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14. Kapitel.

Auch außerhalb des Schlosses war während der ganzen Nacht gearbeitet worden. Der Hauptmann hatte sämtliche Bewohner von Rheinswalden aufgeboten, um die Straße, die durch den Wald führte, mit grünen Girlanden und Festons zu schmücken. Da nur zwei Böller vorhanden waren und Rodenstein ein Freund von Ehrensalven war, so wurden Kanonenschläge gefertigt, die in regelmäßigen Zwischenräumen angezündet werden sollten, kurz, man traf alle Vorbereitungen, um den Landesherrn gebührendermaßen zu empfangen.

Ludwig hatte den Braunen wieder bestiegen und war den Herrschaften entgegengeritten, um bei ihrem Anblick sofort umzukehren und ihre Ankunft zu melden.

Der Großherzog war pünktlich. Zwei Minuten vorher sprengte Ludwig zum Tor herein und rief:

»Sie kommen!«

Draußen begannen allsogleich die Kanonenschläge zu krachen, der hundertstimmige Ruf eines begeisterten Hurras kam schnell näher, und da rollten auch schon acht vollbesetzte Equipagen herein, begleitet von Herren, die es vorgezogen hatten, zu reiten. Es waren wohl vierzig Personen.

Der Hauptmann stand in seiner Oberförsteruniform am Portal, um die Herrschaften zu empfangen. Die Burschen glänzten in ihren Staatsuniformen, an ihrer Spitze Ludwig. Neben diesem stand der kleine Kurt. Auch er steckte in einer grünen Uniform und hatte einen Hirschfänger an der Seite.

Der Großherzog sprang, die Hilfe des Lakaien verschmähend, aus dem Wagen, und eben bog er sich nach demselben zurück, um der Großherzogin die Hand zu geben, da erblickte er den Burschen.

»Ah, unser Ludwig Straubenberger!« sagte er. »Kommen Sie heran!«

Ludwig pflanzte sich kerzengerade vor ihm auf.

»Geben Sie Ihrer königlichen Hoheit die Hand«, befahl der Fürst. »Sie dürfen Ihr aus dem Wagen helfen.« – »Ist sie krank dahier?« fragte der gute Bursche.

Er hatte keine Ahnung, daß ihm hier eine Ehre geboten wurde, nach der mancher hohe Offizier und manche Hofcharge vergebens schmachtete.

»Nein«, lachte der Großherzog, »sie will es so.« – »Na, wenn's sein muß, so denn los!«

Mit diesen Worten trat er an den Wagen, streckte der Großherzogin die Hand entgegen und sagte:

»Guten Tag, Hoheit! Da, kommen Sie her, wenn Sie denken, Sie purzeln heraus!«

Er faßte sie an und hob sie buchstäblich aus dem Wagen.

Der Oberforstdirektor hatte inzwischen zu der Kavalkade von der gestrigen Unterhaltung gesprochen, die Herren und Damen waren infolgedessen begierig, den braven Ludwig zu sehen, aber daß er mit der Königlichen Hoheit so summarisch verfahren werde, hatten sie doch nicht gedacht.

Die Großherzogin machte übrigens gute Miene zum bösen Spiel und legte ihre Hand in den Arm ihres hohen Gemahls. So schritten sie, gefolgt von den anderen Herrschaften, nach dem Portal.

Der Oberförster machte sein schneidigstes Honneur. Sein Gesicht brannte förmlich vor Freude, seinen Landesherrn bei sich zu sehen.

»Hier sind wir«, sagte dieser jovial. »So zahlreich haben Sie uns nicht erwartet, mein lieber Rodenstein.« – »Je mehr, desto besser, Hoheit!« antwortete er. »Geben Sie meinem Haus die Ehre, näher zu treten.«

Der Fürst reichte ihm die Hand, die er leise drückte, dann führte Rodenstein diejenige der Fürstin mit Ehrerbietung an seine bärtigen Lippen, verbeugte sich vor dem Gefolge und schritt nun allen voran nach den heute geöffneten Staatsgemächern des Schlosses. Im Saal desselben, der mit seltenen Geweihen und anderen Jagdtrophäen geschmückt war, nahm man Platz, um eine Erfrischung zu nehmen.

Der Großherzog hatte einige Lakaien mitgebracht, um sich von ihnen bedienen zu lassen, aber Rodenstein kannte seine Schuldigkeit als Wirt, seine wackeren Burschen waren da und machten ihre Sache wider Erwarten ganz gut.

Nach dem ersten Trunk sagte der hohe Herr:

»Ich komme zunächst, um mir einmal Ihren kleinen Nimrod anzusehen, doch ist es dazu noch Zeit. Ist Doktor Sternau zu Hause?« – »Ja. Befehlen Hoheit?« – »Er soll kommen.«

Rodenstein gab einen Wink, und Ludwig eilte hinaus.

Die abenteuerlichen, fast romanhaften Erlebnisse des Arztes hatten sich bereits überall herumgesprochen, man kannte ihn noch nicht und war daher nicht wenig begierig, den Mann zu sehen, dem die schönste Gräfin Spaniens ihre Hand schenken wollte.

Sternau trat ein.

Hatte man vielleicht gedacht, daß ein Arzt schon durch seine äußere Haltung eingestehen werde, welche Gnade und Auszeichnung es sei, in der Mitte solcher Herrschaften erscheinen zu dürfen, so hatte man sich hier allerdings bedeutend geirrt. Hoch und breit von Gestalt, ein echter Enakssohn, trat er in der Haltung eines Königs ein. Kein einziger Zug seines offenen, männlichen Gesichts verriet eine Spur von Verlegenheit, und sein großes, schönes Auge flog mit einem ruhigen, forschenden Blick über die Versammlung, als sei er der Gebieter, der hier erwartet werde.

Der Großherzog erhob sich unwillkürlich, und die anderen folgten seinem Beispiel.

»Mein Gott der Herzog von Olsunna!« sagte ziemlich laut und erstaunt ein Herr vom Hof, der hinter dem Fürsten stand.

Schon hatte Sternau das Fürstenpaar erreicht und der Hauptmann eilte an seine Seite.

»Der Herr Doktor Sternau!« stellte er ihn vor und trat dann zurück.

Der Fürst und die Fürstin erwiderten die Verbeugung des Arztes, und der erstere sagte:

»Man hat mir von Ihnen gesprochen. Sie sind in meinem Land geboren?« – »Ich habe die Ehre, ein Landeskind Eurer Hoheit zu sein.« – »Wie kamen Sie nach Spanien?« – »Ich befand mich in Paris bei Professor Letourbier, als ich nach Rodriganda gerufen wurde, um den Grafen dieses Namens von einem doppelten Leiden, dem Stein und dem Star, zu befreien.« – »Ah! Gelangen die Operationen?« – »Ich war glücklich.« – »So darf man Ihnen Glück zu so großem Erfolg wünschen.«

Sternau verbeugte sich dankend, und der Großherzog fuhr fort:

»Übrigens haben wir gehört, daß Sie sich ein außerordentlich angenehmes Honorar mitgebracht haben?«

Der Großherzog lächelte freundlich, was die Eigentümlichkeit seiner Worte in der Weise milderte, daß Sternau mit einem leisen Lächeln antwortete:

»Es wurde freiwillig gegeben, Hoheit.« – »Wir haben von Ihren Schicksalen gehört, und Königliche Hoheit, die Großherzogin, wünscht die Gräfin de Rodriganda zu sehen. Oder hält die Dame sich so zurückgezogen, daß ...« – »O nein, Hoheit. Darf ich Rosa de Rodriganda holen?« – »Ja, wir bitten darum.«

Man nahm wieder Platz. Ein leises Flüstern ging von Mund zu Mund, der Arzt hatte auf alle, besonders aber auf die Damen, einen bedeutenden Eindruck gemacht. Nun war man desto neugieriger auf die Gräfin, der man den Vater geraubt und sie selbst dann wahnsinnig gemacht hatte, so daß sie nur von einem Arzt wie Sternau hatte gerettet werden können.

Während dieser leisen Unterhaltung hatte sich der Großherzog an den Herrn gewandt, der jene Äußerung bei Sternaus Anblick getan hatte.

»Es entschlüpften Ihnen vorhin einige Worte, Exzellenz ...?« fragte er so, daß es nur die Großherzogin hören konnte. – »In einer wirklichen Überraschung, Hoheit.« – »Sie nannten einen hohen Namen.« – »Den des Herzogs von Olsunna.« – »Was hat es für eine Bewandtnis damit?« – »Dieser Doktor Sternau gleicht dem Herzog so, daß ich fast erschrocken war.« – »Zufall.« – »Hm.«

Der Mann machte bei diesem Laut ein so eigentümliches Gesicht, daß der Großherzog aufmerksam wurde.

»Was meinen Sie?« fragte er. – »Ich dachte soeben an einige Eigentümlichkeiten.« – »Die man erfahren darf?« – »Nur Hoheit gegenüber spreche ich davon. Haben Hoheit die zwei kleinen Male bemerkt, die der Doktor im Gesicht hat?« – »Auf der Stirn und an der linken Wange?« – »Ja, sie sind nicht auffällig, sie geben den Zügen eher etwas Pikantes.« – »Was ist's mit ihnen?« – »Dieselben Male hatte der Herzog ganz an derselben Stelle.« – »Ah, das könnte allerdings aufmerksam machen.« – »Ferner ist Madame Sternau, die die Honneurs von Schloß Rheinswalden macht...« – »Sie ist hier?« unterbrach ihn der Fürst. – »Sie und ihre Tochter. Sie war als Gouvernante in Spanien, und zwar auch kurze Zeit bei dem Herzog von Olsunna als Erzieherin von dessen Tochter.« – »Das ist allerdings sehr auffällig.« – »Sie ging ungewöhnlich schnell ab und verließ Spanien. Es mußte irgendeine Szene gegeben haben. Ich kenne das, da ich gerade zu jener Zeit bei der Gesandtschaft war und ihren Paß in die Hand bekam.« – »Stimmt das Alter des Arztes mit der Zeit?« – »Ja, und noch mehr: Ich habe diesen Doktor Sternau schon früher gesehen.« – »Ah!« – »Als Kind, ganz zufällig. Das war bei einem Verwandten der Frau Sternau, einem gewissen Wilhelmi, dessen Sohn jetzt in Genheim Lehrer ist. Ich rechnete bereits damals nach und kam zu dem überraschenden Resultat, das Ew. Hoheit jedenfalls vermuten werden.« – »Eigentümlich, sehr eigentümlich.«

Die Großherzogin hatte alles gehört.

»Man wird sich für diesen Arzt wirklich interessieren müssen!« meinte sie, und lächelnd fügte sie hinzu: »Er hat wirklich so etwas – hm, so etwas ›Herzogliches‹ an sich.« – »Gewiß!« stimmte ihr der Herzog bei.

Eine weitere Bemerkung konnte er nicht machen, denn es öffnete sich soeben die Tür, und Rosa trat am Arm Sternaus ein.

In einer anderen Versammlung wäre ein hörbares »Ah!« der Bewunderung durch den Saal gegangen, diese Hofleute aber waren es gewöhnt, sich zu beherrschen, und doch rückte hier und da ein Stuhl, man hörte das leise Scharren eines Fußes oder das Rauschen eines seidenen Kleides, das durch eine Bewegung der Überraschung hervorgebracht worden war.

Und schön war sie, unendlich schön, so schön, daß sich keine der anwesenden Damen nur im entferntesten mit ihr hätte messen können. Und wie einfach ging sie! Sie trug nichts als ein Kleid von weißem Alpaka, eine Rose im Haar und zwei Nelken am Busen. Es war, als ob die Schönheit sich verkörpert habe und nun hier eintrete, um die Herren in Entzücken und die Damen in bitteren Neid zu versetzen.

Auch bei ihrem Eintritt erhoben sich alle. Die Großherzogin aber ging ihr einige Schritte entgegen und reichte ihr die Hand. Rosa beugte sich mit vornehmstem Anstand auf dieselbe nieder, und als sie den schönen Kopf wieder erhob, senkte sich der vorhin so stolze, königliche Blick so innig bittend und vertrauend in das Auge der Fürstin, daß diese ergriffen wurde und sofort fühlte, daß sie diesem schönen Geschöpf eine Beschützerin sein werde.

»Gräfin Rosa de Rodriganda y Sevilla!« sagte Sternau laut.

Dann trat er einen Schritt zurück.

»Erlaucht«, wandte sich jetzt die Großherzogin an Rosa, »ich heiße Sie willkommen in unserem Land und empfehle Sie hiermit der Gewogenheit Seiner Hoheit.«

Der Großherzog neigte gütig den Kopf und erwiderte:

»Wenn Sie es gestatten, Erlaucht, werden wir Ihnen gern mit unseren Kräften zur Verfügung stehen. Man wird Sie veranlassen, sich den Kreisen unseres Hofes nicht länger zu entziehen.« – »Ich danke, Hoheit, danke von ganzem Herzen«, sagte Rosa, »aber gestatten Sie mir noch länger, mich in der Einsamkeit dem Andenken von Ereignissen zu widmen, die mein ganzes Leben umgestaltet haben. Mein Herz schätzt Ihre Freundlichkeit und findet sie unendlich wertvoll für ein verwaistes Leben; aber ich habe noch stillen Abschluß zu halten mit allem, was hinter mir begraben wurde.« – »Was aber doch wieder auferstehen soll!« versetzte die Großherzogin. – »Oh, wo gibt es einen Christus, der hier sprechen kann: Jüngling, ich sage dir, stehe auf!«

Da entgegnete der Großherzog:

»Erlaucht, wir sind keine Erlöser, Propheten und Wundertäter, doch wenn es möglich wäre, ein Wort zu sprechen, das imstande ist, eine der gestorbenen Hoffnungen wieder aufzuwecken, so werden wir dieses Wort sicher und von Herzen gern sprechen. Wir wollen Sie Ihrer Einsamkeit, die Ihnen vielleicht wohltut und Ihrer Seele den Frieden bringt, nicht entreißen, aber sollten Sie einmal unseres Wortes bedürfen, so hoffen wir bestimmt, daß Sie uns dann nicht vergessen haben. Lassen Sie uns Platz nehmen. Bitte, Erlaucht, an meine Seite! Und Sie, Herr Doktor, nehmen Sie neben Ihrer Königlichen Hoheit Platz. Sie sollen uns erzählen von dem schönen Land der Kastanien.«

Die beiden Verlobten erhielten also die Ehrenplätze neben den Hoheiten. Und nun begann die Aufgabe des Hauptmanns, sich als Wirt zu zeigen.

Es gelang ihm vortrefflich. Das Mahl hatte in allen seinen Gängen den Beifall der Herrschaften, und der Wein, der so lange unberührt im dunklen Schloßkeller gelegen hatte, war so gut, daß am Ende der Tafel eine fast animierte Stimmung herrschte.

»Rodenstein«, sagte da der Großherzog, »treten Sie einmal näher!«

Der Oberförster folgte dem Befehl.

»Wie lange dienen Sie bereits?« – »Vierunddreißig Jahre.« – »Und haben es noch zu nichts gebracht?« – »Zu nichts, Hoheit? Hm, ich dächte, ich wäre doch bereits etwas!« – »Ja, aber es ist ein Unterschied zwischen etwas sein und etwas haben!« – »Hm!«

Der Hauptmann wußte gar nicht, wo hinaus der Großherzog wollte; dieser aber fuhr fort:

»Da Sie nach Ihrer Meinung etwas sind, so sollen Sie heute auch etwas dazu haben. Treten Sie noch näher. Exzellenz, geben Sie her!«

Die alte Exzellenz, die vorhin von dem Herzog von Olsunna gesprochen hatte, griff in die Tasche und zog ein zierlich gearbeitete Etui hervor. Der Großherzog öffnete es und entnahm ihm den hohen Ludwigsorden, den er dem Hauptmann an die Brust heftete.

Dieser wußte gar nicht, wie ihm geschah. Er wurde bald bleich, bald rot; seine Lippen zitterten, und der Atem ging ihm schwer.

»Dies soll Ihnen ein Zeichen unserer außerordentlichen Huld und Gewogenheit sein«, sagte der Großherzog. »Tragen Sie ihn heute, uns allen zur Freude. Das übrige werden wir noch verfügen.«

Da endlich kam dem Hauptmann die Sprache wieder: »Königliche Hoheit – Sapperlot – das ist ja – o heiliges – na, so eine Überraschung! Das habe ich ja gar nicht verdient!« – »Ob Sie diese Auszeichnung verdient haben, das zu ermessen, kommt uns allein zu. Jetzt aber lassen Sie einmal Ihren kleinen Nimrod kommen.«

Rodenstein winkte einem seiner Burschen, und dieser ging, den Befehl des Großherzogs auszurichten, der weiter fragte:

»Wie alt ist er? In Ihrer Zuschrift stand fünf Jahre.« – »Und einige Monate«, entgegnete Rodenstein. – »Also ein Knabe, der noch nicht schulpflichtig ist, schießt einen Wolf, sogar einen Luchs? Das ist unglaublich!« – »Der Junge ist ein Mirakel, Hoheit!« – »Das muß so sein, wenn hier nicht ein Irrtum vorliegt. Was meinen Sie, Herr Doktor?«

Sternau antwortete:

»Der Knabe hat beide Tiere ganz gewiß geschossen, Hoheit. Auch ich würde es nicht glauben, aber ich kenne ihn. Er würde ebenso ruhig auf einen Elefanten anlegen wie auf einen Hasen. Er hat bereits einmal in meiner Gegenwart einen wütenden Eber erlegt, der Gräfin Rodriganda in Lebensgefahr brachte.« – »So bin ich allerdings begierig, den kleinen Helden zu sehen.«

Jetzt trat Kurt ein. Man hatte ihm gesagt, wie er sich zu benehmen habe. Er machte seine Sache ganz vortrefflich, er kam in kerzengerader Haltung furchtlos heranmarschiert, stellte sich in Achtung vor dem Großherzog auf und machte sein Honneur.

»Ah, da bist du ja!« sagte der Fürst. – »Hoheit haben befohlen!« meinte Kurt, indem er die hellen, klugen Augen fest auf seinen Landesvater richtete. – »Wie heißt du?« fragte dieser. – »Kurt Helmers. Helmers von meinem Papa und Kurt von dem Herrn Hauptmann, der mein Pate ist.« – »Schön, das ist deutlich! Wie alt bist du?« – »Fünf und ein Viertel.« – »Was ist dein Vater?« – »Seemann.« – »Wo ist er?« – »Er war Steuermann auf der Jeffrouw Mietje, jetzt aber ist er zu Hause, hier auf Rheinswalden.« – »Was willst du einmal werden?« – »Hoheit, ein tüchtiger Kerl!«

Bei dieser Antwort kniff Kurt die Lippen so energisch zusammen, daß man es ihm ansah, es sei sein voller Ernst.

»Das ist brav von dir! Aber ich meine, welchen Stand du dir wählen wirst.« – »Das verstehe ich nicht; das überlasse ich Papa und dem Herrn Hauptmann, vielleicht auch dem Doktor Sternau.« – »Warum diesen dreien?« – »Sie sind gescheiter als ich und wissen es besser, wozu ich tauge.«

Der Großherzog nickte wohlgefällig, sagte aber doch:

»So hast du also keine Vorliebe für irgendeinen Stand?« – »O doch! Ich will etwas werden, was recht schwer ist, wo man recht viel zu lernen hat, und wo man recht kämpfen muß. Ein Jäger, ein Seemann oder ein Soldat.« – »Das gefällt mir. Lernst du gern? Zähle einmal auf. Lesen?« – »Hm«, entgegnete Kurt stolz, »das rechnet man nicht! Lesen und Schreiben und so weiter kann jeder Gänsebube. Ich kann Englisch und Französisch; ich muß zeichnen und vieles andere tun, was mich der Herr Hauptmann lehrt. Sodann kann ich schießen, reiten, fechten, schwimmen, turnen, na, das ist alles ja nicht schwer.« – »Du bist ein Hauptkerl. Was hast du denn schon geschossen? Scheibe?«

Diese Frage war in einem ein wenig spöttischen Ton ausgesprochen, aber der Knabe antwortete ganz ruhig:

»Ja, Scheibe; erst feste und nachher Schwingscheibe, sodann Steine, die man in die Luft warf.« – »Nachher? Einen Hasen etwa schon?« – »Ja, Hasen, in diesem Winter bereits einige hundert.« – »Auch bereits anderes Wild?« – »Ja.« – »Und wie war es mit dem Wolf?« – »Oh, das war sehr einfach: Ich sah ihn, und da schoß ich ihn nieder. Was kann man weiter tun!« – »So, so. Hattest du keine Furcht?«

Der Knabe sah den Großherzog groß an.

»Furcht? Vor wem denn? Vor dem Wolf? Der hat sich doch vor mir zu fürchten, vor mir und vor meiner Büchse!« – »Ah so! Aber der Luchs?« – »Das war ebenso; doch er hat zwei Kugeln erfordert« – »Und auch den hast du nicht gefürchtet?« – »Nein, ich war dumm; ich dachte erst es sei eine Wildkatze; ich hatte die Ohrpinsel nicht bemerkt.«

Der fünfjährige Bube sprach so furchtlos und verständig, daß die Hoheiten sich förmlich verwunderten. Die Großherzogin legte ihm die feine Hand auf den Kopf und zog ihn zu sich heran.

»Hast du denn deine Mama noch?« fragte sie. – »Jawohl«, beteuerte er. – »Und hast du sie lieb?« – »Gar sehr!« – »Hast du denn nicht an sie gedacht als der Wolf vor dir stand?« – »Nein«, sagte er ehrlich. – »Das ist unrecht von dir, mein Sohn.« – »Unrecht?« fragte er. »Warum?« – »Denke an die Tränen deiner Mutter, wenn dich der Wolf oder der Luchs getötet hätte!« – »Ja«, gab Kurt zu, »da hätte sie sehr viel geweint, denn sie hat mich lieb. Aber meine Mama geht doch auch in den Wald...« – »Was willst du damit sagen, Kind?« – »Wenn nun der Wolf oder der Luchs die Mama getötet hätte? War es da nicht besser, ich ging hinaus und schoß das Viehzeug nieder?«

Die Großherzogin fühlte sich überrumpelt und geschlagen. Sie lächelte und antwortete:

»Du sprichst richtig wie ein Held!« – »Ach, Hoheit ich bin kein Held! Wenn Sie einen Helden sehen wollen, so müssen Sie hier meinen Onkel Sternau ansehen, der ist in Amerika und Afrika gewesen, sogar in Asien. Da hat er Löwen, Panther, Tiger und Elefanten gejagt; da hat er auch mit wilden Menschen gekämpft. Was bin ich da gegen ihn. Ein dummes Kind!« – »Ah«, sagte der Großherzog, »das haben wir nicht gewußt. Sie waren in Amerika, Herr Doktor?« – »Allerdings«, antwortete Sternau. – »Und im Orient?« – »Einige Jahre.« – »Und haben wirklich diese Tiere gejagt?« – »Nebenbei. Der Hauptzweck meiner Wanderungen waren natürlich die Studien.« – »Dann werden wir gewiß bald Gelegenheit suchen, uns von Ihnen erzählen zu lassen. Dieser Kleine profitiert gewiß auch von Ihren Erfahrungen.« – »Einigermaßen. Jetzt zum Beispiel lehre ich ihn, den Lasso zu gebrauchen.« – »Nicht möglich! Einen fünfjährigen Knaben!« – »Und doch. Ich habe ihm einen Lasso gefertigt, fünfzehn Fuß lang und vierfach geflochten. Er gebraucht ihn bereits ziemlich gut.« – »Gegen wen?« – »Gegen die Hunde und Ziegen, sowie gegen sein kleines Pony, das zwar nicht die Kraft hat wie größere Tiere.« – »Das möchte man einmal sehen«, sagte die Großherzogin. – »Oh, das ist nichts«, fiel Kurt ein. »Hoheit müssen den Onkel Sternau sehen, wenn er eine Stunde gibt. Schieße ich fünfzig Schritt weit, so nimmt er dreihundert; reite ich über einen Baumstamm, so sprengt er über eine Mauer; fange ich mit dem Lasso eine Ziege, so reißt er ein Pferd nieder. Er schießt von vier Steinen, die ich emporwerfe, zwei mit einem Schuß herab, und jeden Stein, jede Kugel, die ich werfe, trifft er im raschesten Galopp. Das ist der richtige Held! Aber ich lerne es auch noch!«

Kurts Wangen glühten, und er sah dabei so hübsch aus, daß ihn die Großherzogin streichelte. Der Großherzog aber sagte:

»Dann wundere ich mich nicht mehr, daß du Wölfe schießt. Ist der Wolf noch zu sehen?« – »Ja«, erwiderte Kurt. »Er liegt im Holzstall.« – »Und der Luchs?« – »Der liegt auch noch drüben, nackt, ohne Haut.« – »So werden sie nachher in Augenschein genommen. Also auch fechten kannst du, und mit allen Waffen?« – »Ja, Hoheit!« – »Wer war denn dein Lehrer?« – »Der Herr Hauptmann. Und jetzt lerne ich gar noch boxen vom Onkel Sternau.« – »Das geht ja nicht, du bist klein und er so groß.« – »Ach, das wird anders gemacht! Es muß ein Junge aus dem Dorf her, den nehme ich; der Onkel nimmt den Ludwig; diese beiden machen es vor, und wir machen es nach.« – »Ach so! Und wer bekommt da die Hiebe?« – »Der Junge und der Ludwig. Dann ruft er immer: ›Gottstrambach dahier!‹ Es ist das ein sehr lustiger Unterricht!« – »Das glaube ich«, lachte der Großherzog. »Also auch ein Reiter bist du?« – »Oh, nur ein Ponyreiter; aber man hat dennoch Respekt vor mir.« – »So wirst du uns nachher etwas vorreiten.« – »Sehr gern.« – »Und wie steht es mit den Sprachen? Du sprichst französisch?« – »Ja. Wir können jetzt ja französisch oder englisch sprechen, Hoheit. Mir ist's egal.« – »Du Tausendsassa! Aber wir wollen doch beim Deutschen bleiben. Wer hat dich in diesen Sprachen unterrichtet?« – »Der Herr Hauptmann und Frau Sternau. Jetzt aber habe ich noch einen anderen Lehrer, den Tombi, er ist ein Waldhüter, eigentlich ein Zigeuner.« – »Welche Sprache lernst du von ihm?« – »Das sagt er noch nicht; aber ich habe ihn überlistet und einmal nachgeschlagen. Man liest verkehrt, nämlich von rechts nach links; es wird wohl Arabisch sein oder Malaiisch.« – »Davon weiß ich ja noch gar nichts!« sagte Sternau. – »Ach, ich soll es geheimhalten, denn Tombi denkt, der Herr Hauptmann räsoniert darüber.« – »Aber warum lehrt er es dich?« – »Er sagt, ich könne es einmal gebrauchen, und er will in der Übung bleiben.« – »So wird es wohl die Zigeunersprache sein. Die sollst du allerdings nicht lernen.« – »Zigeunerisch ist es nicht, nein! Die Zigeuner beten doch nicht!« – »Ah, er lehrt dich Gebete?« – »Ja. Alle meine Sprüche, Lieder und Gebete übersetzt er mir. Onkel, nicht wahr, du verstehst Arabisch?« – »Ja.« – »Nun, so kannst du gleich einmal sehen, ob es vielleicht Arabisch ist. Soll ich dir einmal den Anfang des Vaterunser sagen?« – »Ja. Arabisch heißt er: ›Ja abana Iledsi fi s-semavati jata-haddeso smok‹.« – »Nein, das ist es nicht; der meinige lautet: ›Bapa kami jang ada de surga, kuduslah kiranja namamu‹.« – »Was? Woher hat der Waldhüter diese seltene Sprache! Es ist Malaiisch.« – »Malaiisch?« fragte der Großherzog. »Ein deutscher Waldhüter und Malaiisch! Wie es scheint, sind hier auf Rheinswalden lauter außerordentliche Menschen zu finden.« – »Er ist in der Malaiensee gewesen«, entgegnete der Knabe. »Er hat mir von Borneo und Timur und Celebes erzählt.« – »Dann muß ich mit ihm hierüber sprechen.« – »Also, Onkel Sternau, darf ich diese Sprache weiter lernen?« – »Jawohl, in Gottes Namen. Auch ich kann einiges davon; ich werde mittun.« – »Außerordentlich!« meinte die Großherzogin. »Man sieht, daß man Veranlassung hat zum öfteren nach Rheinswalden zu kommen.« – »Ja, ja, kommen Sie!« rief Kurt freudig. – »Ah, warum sagst du das?« fragte sie freundlich. – »Weil ich Sie liebhabe.«

Da beugte sich die Großherzogin über den Knaben und fragte: »Und warum bist du mir gut Kurt?« – »Weil Sie so gute Augen haben.« – »Also du fürchtest dich nicht vor mir?« – »Nein. Warum sollte ich mich fürchten?« – »Weil – nun, weil ich eine Fürstin, eine Großherzogin bin«, lächelte sie. – »Darum? O nein«, sagte er. »Ist denn eine Großherzogin so etwas Schreckliches? Wie kann ich mich vor Ihnen fürchten, wenn ich mich nicht vor dem Luchs gefürchtet habe.«

Die Hofdamen wurden verlegen. Dieser Verstoß war zu groß, als daß nach ihrer Meinung die Großherzogin ihn ruhig hinnehmen konnte; diese aber dachte anders als ihre Damen. Sie nickte gütig und entgegnete:

»Du hast recht, mein Sohn. Auch eine Fürstin braucht Liebe; man soll sie ehren, aber man soll sie nicht fürchten. Nun aber magst du uns einmal deine Künste zeigen.« – »Nicht erst den Wolf und den Luchs?« – »Ja, auch so ist es uns recht. Komm.«

Die schöne Frau nahm Kurt bei der Hand, und nun spazierten sämtliche Herrschaften hinüber nach dem Vorwerk, um die beiden Tiere zu besichtigen, die man ihrer Seltenheit wegen noch gar nicht aufgerissen hatte. In der jetzt herrschenden Kälte waren sie gefroren und boten also nichts Widerliches. Der Großherzog untersuchte die Schüsse mit eigenen Händen.

»Und das bist du wirklich gewesen?« fragte er erstaunt. – »Ja«, antwortete der Kleine. – »Und niemand war bei dir?« – »Kein Mensch.« – »Kind, so bist du ein Liebling der Vorsehung. Sie muß dich zu Ungewöhnlichem bestimmt haben. Sei immer brav und gut und hüte dich vor allem Unrecht!« – »Das werde ich«, erwiderte Kurt sehr ernsthaft. »Aber nun darf ich wohl mein Pony und meine Waffen holen?« – »Tue das«, sagte der Hauptmann. »Die Herrschaften werden aus den Fenstern zusehen.« – »Und«, wandte sich die Großherzogin an Sternau, »werden auch Sie uns eine Ihrer ritterlichen Künste zeigen?«

Über Sternaus Stirn legte sich eine leise Falte; es widerstrebte ihm, als Kunstreiter oder Kunstschütze aufzutreten. Die hohe Dame bemerkte es und fügte hinzu:

»Wir haben noch nie einen Lasso gesehen. Bitte, Herr Doktor.«

Da glättete sich die Falte, und Sternau machte eine zustimmende Verbeugung und sagte:

»Ich stelle mich zur Verfügung.« – »Ja, Onkel Sternau, Sie müssen mittun«, rief Kurt. »Dann habe ich auch mehr Lust, und es geht weit besser.«


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