Mirok Li
Iyagi
Mirok Li

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19. Der kleine Poksuri mit dem großen Fenster

Eine dunkle Sonnenfinsternis hatte das große Unheil des Landes verkündet, und ein Komet – der Stern des Todes – war erschienen. Tag und Nacht hatten die Füchse gebellt und Mord und Tod vorausgesagt. Danach waren viele Räuber ins Land gekommen, hatten die Männer gemordet, die Frauen fortgeschleppt und die Häuser verbrannt. In dem großen Dorf waren alle Menschen getötet bis auf einen kleinen Knaben, der Poksuri hieß. Als die Räuber und ihre Pferde fortgezogen waren, kroch er wieder aus dem Heizloch heraus, wo er sich versteckt hatte, und sah, daß auch seine Eltern tot dalagen, und das schöne Haus verbrannt und halb zerschlagen war. Es kam die Nacht. Poksuri fürchtete sich sehr und kroch wieder in sein Heizloch. 102

Was sollte nun der arme Poksuri tun? Er war ganz allein und hatte nichts zu essen, hatte kein Bett, keinen Schrank, nicht einmal eine Kürbisschale mehr. Über keinem der Zimmer war mehr ein Dach, so daß er sich nirgends unterstellen konnte, wenn es regnete. So dachte er fortzugehen. Er sah überall im Hause nach, ob er etwas mit auf die Wanderung nehmen könne. Alle Wände, alle Fußböden waren zu Asche geworden. Nur ein einziges Fenster war verschont geblieben. Was sollte er aber mit diesem Fenster machen? Er berührte es liebevoll und weinte, weil das das Einzige war, was ihm von seiner lieben Heimat geblieben war. »Lebe wohl, Fensterlein!« sagte er traurig und wollte aus dem Hause gehen. Da rief das Fenster: »Nimm mich mit!« Poksuri hatte noch nie ein Fenster sprechen hören, deshalb sah er sich mehrere Male um, um zu sehen, ob ein Mensch im Hause wäre. Nein, es war niemand da. Nicht einmal ein Hund 103 lebte mehr im Dorfe. Da sagte das Fenster noch einmal: »Nimm mich mit!«

Da wußte Poksuri, daß das die Stimme seines lieben Fensters war. Er hob es aus den Angeln und trug es mit fort. Das war aber nicht leicht, weil Poksuri noch ein kleiner Knabe war. Das Fenster war viel zu breit für seinen schmalen Rücken, es ragte links und rechts darüber hinaus, so daß Poksuri seine Arme gar nicht mehr frei bewegen konnte. Doch trug er es geduldig den ganzen Tag, bis er müde wurde und sich unter einen Baum setzte, um auszuruhen. Er ließ es zu Boden rutschen und sagte zu ihm: »Du bist jetzt so schwer, ich kann dich nicht mehr tragen, bleibe lieber hier.« Das Fenster sagte aber wieder: »Nimm mich mit.«

»Du bist so schwer, daß ich dich wirklich nicht mehr tragen kann««sagte Poksuri und ging allein weiter. Das Fenster rief aber wieder und wieder: »Nimm mich mit! Nimm mich mit!« und seine Stimme klang so traurig, daß 104 Poksuri umkehren und das große Fenster wieder auf seinen Rücken legen mußte.

Bald danach kam er zu einem Haus, das hell erleuchtet war. Das war das einzige Haus in der weiten Gegend, welches vor den Räubern verschont geblieben war. Er fragte die alte Frau, die herauskam, ob er hier eine Handvoll Hirsebrei zu essen bekommen könnte. Seine Eltern wären durch die Räuber getötet und er müsse weit wandern. Die alte Frau brachte ihm einen Topf voll gekochter Hirse. Poksuri setzte sich vor das große Tor und aß, genau so, wie alle Bettler taten. Es wurde ihm traurig ums Herz, jetzt ein Bettler geworden zu sein. Nachdem er gegessen hatte, dankte er der alten Frau und wollte gehen. Da sagte sie zu ihm: »Du hast ein so schönes Fenster. Wozu schleppst du das schwere Ding? Laß es bei mir, wir können es gut gebrauchen.« Poksuri war das recht. Wozu sollte er das Fenster weiter tragen? Da flüsterte aber das Fenster: »Gib mich nicht her! Ich 105 bitte dich, Poksuri, gib mich nicht her!« Das arme Fenster zitterte vor Angst. Poksuri hatte nun wieder Mitleid mit ihm und sagte zu der Frau: »Das ist mein einziges Hab und Gut, ich kann es Ihnen leider nicht geben.«

Es war wieder Nacht geworden. Poksuri kannte den Weg nicht, er stolperte oft und stieß bald diese bald jene Ecke des Fensters auf den Boden. »Trage mich doch richtig, Poksuri! Es tut mir überall weh, weil du mich immerfort anstößt.« »Jammere doch nicht so, Fenster, ich bin müde!« sagte Poksuri und ging weiter.

Am nächsten Morgen fand er wieder ein Haus, ein einziges, das von einem großen Dorf allein geblieben war. Ein Mann besserte die zerfallenen Mauern aus. »Knäblein, wohin gehst du mit dem großen Fenster so allein?« fragte er. »Ich wandere, weil ich kein Haus mehr habe«, antwortete Poksuri, »die ganze Nacht habe ich das schwere Fenster getragen, ich bin müde und hungrig.« 106

»Gib mir das Fenster, dann gebe ich dir ein gutes Essen!«

Poksuri wollte nun das Fenster heruntertun, als er wieder eine traurige Stimme hörte: »Gib mich nicht her, lieber Poksuri, ich sterbe vor Sehnsucht, wenn du mich verläßt.« So ging Poksuri also, ohne die Morgenspeise gegessen zu haben, weiter auf seinem Weg. Das Fenster wurde immer schwerer und schwerer, so daß er es nur noch halb schleppend tragen konnte. Es ächzte, seufzte und stöhnte vor Schmerzen, weil der Weg so holperig und weil sein unterer Rand schon ganz abgerieben war. Poksuri tat aber, als ob er nichts höre von diesem Gejammer und Getue und schleppte es nun ganz auf dem Boden hinter sich her.

Den ganzen Tag sah er kein Haus. Alle Dörfer waren verbrannt. Kein Mensch lebte mehr. Erst gegen Mitternacht erblickte er ein großes Haus, als er durch einen Wald über 20 Li gegangen war. Hier schienen die Räuber 107 noch nicht gewesen zu sein. Das Tor war aber nur einen Spalt geöffnet und die Schwelle so hoch, daß Poksuri zuerst das Fenster hinüberschieben und fallen lassen mußte, bis er sich selbst hindurchzwängen konnte. Das arme Fenster jammerte nun, was das Zeug hatte. »Meine Füße hast du schon ganz abgerieben und jetzt stellst du mich auch noch auf den Kopf, daß ich nicht mehr atmen kann und daß es mir ganz schwindelig wird!«

Poksuri tat wieder, als ob er nichts hörte und trug das Fenster in das Haus hinein.

Alle Zimmer waren hell beleuchtet, sie waren voll von Menschen, die alle mit traurigen Mienen dasaßen. Als Poksuri hereinkam und fragte, warum sie so traurig seien, sagten sie: »Das einzige Kind des Hauses, das schönste Mädchen der Welt, ist am Sterben.« Poksuri hatte nun keinen Mut mehr, diese betrübten Menschen um Essen und Obdach zu bitten. Da kam der 108 Vater herein, und als er Poksuri sah, sagte er: »Du siehst wie ein Wunderknabe aus! Deine Augen sind leuchtend, deine Ohren so lang und deine Stirn ist so vornehm! Verstehst du etwas von der Heilkunde? Willst du mir das einzige Kind retten?«

Es tat Poksuri weh, daß er das nicht konnte. Da hörte er das Fenster flüstern: »Ich kenne die Krankheit, ich kann das Mädchen retten! Tue, als ob du ein Arzt wärest!« Poksuri gehorchte und ging mit dem Vater zu der Sterbenden. In dem dunklen Gang, als er bangen Herzens ins Innere des Hauses ging, flüsterte das Fenster weiter: »In der Wand, hinter den Schränken ist ein Bild verborgen, wenn du das heraus tust, wird die Tochter gesund werden.«

Poksuri kam nun ins Krankenzimmer und sah das schöne leidende Mädchen. Er hatte noch nie ein so schönes Kind gesehen. Sie war so schön, wie der Halbmond, der über dem östlichen Berg heraufkam, so schön wie eine 109 Schwalbe, die über dem Wasser fliegt. Ihre Mutter saß neben ihr und weinte. »Hier bringe ich einen Wunderknaben!« sagte der Vater, »er wird unser Kind gesund machen.«

Poksuri rief nun zwei kräftige Männer herbei, die ihm helfen mußten, die Schränke wegzuschieben und die Wand mit Haken und Hämmern abzutragen. Bald sah man, daß ein Wandschrank eingemauert war, und als Poksuri die Türe auftat, siehe, da kam das Bild eines Feldherrn zum Vorschein, der einst unschuldig getötet worden war.

»Verbrennt dieses Teufelsbild!« befahl Poksuri. Bald brannte es lichterloh auf einem Scheiterhaufen im Hof, und noch ehe es ganz verkohlt war, richtete sich das schöne Mädchen auf und sah sich um, als ob sie von einem schweren Traum aufgewacht wäre. »Hier ist der Wunderknabe, der gekommen ist, dich zu retten«, sagte der glückliche Vater und führte Poksuri an ihr Lager. 110

Poksuri durfte nun in dem großen Hause bleiben und alles mit den Eltern und der Tochter teilen. Er blieb solange, bis er erwachsen war und das schöne Mädchen heiraten konnte. Das Fenster aber kränkelte und konnte sich nicht erholen, weil so viel von seinen Füßen abgerieben war, und weil es zu lange auf dem Kopf gestanden hatte. Es starb aber ruhig, ohne zu klagen, nachdem es von Poksuri liebreich getröstet worden war. Poksuri und seine Frau trugen es auf einen Berg und begruben es unter einem schönen Kirschbaum. 111

 


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