desselben.
Mit dieser begab er sich am Morgen zu einem Buchhändler, um zu fragen, welche Sprache dies sei. Er erfuhr, daß es Spanisch sei, und wußte also nun, was er zu tun hatte.