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Am 29. März, einem Sonnabend, brachen sie um zwölf Uhr nachts in seinem crêmefarbenen Wagen nach dem Virginiatal auf, mit anderen Worten, sie rückten mit Hilfe des Zaubermittels Geschwindigkeit den Kalender vor in den Frühling. Sie hatten in aller Behaglichkeit spät und gut gegessen, im geruhigen Bewußtsein, ein Liebespaar zu sein – sie, deren ganze Gemeinsamkeit bis nun in vier Küssen und einem nächtlichen Imbiß an einem Küchentisch bestanden hatte.
Sonst wurde Ann bei raschem Fahren oft etwas nervös, heute abend aber schlummerte sie, sich in ihrem Vertrauen auf Barney Dolphins rasche Entschlossenheit sicher und geborgen fühlend, als wäre sie etwas ihr längst Bekanntes, zufrieden und glücklich, während sie dahinrasten. Ortschaften, Eisenbahnkreuzungen, dröhnende Unterführungen: sie waren nur Erscheinungen in ihren Träumen. Einmal wurde sie von gereizten Stimmen geweckt. Barney hatte eine Auseinandersetzung mit zwei riesengroßen Staatspolizisten, die ihre Dienstgürtel umgeschnallt hatten. Er schien, so dachte sie unklar, zu lachen, den Polizisten einen Geldschein und etwas aus einer Flasche zu trinken zu geben. Dann war die Begegnung in ihrem Schlaf untergegangen. Später wußte sie nie, ob sich das in New Jersey, in Pennsylvania, in Delaware oder in Ultima Thule abgespielt hatte. Ihr war so warm und behaglich in ihrer doppelten Deckenhülle, und er schien niemals müde zu sein, wenn sie sich an seine Schulter lehnte, die sich ununterbrochen sanft gleitend bewegte, während seine Hand das Rad drehte. Einmal in der Nacht merkte sie etwas von einem sehr kleinen Stimmchen, wahrscheinlich dem der Annie Vickers aus Waubanakee, die mit ihrem Vater eine Wagenfahrt machte: »Schön. Alles sehr schön und nett. Mir gefällt es hier«; merkte sie etwas von einem Arm, der einen Augenblick lang um sie gelegt war.
Plötzlich weckte sie das Gefühl, daß das angenehme Schwanken und Tosen aufgehört hätte. Mit einem Ruck setzte sie sich auf. Sie war allein im Wagen, der in einer Stadt stand. Auf völlig mysteriöse Weise war sie in eine schmale Straße gekommen, die sich krümmte, wie New Yorker Straßen es selten tun; ein schmales, fremdes Seitengäßchen mit hohen Gebäuden aus verräuchertem Backstein. Sie blinzelte, und ihr ganzer Leib sehnte sich nach Barneys beruhigender Gegenwart. Sie rieb sich die Augen, wurde aufmerksam, beobachtete und kam zu dem Schluß, daß sie vor einer Imbißstube wäre. Und Barney kam heraus, ein Tablett in den Händen, lächelnd, ein wenig ironisch. Mit unendlicher Dankbarkeit nahm sie eine dicke Porzellantasse mit Kaffee, der ausgezeichnet war und so heiß, wie noch kein Kaffee je zuvor.
»Wo sind wir?« murmelte sie, wieder halb im Schlaf.
»Baltimore, meine Liebe. Die Heimatstadt Menckens und der Krebse – die beiden haben aber nicht unbedingt etwas miteinander zu tun.«
»Mm. Das ist schön. Gib mir einen Kuß!«
Unmittelbar nachher waren sie vor dem Mayflower Hotel in Washington – mit welcher Teufelei es zugegangen war, daß das Hotel mit einemmal neben dem Wagen stand, konnte sie nicht recht begreifen – und Barney rief: »Jetzt aber richtig frühstücken und waschen, mein Liebling, mein Miezekätzchen, du verschlafene Katze!«
(Aber wenn Er so sprach, klang es ganz anders als bei dem täppischen Russell.)
Er hob sie heraus. Er lachte. »Ich weiß nicht, ob wir nicht doch hierbleiben sollten, du kleine Schlafmütze. Bis ich dich nach Staunton gebracht habe, wirst du ein Säugling geworden sein. Jetzt siehst du aus wie zehn Jahre. Ich werde noch wegen Kindesentführung geschnappt werden – und Vorsitzender bei der Verhandlung wird überdies ein republikanischer Richter sein! Wach auf, Kind! Waffeln! Toast und Honig!«
Gegen Mittag kamen sie in den Flecken Captain's Forge, zu einem kleinen Backsteingasthof mit weißem Portikus, der über einem von Bächen durchflossenem Tal sanfter Felder auf einem schimmernden Hügel stand. Das Gebäude war früher das Gutshaus eines Plantagenbesitzers gewesen; im Rasen leuchteten weiße und gelbe Narzissen auf; und im Gesellschaftszimmer hing über dem großen Kamin der Degen eines Südstaatengenerals an der Wand. Sie bekamen ein Appartement mit einem hohen Schlafzimmer, einem Wohnzimmer, in dem es Roßhaarmöbel und Porträts in ovalen Rahmen gab, und einen Balkon über einer von Rhododendron eingefaßten Rasenfläche; hier hatte Ann zum erstenmal, seitdem sie aus ihres Vaters Haus in Waubanakee fort war, den Eindruck, es sei, augenblicklich und doch dauernd, ein Heim.
Sie aßen ausgiebig, Brathuhn mit gebackenen Maispuffern und grünen Erbsen, und schliefen den ganzen Nachmittag eng umschlungen, völlig losgelöst in ihrem unbedingten Zusammengehörigkeitsgefühl; schliefen auf dem riesigen Bett aus schwarzem Nußbaum, dessen Kopfbrett mit Schnitzereien, Birnen und Kränzen und Rosen, verziert war; die Jalousie war heruntergelassen, und das Dämmerlicht im Zimmer durchzogen goldene Streifen.
Die Tage, die sie in Captain's Forge verbrachten, waren äußerlich leer und müßig. Vor allem begriffen sie augenblicklich, daß es ganz unsinnig wäre, anzunehmen, daß sie am Montag wieder zurückfahren würden; und so gaben sie telephonisch sehr lange und verlogene Telegramme auf, in denen sie auseinandersetzten, daß sehr unbestimmte Angelegenheiten beide eine Woche lang von ihrer Arbeit fernhalten würden.
Sie gingen spazieren, sie schwammen, sie machten Ausflüge. Sie spielten, obgleich beide aus der Übung waren, ein rasches, scharfes und ernstes Tennis. Einmal fuhren sie rasch nach Richmond hinüber, um einen Abend in einem geheimnisvollen prächtigen Klub zu verbringen, aber im übrigen waren sie es zufrieden, in einander, in der Landluft und im Geruch der Aprilerde aufzugehen. Ann las wieder John Howard, Elizabeth Fry, Beccaria – die Wesleys, die Erasmusse der Gefängnisreform – und Barney brummte: »Weiß der Teufel, warum es mir je klug vorgekommen ist, mein klassisches Italienisch aufzugeben – das einzige, was ich jetzt noch kann, ist: ›Due Bananen‹ und: ›Quanto costa die Strafe?‹ – um gewagte Spielchen mit den Distriktsführern von Tammany zu machen. Immerhin, der HERR weiß vielleicht was er tut. Wenn ich bei meinem Studium geblieben wäre, könnte ich jetzt Dekan einer juristischen Fakultät oder Richter am Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten sein; dann hätt ich dich nie kennengelernt, und ich muß sagen, mir ist es lieber, dich zu küssen, als mit den Bärten der Richter Verstecken zu spielen, na ja!« Er versenkte sich in La figlia di Jorio – in einem Korbstuhl auf dem Balkon, einen Siphon und eine Flasche ausgezeichneten verbotenen Schnapses sowie eine Kiste Zigarren auf einem Eisentischchen zur Hand, und neben ihm las Ann, in Brokatschlafrock und Pantöffelchen, zum drittenmal den ›Zauberberg‹, ließ aber bald das Buch in den Schoß sinken, um zufrieden Barney zu betrachten, in einem Dämmerzustand glücklicher, ungeformter Gedanken das grüne Tal entlangzublicken.
Russell Spaulding (ein Mann, der, wie Ann sich verblüfft entsann, mit ihr verheiratet, also sozusagen verwandt war) redete in seinem leichtfertigeren Liebesmomenten stets von »Spielen«, von »Märchenmachen« und beschäftigte sich mit diesen Zerstreuungen in so hysterischer Weise, daß er Ann ebenso in Verlegenheit brachte, wie es der Anblick eines dicken Mannes getan hätte, der einem Nacktkulturverein etwas vortanzt. Barney Dolphin hatte den Ausdruck »Märchenmachen« zum letztenmal wahrscheinlich vor vierzig Jahren als Junge von dreizehn gebraucht, und das Wort »Spielen« bezog sich bei ihm lediglich auf Karten, Golf und Baseball. Und doch zeichnete sich gerade Barney in den zärtlichen, heimlichen Spielereien der Liebenden aus: sie war eine scheue Nymphe; sie durfte nicht gleichzeitig mit ihm ins Bett gehen, sondern mußte mit ihrem Buch sitzen bleiben, bis er sie forttrug. Er war ganz ernsthaft dabei und hetzte das Spiel nicht ab, sondern ließ es langsam in süßer Torheit dahingleiten. Er konnte es sich gestatten, ernsthaft zu sein. Er hatte genug Energie in sich, um nicht lärmend werden zu müssen.
Am meisten fiel ihr auf, und es machte ihr auch am meisten Freude, daß sie einander augenblicklich ohne Worte, mit einem Zuzwinkern verstehen konnten. Sie gingen zu einer Erweckungsversammlung jener interessanten Kirchengemeinde, der Angloevangelischen Pfingstvereinigung der Neuen Heiligen im Lebendigen Wort. Der Seelenhirte (untertags ein ausgezeichneter Zimmermann) der vielleicht genug hatte von den ewig gleichen alten Sünden der ewig gleichen alten Mitglieder seiner Herde zweiundzwanzig erregbarer Seelen, sah mit Wonne in Ann und Barney neue Kunden. Er brüllte: »Und ich muß euch sagen, daß schöne Kleider und das Leben in Städten keinem Menschen gegen die Verdammung für seine Sünden mehr helfen als Arbeitskleider.« Barneys Blick traf ihren, und sie erfreuten sich an einem gemeinsamen Lachen, ohne laut lachen zu müssen, ohne sich die Witzchen eines Russell zuzuflüstern – –
»Ach, warum kann ich denn nicht aufhören, die beiden Männer mit einander zu vergleichen!« ermahnte sie sich. »Das ist kindisch! Vergleiche anstellen! Und außerdem ist es gegen beide nicht fair.«
In Wahrheit aber war sie unglaublich glücklich, und es gehört zum Menschenglück, Vergleiche mit böseren Tagen anzustellen; wenn man sich im warmen Bett wohlig streckt, ist es die schönste Freude, an den kalten Heimweg zurückzudenken.
Unglaublich, unheilig glücklich – und insbesondere deshalb, weil sie wußte, daß Barney ebenso glücklich war.
Ein Drittes war immer mit ihnen – Pride, ihre Tochter. Ann tat ganz entschieden nichts, um zu verhindern, daß Pride schließlich, wie die Schullehrerin in Waubanakee es genannt hatte, aus dem Allüberall heraus in sie komme. Sie sah in Pride jetzt mit ebenso zwingender Notwendigkeit seine, Barneys, Tochter. Wie könnte, so höhnte sie, ein Mädchen wie Pride einen Lindsay Atwell oder einen Russell Spaulding zum Vater haben, einen Lafe Resnick oder einen Glenn Hargis, ja oder sogar einen Adolph Klebs?
»Ich will mein Kind haben, wie ich meinen Mann habe!« gelobte sie sich. »Eine arbeitende Frau hat ein Recht auf ihr Kind und auf ihren Geliebten. Ach, ich glaube nicht, daß sie irgendein besonderes Recht hat. Wahrscheinlich gibt es gar keine Rechte – sondern nur die günstige Chance, gute Drüsen und Glück zu haben. Aber was auch die Philosophie davon sein mag, jedenfalls werde ich, werden Barney und ich unsere Tochter bekommen!«
Sie fuhren zum nächsten Städtchen, um sich Zeitschriften zu holen. Ohne einen Blick auf sie zu werfen, in aller Ruhe sprechend, sagte Barney: »Es wird wohl besser sein, du erfährst mehr über dieses Verfahren gegen mich. Es wird wahrscheinlich unmittelbar nach unserer Rückkunft losgehen. Es war ein bißchen übertrieben, als ich sagte, ich wäre völlig unschuldig. Wohlgemerkt, ich glaube, in Strafsachen bin ich ungewöhnlich gewissenhaft und ungewöhnlich sorgfältig gewesen. Ich habe mich immer davor gehütet, gelangweilt und mechanisch zu werden. Aber es hat Zivilprozesse gegeben, in denen – ach, auf beiden Seiten ging es im Grunde gar nicht um eine Frage der Gerechtigkeit; es waren einfach Kämpfe zwischen zwei ganz gleich verbrecherischen Gaunerbanden, die in der Maske hochanständiger Geschäftsfirmen auftraten; und in diesen Fällen habe ich mich schuldig gemacht – oder, es wäre gerechter zu sagen, bin ich realistisch genug gewesen, die Seite zu unterstützen, die mir sympathischer war. Bestechungsgelder habe ich nie genommen. Ich habe mir Börsentips geben lassen und so etwas wie Informationen über die Lage neuer Straßenbahnlinien, und ich habe Aufsichtsratsstellungen angenommen. Aber Bestechungsgelder niemals … Allerdings ist es noch sehr die Frage, ob das meine Schuld verringert. Vielleicht beweist es nur eine gewisse Feigheit. Aber es ist eben so, daß sie mich nicht kriegen können. Immerhin wird es ihnen ein großes Vergnügen sein, mir zuzusetzen. Und – ich habe mir geschmeichelt, du könntest unruhig werden, mein Herz, und deshalb wollte ich, daß du weißt, ich werde kein mißbrauchter Sündenbock sein, sondern viel eher so etwas wie der Stadtgauner, der verschlagene Schurke, der verschlagene, grinsende Schurke. Sehr schlimm für dich?«
Traurig sagte sie sich, daß also gerade dieser Mann, der Mann, den sie mehr liebte als alle Menschenwesen, jene zynische, gemeine Unehrenhaftigkeit öffentlicher Beamter repräsentierte, die sie seit jeher mit größter Leidenschaft bekämpfte.
Das sagte sie sich mit aller Klarheit, aber sie hörte es selbst nicht.
Sie sah Barney von der Presse verunglimpft, von seinen Mitpolitikern, die viel größere Gauner waren als er, verraten, seine elegante Sicherheit verlierend, grauer werdend, darüber nachdenkend, ob er zurücktreten sollte, und wie er, träte er zurück, die endlos aufeinanderfolgenden schalen Tage durchleben könnte.
»Nein! Nein!« schrie sie auf, verzweifelnd seinen Arm packend. »Sie werden dich nicht kriegen! Laß von jetzt an alle Durchstechereien sein, wenn du willst, aber tritt nicht zurück! Tritt nicht zurück! Wir werden ihnen sagen, sie sollen sich zum Teufel scheren!«
Er wandte ihr den Kopf zu und lächelte sie dankbar an.
Zum erstenmal redete er von Mona, seiner Frau.
Es war dunkel, sie saßen rauchend auf dem Balkon, der Duft der Fliederbüsche und des feuchten Grases mischte sich mit dem Aroma türkischen Tabaks.
»Ich frage mich, ob du darüber nachgedacht hast, ob ich viele Liebesaffären gehabt habe. Also, ja. Das dürfte sogar eine ziemlich bekannte Tatsache sein. Ich habe mich niemals bemüht, ein Geheimnis daraus zu machen – übrigens, es gibt so gut wie nichts, woraus ich je ein Geheimnis gemacht hätte. Und ich bedaure es nicht. Ich habe nie etwas bedauert, was ich getan habe. Ich bedaure es nur in einer Hinsicht – es könnte dich an mir zweifeln lassen, wenn ich dir die nackte, ehrliche, unverschminkte Wahrheit sage: daß du die erste Frau bist, die ich wirklich im eigentlichen Sinn des Wortes liebe, sowohl seelisch wie körperlich; und wenn du bereit dazu wärst, würde ich bloß nachsehen, ob ich mein Scheckbuch bei mir habe, und wir würden morgen wegfahren und nie zurückkommen, niemals – weiterreisen, bis wir auf einer Kokospalmenplantage in Tahiti landen.
Ich kannte eine ganze Menge von Weibchen, die mir Spaß machten, wenn ich Monas Vollkommenheit nicht ertragen konnte. Sie ist wie ein vergoldeter Louis-Seize-Stuhl, und ein derber Bursche wie ich soll nun gerade darin sitzen, den ganzen Abend, alle Abende! Da geht man eben weg und besorgt sich ein nettes kleines Sofakissen, auf das man sich hinlümmeln kann – –«
»Aber, mein Lieber, was für ein Einrichtungsgegenstand werde ich denn in deinem Bild? Eine Patentmatratze?«
»Nein! Ein Thron – aber mit moderner Polsterung! Aber was ich eigentlich sagen wollte: Kein vernünftiger Mensch kann jemals an Mona etwas auszusetzen finden. Sie ist rechtschaffen, sie ist schön, sie ist still. Sie hätte die beste Äbtissin der ganzen Christenheit abgegeben. Und innerhalb von genau sieben Minuten kann sie aus einem normal anständigen und tüchtigen Menschen eine schimpfende, grauenhafte Person werden! Sie verzeiht dir, was du tun könntest, bevor du es getan hast, und das mindeste, was du dann tun kannst, um sie zufriedenzustellen, ist, daß du hingehst und es tust. Sie ist so lieblich. Und, ach Gott, es macht mich so glücklich, daß ich mit dir hier bin! … Mona kommt im Juni nach Amerika zurück. Das lähmt mich ein bißchen. Bis dahin werde ich dich jeden Tag – sehen – und möglichst viele Nächte? Ja? Ja?«
Undeutlich: »Ja, jeden Tag – jede Nacht.«
Ein Nachtvogel träumte in seinem Schlaf drei Töne laut vor sich hin.
Sie hatten nur einen Streit, aber der war recht hitzig; er entstand, als er sie damit aufzog, daß sie ihre Gefangenen »verhätschelte«. Sie siegte. Noch bevor sie zu Ende gesprochen hatten, gab er ziemlich betreten zu, daß er wenig von den Gefängnissen gesehen hatte, in die er seit so vielen Jahren so viele Verurteilte ganz gleichmütig schickte; versprach er mit einem unbehaglichen Gefühl, daß er Gefängnisinspektionen vornehmen werde.
»Ja, und ich hätte wirklich den Verstand haben können, nicht gerade davon zu reden«, sagte er nachher.
Sie fuhren langsam, jede Meile Frühling auskostend, nach New York zurück; sie kamen zur Dinnerzeit an, und da er für den Abend keine Verabredung hatte, die unbedingt eingehalten werden mußte, ging er erst am nächsten Vormittag um zehn Uhr aus ihrer Wohnung fort.
Diesen ganzen Tag war sie so voll Stolz glücklich, daß sie gar nicht anders konnte als freundlich sein, auch wenn niemand da war, der ihre Freundlichkeit über sich ergehen lassen mußte. Sie rief Russell an, um ihm zu sagen, daß sie zurück wäre. Ja, sie hätte nichts dagegen, mit ihm zu Abend zu essen.
Russell kam mit lauten Prahlereien über seinen Erfolg als Hotelier an und führte sie zum Essen zu Pierre. Als sie aber nach dem Dinner in ihre Wohnung zurückkamen, erstarb seine prahlsüchtige gute Laune, und er begann schamhaft und täppisch um sie zu werben. Er war so kindisch einsam, so offensichtlich liebebedürftig, daß sie von den Höhen ihrer Glückseligkeit mitleidsvoll auf ihn herabblickte und ihm erlaubte, zu bleiben. Er glaubte, und fast sprach er es auch aus, es wäre sein eigener Zauber und seine Klugheit als Liebhaber, was die beiden in dieser Nacht berauschte. Er glaubte, er wäre ihr Gatte!
Als er, am Morgen, gegangen war – sie schob ihn hinaus mit der Entschuldigung, sie müsse schleunigst in ihr Amt – saß sie jämmerlich und elend da. »Wie eine Prostituierte komm ich mir vor! Ich darf das nie wieder tun! So rasch Barney untreu – und noch dazu mit diesem jungen Hund von Menschen, diesem Spaulding, mit der billigen Ausrede, ich dürfte ›ihn nicht kränken‹. Uff! Wie konnte ich das ertragen? Nie wieder tu ich das. Ich bin nur froh, daß ich mich besonders vorgesehen hab. Aber das macht mich nur noch elender. Warum hat er nicht angerufen?«
Sie schlüpfte in den Gerichtssaal, in dem Barney eine Verhandlung hatte, und setzte sich auf einen Platz in der letzten Reihe, nahe der Tür. Unter den Anwälten, die an ihrem langen Tisch mit Akten raschelten oder schwatzten, erkannte sie, ein wenig erschreckend, Reuben Solomon, den berühmtesten Rechtsanwalt in New York. Konnte ihr Barney mit einem so wilden Kämpfer fertig werden?
Der Gerichtsdiener forderte das Publikum mit einer Handbewegung auf, sich zu erheben. Ann sprang auf, voll Stolz auf diese Ehrung für ihren Mann; alle, sogar Reuben Solomon, standen in achtungsvoller Haltung da, als Seine Ehren eintrat; noch stolzer war sie auf den schwarzen Seidentalar, den Barney achtlos über seinen eleganten blauen Anzug geworfen hatte.
Sie sah sich den Verhandlungsraum an. Er war ziemlich muffig und häßlich, mit verschmutzten braun getünchten Wänden; einer der Flecken sah aus wie eine Karte von Afrika. Der einzige Schmuck waren die beiden goldenen Rutenbündel hinter dem hohen Pult des Richters. Für Ann aber war es ein schöner und angenehmer Raum. Plötzlich hörte sie eine Auseinandersetzung zwischen Seinen Ehren Richter Bernard Dow Dolphin und dem großen Mr. Solomon.
»Der Gerichtshof weiß selbst am besten, daß die Fragen meines gelehrten Gegners völlig ungehörig sind.«
»Mr. Solomon, muß ich Sie noch einmal daran erinnern, daß Sie hier nicht in Ihrem Büro sind, sondern in einem Gericht des Staates New York? Sollten Sie das wieder vergessen, so werde ich das Vergnügen haben, Sie wegen Mißachtung des Gerichtshofes in Strafe zu nehmen. Sie fahren fort, Mr. Jackson.«
Ihr Barney!
Als sie das Gerichtsgebäude verließ, fiel ihr ein, daß sie zwei Richter intim kannte. Auch Lindsay Atwell war vor kurzem zum Richter am Obersten Gerichtshof New Yorks gewählt worden. Sie hatte damals die Nachricht kaum zur Kenntnis genommen, und jetzt besann sie sich nur halb darauf. Lindsay war eine Gestalt aus einem Traum, etwas Konturloses und Unwichtiges.
Sie sah Barney täglich, selbst an dem Tag, an dem Mona aus Europa zurückkehrte.
Er hätte sie um elf am Schiff abholen und mit ihr nach Long Island hinausfahren sollen. Um drei Uhr nachmittags hüpfte Anns Sekretärin, die zapplige Miss Feldermaus, aufgeregt herein: »Je, Doktor, was meinen Sie, wer Sie besucht: Richter Dolphin vom Obersten Gerichtshof!«
Barney hatte sie niemals im Arbeitshaus aufgesucht, er hatte so selten wie möglich angerufen, und wenn er es schon tat, sich unter dem verabredeten Namen »Mr. Bannister« gemeldet. Denn Frauengefängnisse sind mit ihren überhitzten Freundschaften, ihren wütenden Gehässigkeiten, ihrer unersättlichen Neugier und ihrem unaufhörlichen Geklatsche genau so wie die Vereinigungen Christlicher Junger Mädchen, wie elegante Höhere Mädchenschulen und lesbische Restaurants.
»Ach ja, Richter Dolphin. Ist Dr. Malvina Wormser mit ihm gekommen?« sagte Ann freundlich, einen Bericht aus der Nähstube mit mehr Interesse betrachtend, als das Dokument verdiente. »Äh – soll reinkommen. Hat er gesagt, worum es sich handelt?«
»Guten Tag, Dr. Vickers«, begrüßte er sie, als er in ihr Zimmer trat.
Barney sah grau und streng aus. Er trug einen zweireihigen, blauen Mantel, Eckenkragen, eine betont moralische und erhabene schwarze Plastronkrawatte und eine lächerlich große Hornbrille. Außerdem hatte er einen Stock in der Hand.
Sie gab Miss Feldermaus mit dem Kopf ein Zeichen, um diese mit einemmal langsame, von Neugier verzehrte Jungfrau loszuwerden.
Barney küßte sie hastig, während sie murmelte: »Nein – nicht«, und seinen Kuß erwiderte.
»Ich konnte nicht«, sagte er, »Mona. Ich war fest entschlossen, herzlich zu sein, unter Umständen den liebenden Gatten zu spielen. Aber als sie über den Laufsteg herunterkam, sah sie mich vergebungsvoll an und sagte – Gott, wie höflich sie war – sie sagte: ›Hoffentlich ist es nicht zu ärgerlich für dich, daß ich so bald wiederkomme.‹ Ich erzählte ihr, ich hätte am Gericht zu tun und – kam hierher. Jetzt geh ich. Ich wollte dich nur eine Minute sehen – nur ein rascher Schluck, und wie notwendig ich den Schluck gehabt habe! Wir essen um sechs? Wie? Laß es schießen! Sechs Uhr, im Brevoort, und dann werde ich, Gott steh mir bei, nach Long Island hinaus und Eisstückchen verzehren!«
Er öffnete die Tür und rief, für die sicherlich zahllosen gespitzten Nymphenohren, von draußen zurück: »Ja, es war mir wirklich äußerst unangenehm, daß ich sie ins Gefängnis schicken mußte. Ich glaube, Sie können sie bessern. Tut mir leid, daß ich nicht Zeit habe, mir das Gefängnis anzusehen. Guten Tag, Dr. Vickers.«
Und fort war er.
Sie lachte – über seine Brille, darüber, daß er jetzt immer in ihrem Bureau anwesend sein würde. Dann hätte sie am liebsten geweint, geweint über die Tragödie der guten Frau, über die der Fluch verhängt war, einen rotbärtigen Mann zu haben, über die Tragödie des rotbärtigen Mannes, der darunter litt, eine reine, überaus edle, anspruchslose und dumme Frau zu haben, und über die Tragödie der Ann Vickers, der aller Wahrscheinlichkeit nach das Glück bevorstand, zwischen diesen beiden zermalmt zu werden – mit einer Marterzugabe zu dem Tod, dem Quieken des guten kleinen Russell Spaulding.
Dreieinhalb Wochen später hatte sie Grund zu glauben, daß sie ein Kind bekommen werde.