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Ann meinte, ihre zehntägige Faulenzerei hätte sie im Corlears Hook House, besonders bei der dicken und höflichen Vorsteherin, verdächtig gemacht, und stürzte sich in die Arbeit. Was sie antrieb, war nicht ihr Gewissen allein. Sie fühlte sich mutiger, froher und gesünder als je vorher; ihr Leben war ausgefüllter, und sie hatte sich und andere besser in der Hand als früher. Ihre Flickarbeit von kleinen Aufgaben in der Nachbarschaft schien Zweck und Ziel zu bekommen, wenn sie auch nicht genau wußte, was für einen Zweck.
Sie überredete einen Manager vom Broadway, dem Corlears Theaterverein bei der Inszenierung einer Revue für das Stadtviertel zu helfen, und es wurde ein Erfolg, wie es ihn noch in keiner Abteilung des Wohlfahrtshauses gegeben hatte. Die Aufführung wurde viermal wiederholt, und orthodoxe Eltern, die bis dahin im Zweifel gewesen waren, ob sie ihren Kindern erlauben sollten, in das Corlearshaus zu gehen, betrachteten es jetzt als zweitwichtige Angelegenheit neben der Schul.
Die Ehre davon hatten der Manager vom Broadway, der vielleicht eine Stunde für den Entwurf gebraucht, Ann Vickers, die vielleicht zehn Stunden aufgewandt, und die Vorsteherin, die überhaupt keine Zeit geopfert hatte; gar nichts davon hatten die autochtonen Autoren und das Ensemble, das einen Monat lang jeden Abend von acht bis drei Uhr morgens gearbeitet hatte. So lernte Ann die Kunst, ein Führer zu sein: keine Zeit mit kleinen Ansprachen und mit kleinen Ratschlägen an Hilfesuchende verschwenden, oder mit dem Adressieren von Briefumschlägen – Briefumschläge! – sondern einen unwahrscheinlichen Einfall haben und über die Untergebenen lächeln, die bei seiner Ausführung Blut schwitzen.
Sie kam in großes Ansehen bei der Vorsteherin und galt bald allgemein, und damit auch in ihren eigenen Augen, als eine antreibende Führerpersönlichkeit, deren Meinung über jeden Gegenstand – Steuern, Alkohol, Unsterblichkeit, das beste Hotel in Atlantic City, oder die moralische Seite der kurzen Röcke – wertvoll war, und der man jede Art von großzügigen und unbestimmten Aufträgen anvertrauen konnte.
Aber sie verlor sich nicht ganz in dem Morast von Politik und Erfolg und Eindruckschinderei. Sie lachte ein bißchen darüber, daß sie ihre neue Kraft und ihren neuen Eifer denjenigen Beziehungen zu Hauptmann Resnick verdankte, zu denen sie sich in dem aufgeklärten, aber durchaus keuschen Milieu eines Wohlfahrtshauses kaum bekennen konnte.
Und die ganze Zeit über lebte sie nicht in ihrem Erfolg, sondern in den Briefen von Lafe.
Drei Wochen lang schrieb er jeden Tag; er schrieb von den komischen Reithosen seines Obersten, die hinten wegstanden wie eine Tournüre, und von seiner Leidenschaft für Ann; er schrieb, daß er Napoleons Feldzüge lese, und daß er beim Einschlafen hinter geschlossenen Lidern nichts anderes sehe als die Linie von ihrer Schulter zur Brust; daß er mit seinen Leuten etwas mehr als dreißig Kilometer marschiert sei und sich bei jedem Schritt ausgemalt habe, er machte mit ihr eine Wanderung ins Salzkammergut.
Ihre Briefe an ihn waren eine Kleinigkeit länger. Aber er hatte – bei Männern muß das nun einmal so sein – natürlich viel zu tun.
Beim Packen, an ihrem letzten Morgen im Hotel Edmond, hatte er gesagt: »Weißt du was, ich schick dir mit dem Portier diesen japanischen Kimono, den ganzen Goethe und das Kaffeegeschirr, das du mir geschenkt hast. Im Unterstand kann ich damit nicht viel anfangen. Heb mir die Sachen auf. Werden sie dich ein bißchen an mich erinnern, wenn ich so weit weg bin, mein Liebes?«
Die Sachen waren wirklich gekommen, und als Ann das Paket aufmachte, fand sie zwischen ihnen versteckt Lafes verlatschte alte rote Pantoffeln; das Durcheinander der Falten gab genau den Abdruck seiner Füße wieder. Sie mußte weinen. An den Schuhen hing sie viel mehr als an der nüchternen Schönheit des saffiangebundenen Goethe. Sie versteckte sie unter ihrer Wäsche und nahm sie jeden Tag heraus.
Eines Nachmittags lud sie Tessie Katz zum Kaffeetrinken aus den Majolikatassen ein, und die beiden Mädchen, die bewegliche Großstadtjüdin und die kleinstädtische Arierin aus dem Mittelwesten, vergaßen alles Trennende in dem Wettstreit um Gelegenheiten, von Morris und Hauptmann Resnick zu reden.
Als drei Wochen vergangen waren, schrieb Lafe nur jeden zweiten Tag, dann zweimal wöchentlich, schließlich einmal in der Woche.
In New York hatte er darauf bestanden, sie müsse, sobald er in der Nähe von Camp Lefferts einen netten Gasthof gefunden hätte, für ein Wochenende nach Pennsylvania kommen. Diesen netten Gasthof schien er niemals zu finden.
Zehn Tage lang hatte sie keine Nachricht, und als wieder eine kam, handelte sie ausschließlich davon, daß er in Scranton, nicht weit vom Lager, eine reizende jüdische Familie kennengelernt hätte. Er hätte einen Tag und eine Nacht Urlaub gehabt und ihn bei den neuen Freunden zugebracht. Birnbaum hieß die Familie. Der Vater, Anwalt und Bankdirektor; tüchtig, gebildet, manchmal komisch, wenn er Pennsylvania-Deutsch nachmachte. Die gurrend-betuliche Mutter, die ihn mit Gänsebraten fütterte. Die Töchter, Leah Birnbaum, zweiundzwanzig, und die kleine Doris, neunzehn.
Sie sind wirklich reizend, klug usw., einfach fabelhaft – Leah versteht unglaublich viel von Chemie, und damit gewinnt man eine so viel tiefere Einsicht in die Grundtatsachen des menschlichen Lebens als mit unserer ganzen verdammten alten Soziologie usw., meinst du nicht auch? – Du würdest sie alle reizend finden!
»Nein!« bemerkte Ann, und als sie den Brief ein zweites Mal gelesen hatte: »Ach, so klug ist sie? Leah! Die mit ihren verdammten stinkigen Reagenzgläsern!« Fünf Minuten später, beim Taschentuchplätten, hielt sie entsetzt inne: »Ein Tag und eine Nacht! Er hätte nach New York kommen können. Ich fahr hin und seh – nein, mein Liebling, ich kann nicht zu dir kommen, bevor du mir sagst, daß du mich haben willst!«
Er war jetzt zehn Wochen fort, und wieder hatte sie seit zehn Tagen keinen Brief bekommen. Sie fand zahllose Entschuldigungsgründe dafür; er hatte natürlich rasend zu tun; Ausbildung, Märsche, Schießübungen. Aber – – In achtzehn Tagen waren nur zwei Briefe gekommen. Daran änderte keine Entschuldigung etwas.
Zehn Wochen? Zehn Jahre!
Nur mit aller Kraft ihres Geistes und ihres Willens hielt sie ihre neugewonnene Energie aufrecht. »Was ist los? Sie sehen ein bißchen mitgenommen aus«, fragte die eine oder andere Kollegin.
Mitten am Nachmittag, als sie durch den Korridor im Hauptgeschoß des Wohlfahrtshauses raste, zwischen Sitzungen eines Komitees zur Verhinderung von Grausamkeiten gegen verwahrloste Katzen und der Arbeitsgemeinschaft zur Herstellung von Verbandzeug für das Rote Kreuz, hielt Tessie Katz sie an. Sie hatte Tessie seit drei Wochen nicht gesehen und bekam einen Schreck. Tessies Lippen und Finger zuckten wie in einem Krampf.
»Nanu, Tessie! Arbeiten Sie heute nicht? Sie haben's gut. Was ist los, Kindchen? Sie sehen aus, als ob Sie Sorgen hätten.«
»Ach du mein lieber Gott, Miss Vickers, ich hab auch Sorgen. Sorgen ist gar kein Ausdruck. Hören Sie, Miss Vickers, ich muß mit Ihnen sprechen, ich muß einfach!«
»Hat's nicht bis zum Abend Zeit?«
»Ich kann nicht warten! Wirklich, ich werd meschugge, wenn ich mich da nicht rausfinde! Kann ich Sie nicht eine Minute sprechen? Jetzt gleich!«
»Kommen Sie in mein Sprechzimmer. Oder wollen wir in mein Zimmer hinaufgehen?«
»Ach, ich hab so schreckliche Angst, daß jemand reinkommt. Können wir nicht wo hingehen, wo keiner dazwischenkommt? Bitte, Miss Vickers, bitte!«
»Schön, gehen wir ins Klubzimmer D. Da ist niemand um diese Zeit.«
Klubzimmer D: ein Haufen zusammengelegter Klappstühle und Kartentische, ein paar allzu reichlich mit Schnitzwerk verzierte smaragdgrüne Lehnstühle, Geschenke eines enthusiastischen Händlers aus der Grand Street, ein Schrank mit Geschirr und ein Gasherd in einem Alkoven hinter einem Vorhang. Der Raum war kahl wie eine Bahnhofshalle in der Provinz, aber er war durchwärmt von der Erinnerung an tausend Kaffeeklatsche, an tausend vertrauliche Mitteilungen, die jüdische und italienische Matronen hier über ihre amerikanischen Enkelkinder ausgetauscht hatten.
Tessie wartete nicht ab, bis ihre angebetete Miss Vickers sich gesetzt hatte; sie sackte in einen Armstuhl, preßte die Fingerspitzen in die Augen und schluchzte.
»Hören Sie auf! Wenn Sie nicht wollen, daß Leute hereinkommen. Also was ist los? Haben Sie keine Angst vor mir, Tessie. Ich reg mich über nichts auf. Besonders nicht jetzt im Krieg. Ich weiß, wie es ist«, sagte Ann energisch.
»Ach je, ach je, Miss Vickers, wahrscheinlich denken Sie sich schon – – O Gott, und ich hab mich so vorgesehen. Ich krieg ein Kind. Dieses Schwein, der Morris! Die Augen kratz ich ihm aus! Seit einem Monat hat er mir nicht geschrieben, kein Wort!«
»Sind Sie sicher?«
»Es ist jetzt über zwei Monate. Und mein Boss wird mich rausschmeißen – er ist schrecklich anständig – er ist ein fabelhafter Boss – er hat nie was mit einer von uns Mädels. Aber am meisten Angst hab ich vor meinem Alten. O Gott, Miss Vickers, wirklich, der bringt mich um!«
»Wollen Sie Morris heiraten?«
»Den Mamser! Ach, mir wär's egal. Aber er wird wohl n neues Mädel haben, und mir wird er sagen – ach je, Sie haben keine Ahnung, wie grob der werden kann – er wird mir sagen, ich soll ins Wasser gehen! Wenn ich bloß so einen hätt, wie Ihrer ist! Aber das Schlimmste ist mein Vater. Wir sind orthodox, und Morris, der ist kaum besser als ein Goy. Wirklich, wenn ich den heiraten würde, würde Papa mit dem Schießeisen auf uns losgehen. Und wenn ich ein Kind krieg ohne Heiraten, geht er mit zwei Schießeisen auf mich los!«
Sie versuchte humoristisch zu sein; ihre Stimme klang gackernd vor Anstrengung. Sie lächelte sogar mühselig. Aber Ann konnte ihr Lächeln nicht erwidern. Tessies kümmerliche, blutarme Jugendlichkeit war jetzt schon verschwunden, nach zehn Wochen. Ihr Haar war schmierig und baumelte in fettigen Löckchen unter dem Rand ihres billig-eleganten rosa Hutes hervor, und ihre billigen, aber modernen halbseidenen Strümpfe hatten lange Laufmaschen, aus denen schwarze Härchen herauskamen. Sie sah wie vierzig aus, krank und verwahrlost.
Ann lief zu Tessie hinüber, setzte sich auf die Lehne ihres Stuhls und streichelte ihre Schulter; es war mehr Zärtlichkeit als sonst in dem professionellen Ton, mit dem Fürsorgerinnen sich gegen Anfälle allzu großen Mitleids schützen:
»Es ist scheußlich, Tess. Ich versteh schon. Was kann ich tun?«
»Ich muß es loswerden, auf irgendeine Weise. Ich hab's mit Turnen versucht und bin Treppen rauf- und runtergelaufen, bis … Heut nachmittag bin ich ohnmächtig geworden; ich war grade fünf Treppen zu unserm Pelzlager raufgelaufen. Ich werd mir wohl vom Doktor was machen lassen müssen. Ein Mädel hat mir einen gesagt, aber das ist so ein Schwein. Sie müssen mir die Adresse von einem guten besorgen!«
In einem Augenblick, in zehn Sekunden, durchflog Ann in Gedanken das ganze Problem der Abtreibung, und sie war überzeugt … Das Leben verlangt, daß normale Frauen Kinder gebären, ohne die geringste Rücksicht auf Gesetze, die von Priestern oder von kleinstädtischen Rechtsanwälten in gesetzgebenden Körperschaften beschlossen worden sind. Aber diese Gesetze sind immer noch in Kraft; und jedes Mädchen, das diese Gesetze bricht und dennoch dem Leben in ihr, dem einzigen Gesetz, das sie kennt, die Treue hält, wird von der Gesellschaft mit lebenslänglicher Gefangenschaft in dem Kerker der Verachtung bestraft. Ist das aber so, dann hat ein Mädchen, das sich von diesen Gefahren bedroht sieht, das Recht, der Gehässigkeit ihrer Umwelt zu entfliehen, nicht anders, wie ein Revolutionär das Recht hat, sich vor der Geheimpolizei in Sicherheit zu bringen.
»Ja«, sagte Ann. »Ich werd Ihnen jemand besorgen. Haben Sie etwas Geld?«
»Keinen roten Cent. Und ich trau mich nicht, mir was zu pumpen.«
»Ich habe etwas. Ich brauch's nicht. Kommen Sie heut abend zu mir – nein, morgen abend.«
»O Gott, sind Sie anständig. Ich wollt, ich wär wie Sie, Miss Vickers. Ich komm morgen abend. Seien Sie mir nicht böse!«
Tessie war schon wieder hysterisch vergnügt, wie sie vorher hysterisch verängstigt gewesen war; sie verschwand durch den Parterreausgang des Wohlfahrtshauses und machte noch einmal halt, um ihren zerlaufenen Teint wiederherzustellen.
Ann Vickers wanderte langsam den klappernden Steintafeln des Hauptkorridors zu. Sie hatte ein weiches Gefühl in den Knien, und in ihrem Rücken riß ein Schmerz wie mit Krallen. Jeder ihrer schleppenden Schritte klang auf den unbelegten Stufen matt und dumpf wie die Trommel bei einem Trauermarsch. Sie ging nicht in den Rotenkreuzzirkel. Immer mühseliger – sie blieb oft stehen, eine Hand am Geländer, die andere am Rücken – schleppte sie sich zum zweiten Stockwerk, zum dritten hinauf und dann den endlosen Korridor entlang in ihr Zimmer.
Sie öffnete die Tür, machte sie zu und schloß ab. Gebeugt wie in zerknirschtem Gebet stand sie da, ihre Arme hingen leblos neben ihr.
»Ich wollt, ich wäre wie Sie, Miss Vickers!« stöhnte sie, voll Bitterkeit Tessie Katz nachäffend; dann: »Ich muß der Sache ins Gesicht sehen. Zehn Wochen. Da gibt's keinen Zweifel. Aber – ich – Ann Vickers! Und wenn Lafe mir nicht irgendwie zeigt, daß er mich haben will, kann ich ihm nicht einmal schreiben, daß ich ein Kind kriege. Ich weiß nicht, was ich tun soll!
Und meine ›Sozialarbeit‹ – ach, das ist natürlich alles aus.«