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Im Süden, in einem entlegenen und einsamen Ort lebte einst eine Frau, deren Mann vor Jahren ausgewandert und nicht wieder zurückgekehrt war. Nun mußte sie allein säen und jäten und im Herbst erntete sie allein. Wenn sie in den langen Winternächten einsam am Webstuhl saß, dachte sie an die verflossenen Jahre und an ihren einstigen Mann, dessen Gesicht sie beinahe vergessen hatte. Dann rief sie ihren Knaben, ihr einziges Kind, den guten Naktong, und tröstete sich mit ihm.
Als dieser Knabe größer wurde, bat er seine Mutter, sie möge ihn in den Schriften unterrichten. Sie konnte es aber leider nicht tun, weil sie die schweren Klassiker nicht zu deuten vermochte. So seufzte sie und sagte: »Ich könnte dich nur etwas malen lehren.«
Am nächsten Tag ging sie zum Markt, brachte ihrem Kind einen Pinsel, 137 ein Stück Tusche und einen Bogen Papier und unterrichtete ihn im Malen.
Er malte fleißig und gut, während seine Mutter jeden Tag aufs Feld zur Arbeit ging und erst abends nach Hause zurückkehrte. Als der ganze Bogen Papier bemalt war, ging die Mutter noch einmal zum Markt; sie verkaufte ihre Tücher, kaufte damit neue Papiere; sie tat es gerne, weil der Knabe gut malte und weil er doch ihr einziger Trost war.
So waren mehrere Jahre vergangen, als die gute Mutter eines Tages krank wurde und trotz der liebevollen Pflege des Knaben mehrere Monate liegen blieb. »Ich sehne mich nach guten, frischen Dattelfrüchten«, sagte die kranke Mutter. Wo sollte man aber in diesem tiefen Winter Datteln hernehmen! So malte der Knabe zum Trost zwei schöne Dattelfrüchte auf ein Eichenblatt und gab es seiner Mutter. Als aber die Mutter das Bild in die Hand nahm und es betrachten wollte, kugelten die beiden Früchte vom Blatt 138 herunter in ihre Hand; es lagen nun wirkliche Dattelfrüchte in ihrer Hand, schöne, frische Früchte, und auf dem Blatt war kein Bild mehr zu sehen. Die Kranke aß die Früchte und sagte, sie schmeckten ihr wie die natürlichen Datteln. Naktong malte darauf wieder Datteln auf das Eichenblatt. Er malte drei Früchte und es rollten drei Datteln in die Hand der Mutter. So konnte sie viele Datteln essen und wurde bald danach gesund.
Mutter und Kind dankten dem Himmelsherrn für dieses große Wunder, das sich von nun an aber oft wiederholte. Einmal malte er einen schmalen Sturzbach und hing das Bild an der Wand neben dem Bett seiner Mutter auf. Wenn die Nacht still war und sie schlaflos lag, hörte sie es irgendwo rauschen, als läge sie unter einem wirklichen Sturzbach. Es brodelte, schäumte und toste. Wenn sie erschrocken Licht anzündete, sah sie nur das Bild, in das alles Geräusch und alles Schäumen 139 hineinverstummte. Wenn nun Naktong einen Karpfen hineinmalte und unter das Bild einen Topf mit Wasser hinstellte, schnellte der Fisch in den Topf hinein.
Es vergingen wieder viele Jahre. Eines Tages wanderte auch der Knabe aus. Er sagte zu seiner Mutter, daß er seinen Vater suchen wollte und wenn er ihn fände, käme er mit ihm wieder zu seiner Mutter zurück.
Er wanderte lange über Berge und Täler, durch Dörfer und Städte, gelangte zum Schluß in die Königsstadt, wohin auch sein Vater einst ausgewandert war, um ein Beamter zu werden. Hier hörte aber Naktong, daß sein Vater durch die Verleumdung eines eifersüchtigen Untertanen des Königs in den Kerker geworfen worden war. Naktong bat nun den Wächter des Kerkers innigst, daß er vor den Augen seines Vaters ein Bild malen dürfte, um ihm damit eine Freude zu machen. Es wurde ihm erlaubt. So malte er auf einem 140 Bogen Papier ein Tsolima, ein Pferd, das an einem Tag tausend Meilen springen konnte. Kaum hatte er aber den letzten Strich getan, stand schon das Pferd neben ihm. Vater und Sohn setzten sich darauf und bevor sich der Wächter versehen konnte, waren sie bereits über die Kerkermauer gesprungen und ritten in so großer Eile zur Heimat, daß sie von niemanden, auch nicht von den besten Hofreitern verfolgt werden konnten. 141