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Ann entdeckte verwundert, wieviel Geld sie verdienen konnte, jetzt, da sie sich zum erstenmal in ihrem Leben dieser langweiligen Beschäftigung mit Hingabe widmete. Sie kam zu dem Schluß, daß die wesentliche Eigenschaft der Millionäre nicht methodisches Planen und Vorausdenken sei, nicht die Gabe, sich Gehilfen auszuwählen, noch intuitive Voraussicht des künftigen Weltbedarfs an so fabelhaften Dingen wie Benzin und Taschenflaschen und Hafermehl in roten Packungen, sondern ganz einfach Stumpfsinn, der es ihnen möglich macht, das Leben dem Geldmachen zu opfern.

Sie wollte eine Heimat für Barney und für Mat haben.

Sie lebte jetzt in einer Wohnung, die größer war als ihr altes Hotelappartment, aber weniger elegant und billiger. Ihr einziger Luxus waren das Kindermädchen für Mat, seine Milch und seine weißen Wollanzüge. Sie hatte Piratenkopf gekauft, war aber (naturgemäß) dahinter gekommen, daß seine Einrichtung, der Einbau des Badezimmers und die Instandsetzung des verwahrlosten Hofplatzes bedeutend mehr kostete, als sie erwartet hatte.

Früher war sie jeder Klubsekretärin ausgeliefert gewesen, die ihr schrieb: »Wir möchten so gern, daß Sie bei uns sprechen, aber leider hat dieses Jahr unser Kassierer sehr wenig Geld, so daß wir Ihnen außer den Spesen nichts zahlen können.« Nun hatte sie einen Vortragsagenten, der nicht in der Illusion lebte, Ruhm und Ehre seien barem Gelde vorzuziehen; sie stand allwöchentlich an zwei bis drei Abenden in Sälen, Klubs oder Kirchen, von Hartford bis Baltimore, und hielt für fünfzig bis hundertfünfzig Dollar den Abend Vorträge über so gut wie alle bekannten Themen, die Berührungspunkte mit Verbrechern, Emanzipation, Erziehungswesen und einer vagen mystischen Angelegenheit namens »Psychologie« hatten.

Durch Malvina Wormsers Vermittlung bekam sie den Auftrag, für die Blätter eines Zeitungssyndikats eine Artikelserie zu schreiben, die sich »Wie bewahrt man junge Mädchen davor, auf Abwege zu geraten?« nannte. Ihr wurde ziemlich übel dabei. Sie konnte sich nie ganz klar darüber werden, was das größere Verbrechen wäre: Barneys Urteil in dem Kanal-Fall oder ihr Presseschmus; aber an heißen Abenden in diesem Spätsommer, als Barney den vierten Monat im Gefängnis saß, dann an strahlenden Sonntagvormittagen im September, wenn sie Sehnsucht danach hatte, Mat zu nehmen und mit ihm in die Westchester-Berge zu flüchten, und später in Winternächten, wenn es nach Mitternacht kalt in der Wohnung wurde und sie dasaß und arbeitete, im Mantel über Bademantel und Flanellpyjama: da quälte sie sich schwer mit Antworten (und manchmal, wenn das echte Material spärlich war, mit Fragen und Antworten) an Arbeiterinnen, Kleinstadtmädchen oder verängstigte Frauen, die wissen wollten, wie sie in Sicherheit lieben könnten, ob ein nüchterner Liebhaber besser wäre als ein betrunkener Ehemann, wie man nach der entmenschenden Behandlung in einer »Besserungsanstalt« wieder ein Mensch werden könnte, und ob das Tragen seidener Strümpfe immer zum Galgen führte.

In Anns Stil gab es keine fines herbes, weder Estragon noch Kerbelkraut. Es war das ehrliche Cornedbeef-Haschee der Literatur. Aber sie meinte es so ernst, sie mühte sich so unablässig, daß sie auf etliche tausend Leute von Bangor bis San José Eindruck machte, und die Mißbilligung ihrer Bekannten, diesen sicheren Beweis des Erfolges, erreichte sie ganz entschieden.

Russell, der (vergeblich) anrief, um sich in ihre Wohnung einzuladen, beendete ein ziemlich spitzes Zwiegespräch mit den Worten: »Weißt du, worüber ich mich totlachen könnte? Die Art und Weise, wie du mich als merkantil beschimpft hast, als ich Kaufmann wurde, und jetzt produzierst du dies verschmuste Zeug für die Zeitungen!« Pearl McKaig teilte telephonisch mit, daß Ann durch ihre Artikel in keiner Weise zum Fünfjahrplan der UdSSR, beitrüge. Aber Malvina, die in literarischen Dingen den Geschmack eines Kaninchens hatte, sagte: »Prächtiges Zeug, Liebling, und oft habe ich den Eindruck, daß es wahrscheinlich irgend etwas bedeutet«. Und Barney, der einen ausgezeichneten Geschmack hatte (seine Lieblingsautoren waren Herman Melville, Samuel Butler, Saki und P. G. Wodehouse) – Barney bekam die Artikel nie zu sehen und wußte nichts von ihnen.

Sie entwickelte eine heimliche Gewohnheit, in Reisebüros, Eisenbahn-Auskunftsstellen und Grundstückagenturen zu gehen und Werbeschriften zu klauen, die Reklame für Obstgärten und Ranches im Westen machten. Sie ähnelten den Beschreibungen, die ein Pfingstprediger vom Himmel gibt. Jeden Tag sah Ann sich mit Barney und Mat in einem Kirschengarten im Santa Clara Tal oder in einem Apfelgarten am Columbiafluß. Sie schwelgte in grellfarbigen Bildern von Bergen und Reitpfaden oder von Bungalows tief in Orangenwäldchen verborgen. Aber sie machte sich nicht viel aus Landschaft um ihrer selbst willen, sie sah sie immer nur als Hintergrund, wunderschön und ruhig und sicher für ihren Mann und ihr Kind.

 

Neben diesen Aufgaben hatte sie noch eine andere. Sie lief unaufhörlich, völlig skrupellos, herum, um Barneys Begnadigung zu erwirken. Sie drängelte sich als Mitglied in das Komitee für Gefängnisinspektion einer staatlichen Vereinigung von Frauenklubs; das gab ihr oft Anlaß, die Ratgeber des Gouverneurs zu besuchen, und in schlauer Weise (so hoffte sie wenigstens) brachte sie den Namen und die Qualitäten Barneys zur Sprache, sowie ihre Auffassung, daß die Tatsache der Verurteilung eine ausreichende Strafe für solch einen Mann darstelle. In diesem Komitee mußte sie bemerken, daß die Bedeutende Frau Dr. Ann Vickers keine so makellose Persönlichkeit mehr war wie früher. Man respektierte ihr Wissen, aber man hielt sie unter Beobachtung. Sie bemerkte, daß Gerüchte über ihre »moralische Haltung« im Umlauf sein mußten, obwohl sie Mrs. Keast den Mund gestopft hatte. Ihr, dem Sonntagsschulmädchen von Waubanakee, der Jungfrau von der Vereinigung Christlicher Junger Mädchen in Point Royal, war das völlig gleichgültig, wenn sie nur imstande war, einen Schein von Tugend aufrecht zu erhalten, bis Barney befreit war.

Am schwersten von allem, fast so schwer, wie es gewesen war, Barney als Gefangenen abführen zu sehen, war eine Unterredung in seinem Interesse mit Richter Lindsay Atwell.

Sie war Lindsay in den vier Jahren seit dem Abbruch ihrer Beziehungen dreimal begegnet, und zwar immer zufällig, bei Empfängen oder Ausschußsitzungen; sie hatten sich höflich nach den beiderseitigen Gatten erkundigt, mit angemessenen Lügen geantwortet und waren im allgemeinen unangenehm herzlich gewesen.

Sie rief ihn an und kam dann in sein Büro, nur wenige Meter von dem Orte des Schreckens, wo sie Barney fertig gemacht hatten … wo Barney so viele andere fertig gemacht hatte. Lindsay war noch dünner und grauer und ganz abgebraucht, wie ein alter Windhund.

»Das ist eine große Freude, Ann – wenn ich dich noch so nennen darf?«

»Natürlich, Lindsay. Immer, hoffe ich.«

»Du siehst äußerst gut aus. Und deinem Gatten geht es gut?«

»Du meinst Russell?«

»Ja – aber – –«

»Natürlich. Dumm von mir – gedankenlos von mir. Also, offen gesagt, ich habe mit Russell gebrochen. Ich habe ihn seit einer ganzen Reihe von Wochen nicht gesehen.«

»Oh, das tut mir aber leid!«

»Das ist gar nicht notwendig! Mir tut es keineswegs leid. Wir haben uns in aller Freundschaft getrennt, weißt du; wir haben einfach gemerkt, daß wir nicht miteinander auskommen können.«

»Oh, ja. Ja. Aber dein Baby – ich hörte, du hättest ein Kind – es war mir eine große Freude, Ann, und, muß ich es sagen? ich war ein bißchen neidisch. Ich bedaure sagen zu müssen, daß ich mich nicht genau erinnere, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist …«

 

Aber sie hatten knappe zehn Minuten höfliche Blödheiten gewechselt, als sie herausplatzte: »Lindsay, ich brauch deinen Einfluß in einer Sache, die für mich sehr wichtig ist; die mir sehr, sehr am Herzen liegt, wenn dir das nicht zu sentimental klingt. Ich möchte einen Gnadenakt für Richter Bernard Dolphin erwirken.«

Lindsay war starr. »Dolphin? Aber wieso bist du an ihm interessiert?«

»Er ist sehr befreundet mit – hm, mit Malvina Wormser, und so natürlich auch mit mir.«

»Ich hätte gedacht, seine einzigen Freunde, wenn er überhaupt noch welche hat – entschuldige bitte meinen Zynismus, aber du mußt wissen, ich kenne ihn! – ich hätte gedacht, das wären nur Bezirkspolitiker und Bootlegger.«

»Aber du kannst ihn nicht kennen! Er hatte – oder hat – ein großes Laster, das auch eine große Tugend war: seine Treue gegen jede Gruppe, der er gerade angehörte. Er hat das Spiel gespielt, wie man sagt.«

»Und wie man sagt, meine liebe Ann, war es ein sehr schlechtes Spiel! Ich weiß nicht, ob du verstehen kannst, wie überaus viel die Ehre des Richterstandes für mich bedeutet? Du darfst mich nicht für allzu beschränkt oder streng halten, wenn ich sage, daß ich Dolphin in vieler Beziehung so ansehe, wie du immer diesen abscheulichen Gefängnisdirektor, oder was er war – du nanntest ihn immer irgendeinen Cap'n – in Copperhead Gap angesehen hast. Ich glaube, du kennst den hohen Grad meiner Wertschätzung, ich will sogar sagen: Zuneigung zu dir. In aller Bescheidenheit erkenne ich an, daß in der Zeit, als wir einander öfter sahen – und es war auf meiner Seite mehr Schüchternheit als Mangel an Verlangen darnach, was mich gehindert hat, mich darum zu bemühen, dich öfter zu sehen – aber was ich sagen wollte, in jenen Tagen warst immer du es, die einen höheren und leidenschaftlicheren Standard der gesellschaftlichen Ethik aufrecht erhielt, als ich zuwege bringen konnte. Aber jetzt – – Unter gar keinen Umständen. Ich werde niemals auch nur das geringste tun, in Wort oder Tat, um die durchaus verdiente Strafe dieses Mannes abzukürzen, der sich gegen das Heiligtum versündigt hat, dem er gerade durch sein Amt dienen sollte.«

»Hol der Teufel seine Reinheit! Hol der Satan seine Tugend! Der Mann hat nicht Blut genug in den Adern, um in Versuchung zu kommen! Und ganz extra und besonders verdammt sollen seine abgerundeten Perioden sein!« dachte Ann in der Untergrundbahn. Aber sie fluchte schwach und unfachmännisch, und sie benutzte das Fluchen nur als Zuflucht, um sich ihre betrübte Überzeugung zu verbergen, daß Barney seine ganze Strafzeit hindurch weiter vom Leben abgeschnitten sein und sie selbst vom Leben abschneiden würde. Und im nächsten Monat – es war im April, zwei Jahre, nachdem sie mit ihm im Virginia-Tal gewesen war, es waren elf Monate seit seiner Verurteilung – dachte sie so oft an Selbstmord, daß nur Mats Gegenwart, sein komisches Grinsen, sein komisches schnelles Krabbeln, sein »Mamma« sie von diesem Ausweg abhielt.

 

Es war heiß für Mai, und an diesem Abend kam Ann ihre Zeitungsarbeit unerträglich vor, und auch ihre Wohnung war unerträglich. Die Wohnung lag in der Hundertachten Straße, nicht so weit vom Central Park, daß Mat nicht den Luxus von Gras und Bäumen und Luft hätte genießen können; aber sie lag nach dem East River zu, in einer Gegend der Feuerleitern mit abgeblätterter schwarzer Farbe, der Brauereien, Kohlen- und Eisläden in schwärzlichen Kellern, der koscheren Schlächter, der ungarischen Kaffeestuben, und zwischen den riesigen grauen Mietskasernen stand da und dort ein Fachwerkhäuschen, das von vor hundert Jahren übrig geblieben war. Die Gegend war nicht ganz zu einem Slum geworden, aber der Unterschied bestand im wesentlichen darin, daß die Gegend weniger heiter war. Keine jüdischen Mütter saßen in Umschlagtüchern vor der Tür und schwatzten; die Kinder, die auf den Straßen herumwimmelten, Ball spielten und unter die knarrenden Lastwagen fielen, waren weniger vergnügt als die verhungerten Zigeunerkinder der Slums. Aber laut genug waren sie, und an diesem heißen Abend, an dem alle Fenster offenstanden, war das Kindergeschrei für Ann wie ein Schmerz, der oben in ihrem Kopf hämmerte. Sie stand auf dem kümmerlichen Feuerleiterbalkon und roch den gebratenen Fisch, den Kohl und den feuchten Dampf von den Wäschereien.

Wird in den langen vier Jahren, die Barney noch im Gefängnis bleiben muß, selbst wenn er für gute Führung Strafnachlaß bekommt, ihre Beziehung zu ihm bekannt werden, so daß sie ihren Ruf und ihre Stellung verlieren wird und, in dieser Zeit der Arbeitslosigkeit, jede Arbeit annehmen muß, die sie kriegen kann? Denn plötzlich waren die Arbeitsstellen entsetzlich selten geworden für Hunderttausende von selbständigen emanzipierten Frauen, die mit überlegener Miene hatten sagen können: »Ach, zum Teufel mit meinem Mann und meinem Vater, jawohl, und dem Chef auch. Schließlich, müssen Sie wissen, kann ich immer noch bei Tisch bedienen!« Jetzt konnten sie nicht mehr bei Tisch bedienen. Sie konnten nicht mehr überlegen sein. Es waren gute Zeiten für männliche Chefs – abgesehen davon, daß sie ihre Stellungen auch verlieren konnten.

Wird Mat, der jetzt noch so unberührt und rosig und unverdorben war, wohl auch da unten mit den anderen spielen müssen, zwischen den Müllhaufen und Zeitungsfetzen und Abfalleimern?

Sie hörte ein Klopfen an der Außentür ihres Wohnzimmers. Das Haus, in dem sie wohnte, bewahrte noch einen gewissen Schimmer von Vornehmheit; es hatte einen Portier; aber als Portier war er nicht viel wert, weder Toben noch Trinkgelder hatten ihn je dazu gebracht, Besucher telephonisch zu melden; und alle möglichen Hausierer, Bettler und Schnorrer für zweifelhafte Wohltätigkeitssammlungen kamen und klopften. Sie seufzte, ging hinein an ihren Schreibtisch und tippte auf ihrer Maschine: »… also sollten Mädchen, die glauben, sie müßten sich gegen ihre Eltern auflehnen, einen Versuch mit der Lektüre des berühmten alten Stückes König Lear machen, ehe sie den Entschluß fassen – –«

Es klopfte wieder und sie sagte gleichgültig »Ach, her ein.« Anscheinend keine Antwort. Sie sah auf. Barney Dolphin stand in der Tür. Sie starrte ihn an. Keuchend, mit offenem Mund saß sie da. Dann explodierte das Leben in ihr wie eine Rakete, und sie wußte, daß es Barney war, und schon war sie schluchzend zu ihm hingelaufen, hatte ihn in die Wohnung gezogen. Sie verschloß die Tür. Vielleicht war er ausgebrochen! Sie drückte ihn in einen Stuhl nieder und kniete neben ihm auf der Erde; ihre Arme zuckten, als sie seine armen Hände faßte und küßte.

»Ja. Es ist alles in Ordnung. Der Gouverneur hat mich heute begnadigt. Ich bin frei. Nicht einmal Bewährungsfrist. Sei vergnügt! Ann, Liebste, Liebste!« Und er preßte sein Gesicht in ihr Haar und schluchzte, wie sie es nie konnte.

Sie wollte etwas für ihn tun. Sie lief geschäftig in die Küche, um einen Whisky Soda für ihn zu holen, aber dreimal, ehe sie auch nur das Eis klein machte, mußte sie zurückstürzen, um sich davon zu überzeugen, daß er da war. Er hatte sich jetzt in der Hand und gab sich Mühe, ruhig auszusehen, aufrecht in seinem Stuhl zu sitzen, aber nach einem Augenblick sank er wieder zusammen.

Sein Gesicht hatte das Grau, das man nur in Gefängnissen und Hospitälern kennt. Seine Lippen waren ein Strich – nicht mehr leicht zum Lächeln zu bringen. Sein Haar sah aus, als ob man es mit einer stumpfen Gartenschere abgefetzt hätte. Seine Kleider waren zerdrückt. Aber was wirklich wehtat, war der Ausdruck in seinen Augen. Sie folgten ihr, und bettelten sie an, gut zu ihm zu sein – nein, bettelten sie an, ihn dableiben zu lassen, bis er wieder zu Atem käme.

Aber sie fühlte: »Ich mach ihn wieder gesund – Lippen und Augen und Hände!«

Nachdenklich trank er den Whisky Soda und murmelte: »Mein Gott, der erste in diesem ganzen Jahr! Höre – –«

»Wart! Dann kannst du reden!« Sie lief in ihr Schlafzimmer, kam mit einem Paar Pantoffeln zurück, zog ihm die Schuhe aus und die Pantoffeln an.

»Aber die passen ja! Wie kommen – –«

»Ich hab sie vor einem Jahr gekauft, Barney. Sie haben auf dich gewartet.«

»Hm. Hier wird man besser bedient als im Kasten!« Fast lächelte er.

In einem Augenblick heller Scham erinnerte sie sich ihrer einstigen Verliebtheit in die gleichfalls großen Pantoffeln von Hauptmann Lafayette Resnick. Alles im Leben war miteinander verbunden – selbst durch Pantoffeln. Sie vergaß es, als sie rief: »Wie ist es gekommen, Barney, wie ist es gekommen?«

»Ja, ich glaube, dein Freund Richter Lindsay Atwell hat geholfen.«

»Wirklich? Oh, das ist wunderbar! Ich hab ihm so unrecht getan.«

»Ja. Entschieden. Er war an der Spitze eines Ausschusses von Rechtsanwälten, die zum Gouverneur gingen und ihm so moralisch kamen und sich solche Mühe gaben, ihn zu terrorisieren, er solle mich zum mindesten auf Lebenszeit im Kasten lassen, daß der Gouverneur sich vermutlich geärgert hat. Er hat mich ganz plötzlich, ohne vorherige Ankündigung, begnadigt. Der Direktor kam heute nachmittag in die Schneiderwerkstatt (ich bin jetzt ein ganz guter Zuschneider!) er grinste immerfort, und ich hatte den Wunsch, ihm eine Schere in den Bauch zu rennen. Aber er sagte: ›Richter, kommen Sie in mein Büro‹, und da sagte er es mir, und dann ließ er mich in seinem eigenen Haus die Kleider wechseln, und ich war so benommen, daß ich im Zug saß, ehe ich recht begriffen hätte, daß ich – mein Gott – frei war! Ich kann durch Straßen gehen! Ich kann fremde Leute ansprechen! Ich kann in eine öffentliche Bibliothek gehen! Ich kann mir Zigaretten kaufen! Ich kann zu dir kommen! Und ich bin immer noch benommen. Ich seh sicher schrecklich aus. Aber es hat mich nicht gekriegt, nicht ganz. Ich komm wieder hoch, wenn du mir hilfst … wenn du mich haben willst!«

Sie sagte, was zu sagen war.

Er rieb sich die Augen und stellte sein Glas, nur zu einem Viertel geleert, ab. »Ich muß mich damit ein bißchen vorsehen, glaube ich. Nicht daran gewöhnt. Nein, ich habe vergessen, das war nicht alles. Die Zeitungen hatten irgendwie von der Sache Wind gekriegt – es war allerdings zu spät für die Abendblätter – und die Reporter warteten an den Hinter- und Vordertüren des Gefängnisses. Der Direktor hat mich mit einem Sweater über meinen Kleidern herausgeschmuggelt, als Fahrer eines Wäschewagens – die einzige nützliche Sache, die ich jemals getan habe, vermutlich – abgesehen davon, daß ich dich kennengelernt habe! Also die Reporter werden jetzt wilder als je hinter mir her sein. Ich glaube, ich werde heut abend nach Long Island hinaus müssen. Aber Ann, meine Ann, ich mußte ein paar Minuten Paradies mit dir haben, bevor ich denen – und ihr gegenüber trete.«

»Du wirst nicht gehen! Du mußt heute nacht hierbleiben. Nein! Du mußt – –«

Sie stürzte ans Telephon, zehn Jahre jünger, um ein ganzes Lebensalter fröhlicher. »O'Sullivan Autovermietungsgesellschaft? Ich brauche sofort eine Limousine, ich muß nach Scarsdale hinaus. Dr. Ann Vickers, Leiterin Stuyvesant-Arbeitshaus. Nach meiner Wohnung, Hundertachte Straße. Ja, sofort.« Sie kniete neben ihm, aber jetzt war sie nicht angespannt, und er auch nicht.

»Ich hab Piratenkopf gekauft, weißt du noch? Es sind nur drei Zimmer richtig eingerichtet, aber wir fahren heut abend dahin, wie zu richtigen Flitterwochen. Ich werde jeden Tag in die Stadt müssen, aber ich komm ganz schnell zurück, und du bleibst da, bis du die Reporter sehen willst … und Mona und die Mädchen. Geht das?«

»Ja!«

»Inzwischen laß deine Rechtsanwälte alles Notwendige tun und laß sie die Reporter empfangen – sie können ihnen sagen, du wärst heimlich mit einer Yacht weggefahren, um dich von deiner ungerechten Einkerkerung zu erholen – irgendeinen guten ehrlichen Schwindel, Liebling.«

»Ach so. Ich beginne mein neues moralisches Leben mit Lügen?«

»Jawoll. In dieser speziellen Familie ist neuerdings genug Märtyrer gespielt worden, mein Guter! Und ich hab dir noch nicht einmal einen Kuß gegeben! Und dabei hab ich seit einem Jahr davon geträumt!« Ihre Stimme klang ungläubig.

»Vielleicht sind wir über das Küssen schon hinaus.«

»Ich hoffe nicht!«

»Ach, ich würde mich nicht wundern, wenn wir dahinter kämen, daß die animalische Seite unseres Wesens durch die Haft zu sehr vergeistigt worden ist. O mein Gott, Ann, ich kann es nicht glauben – es ist unmöglich – ich bin bei dir, frei. Ich darf sogar zu viel reden!«

Ehe der Wagen für sie kam, ging er auf Zehenspitzen ins Kinderzimmer, lange Zeit stand er da und sah nachdenklich auf seinen Sohn hinunter, der in dem dämmrigen Licht so heiter schlief, so unirdisch rein und unbefleckt vom Leben. Am Fuß der Wiege lag ein lächerlicher grauer Flanellaffe mit roter Mütze. Barney küßte Mat und ging leise weg, und nun lächelte er. Ann mußte gegen ihre Tränen kämpfen, denn dieses Lächeln war das traurigste von allem.

Den ganzen Weg nach Scarsdale über hielt er ihre Hand fest, auch als er sich hinüber beugte, um sie zu küssen. Aber sie sprachen leidenschaftslos. Sie waren realistisch genug, sich in ihre Finanzen zu vertiefen. Er hatte acht bis zehntausend übrig behalten, und sie erzählte ihm stolz, daß sie zweitausend gespart, und außerdem Piratenkopf zum Teil bezahlt hatte.

»Wir können nach dem Westen gehen, wo niemand was weiß«, sagte sie, »uns eine Farm kaufen und da leben, bis du wieder bei Gericht zugelassen wirst, oder was es sonst wird.«

»Wahrscheinlich kann ich inzwischen Grundstücke verkaufen«, sagte er. »Ich versteh was davon.«

»Aber erst wollen wir die Sache ausfechten. Russell wird sich schnell genug von mir scheiden lassen. Ich glaube, Mona von dir jetzt auch – das willst du doch?«

»Natürlich!«

»Inzwischen wollen wir einfach friedlich zusammenleben. Laß den Skandal losgehen! Mich werden sie rausschmeißen, aber es wird mir sehr viel Spaß machen, die ganzen Politiker hineinzulegen, einschließlich eines Staatssenators, der mir zehntausend Dollar geboten hat, wenn ich ein Mädchen entkommen ließe! Es wird ein großartiger letzter Kampf. Und dann bin ich bereit für eine andere Arbeit. (Ich werd immer Arbeit haben – du kannst dich am besten gleich dran gewöhnen – das Verliebtsein macht mich nur zu einer noch stureren Emanzipierten!) Und außerdem gibt es vielleicht gar keinen Skandal, wenn wir darauf gefaßt sind. Die werden denken, wir haben etwas im Hinterhalt. Das hört sich gut an, nicht wahr?«

»Wunderbar. Ich werd mich einen Monat ausruhen. Aber – – Liebste Ann, ich kann nicht zu Hause sitzen und in einem Garten herummurksen und sonst nichts tun, während du die Sache auskämpfst und das Brot verdienst. Wenn ich einen Monat haben könnte, und dann gingen wir nach Westen und fingen gleich an zu arbeiten, das wäre schön. Aber Monat für Monat ein Pensionär zu sein – – Ich wünschte beinahe, du hättest nicht Piratenkopf gekauft!«

»Oh. Schön. Ich dachte mir, daß du vielleicht dieses Gefühl haben wirst. Deshalb hab ich auch schon einen Kommissionär an der Hand, der es mir mit einem kleinen Profit abnehmen will. Aber ich wollte dir nichts davon sagen, bevor ich genau wußte, wie du darüber denkst. Wie wär's mit Oregon und Äpfeln und Bergen, und Mat und du und ich?«

»Ach, ich hab mir nie viel aus Äpfeln gemacht. Die kamen mir immer so kalt vor. Aber ich würde gern ein Jahr in die Berge gehen und dann –« Er ließ einen Augenblick ihre Hand los, kratzte sich am Kinn und sagte ernsthaft. »Ann, ich denke, ich werde mich an die Arbeit machen und eine Million Dollar mit Grundstücken verdienen.«

Sie glaubte nicht recht daran. Die Zeit für diese Art sinnloser Vermögen war vielleicht vorbei. Aber sie war glücklich, weil jetzt, nach nicht mehr als zwei Stunden, der um Nachsicht bittende geschlagene Mann sich schon in den ehrgeizigen und aufschneiderischen Jungen verwandelt hatte, der in jedem gesunden Mann steckt.

Gleich zerbrach er sich wieder den Kopf. »Du sagst, du hättest keine Angst vor einem Skandal, aber meinst du nicht, es wäre leichter für dich, wenn du von deinem Posten im Gefängnis zurücktrittst?«

»Nein. Du würdest das auch nicht tun! Ich habe nicht das Gefühl, daß ich etwas mache, weswegen ich zurücktreten müßte. Es ist durchaus richtig, mit dir zusammen zu sein! Und es würde auch nichts nützen, wenn ich zurücktrete. Man würde bloß denken, ich liefe weg.«

»Was ist es mit der zukünftigen Wirkung des Skandals auf Mat?«

»Hör mal! Das ist eine neue Zeit. Wenn Mat sechzehn ist, wird er im Wörterbuch nachsehen müssen, um herauszufinden, was das Wort ›Skandal‹ bedeutet. Nein! Ich halt es mit dem guten alten Seeräuber, dem Herzog von Wellington: ›Publizieren Sie's und gehen Sie zum Teufel!‹«

 

Sie kamen nach Piratenkopf und sie liebte ihn so sehr, daß sie ihm, für diesen Abend, sogar die Verpflichtung ersparte, ihre eingebauten Bücherschränke, ihr Leinen und die gestrichenen Möbel zu bewundern. Bis der späte Mond aufging, saßen sie vor der Tür, dicht umschlungen, in so sicherem Lebensgefühl, daß sie schweigen konnten.

 

Als sie beim Tageslicht erwachte, war er aus ihrem Zimmer im ersten Stock fort. Sie bekam einen irrsinnigen Schreck. War er etwa wirklich aus dem Gefängnis ausgebrochen; nur für eine Nacht zu ihr zurückgekommen? Sie stürzte ans Fenster, und dann hielt sie an und lachte leise.

Barney ging unten in dem noch unfertigen neuen Garten herum, in Hemdsärmeln, eine Pfeife im Mund. Einmal blieb er stehen und fuchtelte mit der Pfeife in der Luft herum. Sie vermutete, er mache Pläne, wie das Rosenbeet besser anzulegen wäre.

Als sie herunterkam, hatte er das Frühstück für sie fertig gemacht.

»Aber das ist ja reizend von dir, Barney!«

»Ist der Kaffee gut? Ist er wirklich gut? Ja?«

»Himmlisch!« (Und zufällig war er es auch.)

»Schön, das freut mich. Ann!«

»Ja, hoher Herr.«

»Ich glaube, der Boden, in dem die Rosenbüsche gepflanzt sind, taugt nichts. Du müßtest Riesenmengen Dünger hineintun.«

»Ja – –«

»Und ich würde mich nicht so sehr damit beeilen, dieses Grundstück zu verkaufen, auch wenn wir nach dem Westen gehen. Wir haben – oder vielmehr du hast da eine ausgezeichnete Kapitalanlage.«

»Natürlich, ich werde tun, was du für richtig hältst.«

»Und im Gefängnis habe ich deinen Artikel über die Beziehungen zwischen Verbrechen und Tuberkulose gelesen, im Journal of Economics. Ich glaube, deine Zahlen stimmen nicht. Soll ich sie mal nachkontrollieren?«

»Ach, würdest du das tun? Das wäre furchtbar nett. Oh, Barney!« sprach in sanfter Ekstase die Gefangene Frau, die Freie Frau, die Bedeutende Frau, die Emanzipierte Frau, die Häusliche Frau, die Leidenschaftliche Frau, die Weltläufige Frau, die Provinz-Frau – die Frau.

Er ging mit großen Schritten durchs Zimmer. Sie sah mit Entsetzen, daß er unbewußt nach einem festen Schema ging: zweieinhalb Meter hinauf, einen halben Meter hinüber, zweieinhalb Meter zurück, einen halben Meter herüber, ohne Wechsel; und dabei brummte er: »Obwohl – es ist eine große Unverschämtheit von mir, überhaupt Kritik an dir zu üben, mein Liebling!«

Sie sagte, so nebenbei wie möglich: »Hast du je daran gedacht, Barney, daß wir beide jetzt aus dem Gefängnis heraus sind, und daß wir so viel Verstand haben sollten, uns darüber zu freuen?«

»Aber wieso bist du – –«

»Ihr beide, du und Mat, ihr habt mich aus dem Gefängnis von Russell Spaulding befreit, aus dem Gefängnis des Ehrgeizes, dem Gefängnis des Geltungsbedürfnisses, dem Gefängnis meines Selbst. Wir sind aus dem Gefängnis heraus!«

»Ja! Das sind wir!« Wieder schritt er durchs Zimmer, aber diesmal nicht in abgemessenen Strecken von zweieinhalb und einem halben Meter.

 


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