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Jetzt, im Dezember, war es so kalt, daß sie sich nicht mehr an dem alten Geschütz treffen konnten. Sie hatten auch beide keine Lust, die vorwurfsvollen Gesichter der lobenswerten jungen Damen in der Vereinigung vor sich zu sehen, obwohl diese den einzigen großen und behaglichen Aufenthaltsraum im College besaß – der Geselligkeitssaal mit den Morrisstühlen, den Gruppenbildern früherer Jahrgänge, die bebrillte, schmerzlich verzogene Gesichter zur Schau stellten, und Tischen, auf denen Missionsmagazine herumlagen, war nicht das Richtige; gemütlicher sah es schon eher in der Cafeteria der Vereinigung mit den kleinen Blumentischen aus, in der jeden Nachmittag erotische Vorgänge zu beobachten waren: die Geologieprofessorin empfing den Pastor der Ersten Universalistischen Kirche zu Tee und Zimtküchelchen, und die Leiterin der Abteilung für Leibesübungen, eine etwas derbe junge Dame, von der das Gerücht ging, sie sei einmal bei Mouquin in New York Zigaretten rauchend beobachtet worden, kicherte in einer Ecke bei Coca Cola und Nabiscowaffeln mit einem leichtfertigen Repräsentanten der Konfektion des Städtchens Point Royal.
An einem solchen verhältnismäßig aseptischen Caféhausleben hätten Ann und Hargis Freude gehabt, aber sie konnten das Geschwätz nicht ertragen; sie beschäftigten sich ausschließlich mit einander; und so trafen sie sich im Warteraum von Anns Wohngebäude, einem unter einer Treppe eingebauten Verschlag mit einem großen, verrosteten Heizkörper und acht steifen Lehnstühlen.
»Ich halte es in diesem Loch nicht mehr aus!« knurrte Hargis. »Verdrücken wir uns am Sonnabend nachmittag ins Freie.«
»Gegen die Vorschriften, Glenn.« Wenn sie auch seine Feigheit bereits ignoriert hatte, wenn sie auch wieder gute Freunde waren, die keine Verteidigungsbarrieren aus Sophistereien gegeneinander aufrichteten, so erkannte sie ihn doch nicht mehr als Vorgesetzten an, sie sagte »Glenn« zu ihm und lehnte es ab, zuerst zu grüßen.
»Ach, zum Teufel mit den ollen Vorschriften!« maulte er.
»Schön. Ich will bloß nicht relegiert werden. Das macht zu viel Scherereien.«
»Das braucht Ihnen – oder vielmehr, das braucht uns gar nicht zu passieren. Passen Sie mal auf, Schäfchen. Am letzten Sonnabend machte ich eine Wanderung auf den Mt. Abora, und dort entdeckte ich eine alte Holzfällerkabuse – eine Blockhütte – bei der die Tür fehlt. Dort ließe sich glänzend ein Feuerchen machen, ein kleines Picknick abhalten – ein Holztisch ist noch da – wunderbare Aussicht auf das Tal unten. Ich werde alles zum Essen besorgen – die Mädchen würden herumspionieren und dumme Fragen stellen, wenn Sie es täten. Also! Schauen wir, daß wir aus diesem verfluchten Kloster herauskommen und Menschen sein können. Verflucht noch einmal, ich glaube, ich werde wirklich Propagandist. Mir hängt es zum Hals heraus, ein kleiner Konservenbüchsenlehrer zu sein: ich weiß nicht, was Sie dazu sagen werden. Ich habe einen Freund, einen Studienkollegen, der eine der wichtigsten Propagandistenstellungen in Chicago hat! Der möchte, daß ich zu ihm komme! Ach, wir wollen doch wirklich einen Ausflug machen. Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben, wenn wir irgendwo draußen sind, Annie!«
»Hab ich auch nicht! Mt. Abora?«
»Ja. Gehen Sie die Letticeville-Straße entlang, ich erwarte Sie an der alten Backsteinkirche, zwölf Uhr mittags am nächsten Sonnabend. Ja? Ja?«
Blockhütte, Lagerfeuer im Freien, Aussicht von einem Berggipfel in das Tal hinunter, den glotzenden Blicken sich eng aneinanderpressender Mädchen entgehen – es war verlockend, und sie zauderte nur Sekunden, ehe sie mit dem Kopf nickte. »Gut. Zwölf Uhr. Gut' Nacht.«
Angst vor ihm! Du lieber Himmel! Und doch war er nicht ganz ruhig, der Spielgefährte, er hatte funkelnde Augen und heiße Hände.
Sie hatte ihn noch nie im grünen englischen Tweedanzug mit kurzen Hosen gesehen. Jedenfalls war der Anzug so gut wie englisch, denn er stammte, wie die überaus weltliche und künstlerische orangefarbene Rohseidenkrawatte, von Marshall Field in Chicago. Und er erzählte ihr sehr aufgeregt, daß sein Rucksack ein echter deutscher Rucksack sei, den er (große Erlebnisse für ein Stückchen Segeltuch) im Schwarzwald getragen habe.
Er trug ihn mühelos. In seinem Tweedanzug wirkte er kräftiger als sonst, er schritt leicht aus und sang. Trotz all seiner Herrlichkeit und Europäerei führte er, während sie wanderten, keine hyperklugen Reden, sondern stellte sie sich gleich, indem er – als wären sie beide Junioren oder beide Mitglieder des Lehrkörpers – vertraulich über so skandalöse Angelegenheiten Witze machte wie darüber, daß die Präsidentin höchst moralisch lange Trikotkombinationen trage, was an den Wülsten unter ihren dicken Baumwollstrümpfen zu erkennen sei; daß der Professor Reverend Mr. Sogles die dralle Turnlehrerin mit zärtlichen, himmelnden, schmachtenden Blicken betrachte, wo er doch eine arme bettlägerige sieche Frau habe, die so geduldig sei; und daß das Gerücht gehe, Professor Jaswitch (Französisch und Spanisch) lasse sich von seiner Frau alle Vorlesungen schreiben und alle Aufsätze korrigieren.
»Sie ist eine schrecklich kluge Frau. Aber sie soll Cocktails trinken!« sagte Ann. Sie schämte sich selbst, aber dieses Geklatsche machte ihr Spaß – was natürlich auch ganz in der Ordnung war.
»Cocktails? Ja, meine brave junge Ann, was soll denn das mit den Cocktails auf sich haben? Ich wollte, wir hätten welche für unser Mittagessen.«
»Aber – aber – sie zerstören das Hirngewebe! Das ist wissenschaftlich erwiesen! Das können Sie in allen Physiologielehrbüchern nachlesen!«
»Ich gratuliere Ihnen dazu, daß Sie alle Physiologielehrbücher gelesen haben. Die russischen und spanischen auch?«
»Ach, Sie wissen schon, was ich meine!«
»Freilich! Aber wissen Sie es? Wer weiß, in Wirklichkeit wäre ein Cocktail vielleicht sehr gut für Sie. Er könnte Ihnen über Ihre blutlose Ernsthaftigkeit in Dingen, die gleichgültig sind, hinweghelfen; er könnte Sie nahezu menschlich und vergnügt machen! Würden Sie nicht gern einmal leben – lieben oder kämpfen? Würden Sie nicht gern?«
Seine Beharrlichkeit war wie ein in ihre Rippen gebohrter Finger. Es wurde ihr unbehaglich zumute.
Aber im übrigen spielte er weder den erhabenen Professor noch war er verwirrend liebebedürftig.
Es war eine Szene aus einem Wildwestfilm oder aus einem Roman von dem derben, übermännlichen Gebirgler, der das gebrechliche Mägdlein aus der Stadt entführt und sie so weit bringt, daß sie Gefallen daran findet. Die Hütte war ganz echt – unbehauene Holzklötze, die Ritzen mit Lehm verschmiert. Das Innere: ein roher Balkenboden, leere Pritschen, ein verrostetes Kanonenöfchen und in der Mitte ein ungehobelter Brettertisch; wenn man an ihm saß, hatte man durch die Türöffnung den Blick auf eine stille, unter zehn Zentimeter hohem Schnee liegende steinige Alm, und dann hinunter in das Tal, in dem die Fichten in dunklen Gruppen beieinander standen. Sie wußte nichts mehr vom Collegegarten Point Royals, sie war um hundert Jahre zurückversetzt und glaubte ein Stück Grenzerdasein zu erleben, das so kraftvoll war wie die kalte, süße Bergluft.
Und Hargis, waren in ihm nicht die Tugenden des romantischen Pioniers und die des kultivierten Reisenden vereint?
»Los jetzt!« kommandierte er. »Hier ist ein schöner Haufen Kleinholz und Scheite – ich habe es zusammengetragen, wie ich das letztemal hier oben war, und wenn ich unbedingt muß, werde ich auch gestehen, daß ich es in der heimlichen Hoffnung gesammelt habe, Ann werde mit mir kommen! Los, fix! Machen Sie sich nützlich und zünden Sie ein Feuer an – hier sind Streichhölzer – während ich auspacke.«
Sein kultivierter Teil hingegen griff in den Rucksack und förderte mit den belegten Broten, den harten Eiern und der Kaffeekanne eine schlanke braune Flasche zutage.
»Nanu, das ist ja Wein!« rief sie verwundert aus.
»Freilich ist das Wein! Rüdesheimer. Wirklich echter!«
»Ich glaube – ich kann mich nicht erinnern, schon einmal eine Flasche Wein gesehen zu haben. Nur auf Bildern.«
»Wollen Sie mir sagen, daß Sie noch nie in ihrem Leben Wein getrunken haben?«
»Nein, nie. Zu Hause hab ich wohl bei deutschen Picknicks ein paar Glas Bier getrunken, aber ich hab mir nie viel daraus gemacht. Aber – Wein!«
»Stört das Ihr chronisches Moralgefühl?«
»Nein. Ich möchte gern wissen, wie Wein schmeckt. Es ist natürlich gegen die Vorschriften. Aber«, recht freundlich, »gegen die Vorschriften ist ja überhaupt schon, daß ich mit Ihnen hier bin, Glenn.«
»Sehr richtig, meine Liebe!«
Sie sprach die Wahrheit; sie hatte noch nie Wein getrunken. Ihre Alkoholabenteuer waren, abgesehen von dem Bier, niemals über einen Teelöffel heißen Whiskys gegen Erkältung einmal im Jahr herausgegangen. So war es bei der Hälfte der Mädchen am College, und so war es sogar bei dem ernsthafteren und unbeliebten Schlag der Collegestudenten im Jahre 1910. Das Pendel sollte noch im irren amerikanischen Tempo schwingen – genau genommen, ist in Amerika ein Pendel tatsächlich für gewöhnlich nicht ein Pendel: es ist ein Kolben. Im Jahre 1915 triumphierten die ausgezeichneten Weine Kaliforniens; die Amerikaner begannen sie überall zu trinken; doch im Jahre 1920 glichen die Mädchen wieder Ann – sie wußten nichts von Wein, nur bestand der geringe Unterschied, daß sie recht genau Bescheid wußten über Gin und mit gebranntem Zucker gefärbten Fusel, der »Whisky« genannt wurde. Im Jahre 1930 aber hatte die Prohibition sich bereits trotz allem als Segen erwiesen, denn sie hatte die amerikanischen Frauen gelehrt, mit ihren Männern Wein zu trinken, was die Frauen in Europa schon längst taten; und zwar nicht nur mit Gin experimentierende Schulmädchen, sondern auch die würdigsten Matronen, die verdrossensten Lehrkräfte an Frauencolleges, die hingebungsvollsten Wohltäter wie die Gefängnisleiterin Dr. jur. Ann Vickers.
Mit dem Wein hatte er zwei vorsichtig eingewickelte – er rief ihr, ganz feminin, zu: »Ach, seien Sie vorsichtig damit!« – dünne Stengelgläser mitgebracht.
Als sie ein belegtes Brot gegessen hatte, kostete sie den Wein. Er kam ihr etwas schal vor, und duftend wie milder Essig. Sie war enttäuscht. War das der Nektar, waren das die flüssigen Edelsteine, die junge Frauen auf den Weg üppiger Sünden brachten? Sie hatte Lust auf Malzmilch mit Erdbeergeschmack.
»Noch ein Glas, Annie?«
»Danke, nein. Ich werd mich wohl erst an den Geschmack gewöhnen müssen, um etwas davon zu haben.«
»Ach, hören Sie! Ich hab ihn doch so weit hergebracht. Natürlich müssen Sie sich erst daran gewöhnen. Na, macht ja nichts. Bleibt mir um so mehr, meine Liebe!«
Sie war ihm dankbar dafür, daß er nicht weiter in sie drang. Und nun war der kühle Wein zu einem Wärmegefühl in ihrem Magen geworden. Sie goß sich ein halbes Glas ein, und Hargis hatte überraschenderweise den Verstand, keine Bemerkung zu machen. Ihr war warm und zufrieden zumute; das weiße, herbe Tal war bezaubernd in seiner Stille; und Hargis erzählte leise von weinumrankten Häuschen am Rhein.
Sie saßen, der offenen Tür gegenüber, auf der Bank am Tisch. Nach dem Essen reichte er ihr stumm eine Zigarette. Vielleicht zum zehnten- oder zwölftenmal machte sie den Versuch zu rauchen, und vielleicht zum zehnten- oder zwölftenmal schmeckte es ihr nicht, obgleich sie fand, es gehöre mit zu dieser verzauberten Stunde: duftender Wein, Berge am Horizont, verschwiegene Hütte, rheinische Weingärten in der Sonne und, nach so vielem weiblichem Getue und Gegurre im Collegegarten, ein Mann.
Sie erschrak nicht, es war ihr ein angenehmes, behagliches Gefühl, als er seinen Arm um sie legte und ihre Wange auf seine Schulter herunterzog. Sie schmiegte sich an den warmen Stoff an. Als er aber ihre Wange aufhob, um sie zu küssen, als er ihre Brust berührte, war sie geärgert.
Wenn sie auch nicht reich an Erfahrungen war, so hatte sie doch genug Bälle und genug Schlittenfahrten mitgemacht, um nicht mehr völlig naiv zu sein. »Ach du lieber Gott, haben alle Männer die gleiche behutsam-nachlässige Technik? Bei allen dasselbe? Und da erwarten sie, daß man überrascht und erobert ist? Genau so, wie alle Katzen auf die gleiche Art Mäuse jagen und jede glaubt, sie ist die erste unerhörte Katze, die eine Maus entdeckt? Jetzt wird dieser Idiot den Arm fallen lassen und an meinem Schenkel herumtappen.«
Das tat er auch.
Sie setzte sich auf, voll Wut darüber, daß er, indem er sich selbst als ganz gewöhnliches normalisiertes Massenproduktionsmodell entpuppte, auch sie als ganz gewöhnlichen Mechanismus hinstellte, der wie ein Vergaser einzustellen, wie ein Liter Benzin zu kaufen war. Als seine Hand ihren Oberschenkel streichelte, schüttelte sie seinen Arm ab.
»Ach, lassen Sie das doch!«
»Aber Ann! Aber Kind, Ann! Wollen Sie denn alles verderben, indem Sie – Sie verderben doch alles, indem Sie so scheußlich denken, wo wir doch so glücklich waren, weit weg vom Collegegarten –
»Scheußlich!« Ihre Wut steigerte sich noch. »Daß Sie mich verführen wollen, nehm ich nicht übel. (Bloß können Sie's nicht!) Aber Sie sind alt genug, um nicht den beleidigten kleinen Jungen zu spielen!«
»Ich wollte Sie nicht verführen!«
»Nein?«
»Ihr seid widerlich, ihr Nonnen, mit euern Büchern und euern kleinen Ausschüssen und euern unschuldigen kleinen Liedern! Eurem Gefühlsleben nach seid ihr zehn Jahre alt! Bleichsüchtig! Und ihr werdet euch vor dem Leben verschließen, bis ihr umgeschüttet werdet und irgendeinen Versicherungsmenschen heiratet und in Bungalows mit Spiegelglasscheiben in den Eingangstüren wohnt! Wo ihr doch leben könntet – die ganze Welt könnte euch gehören – das purpurne Griechenland, das goldene Italien und das nebelreiche England – –«
»Mir ist nicht ganz klar, was das Verführtwerden mit Reisen nach dem purpurnen Griechenland und dem nebelreichen England zu tun hat. Das soll wohl eine neue Art der Bezahlung für Cook-Rundreisen sein!«
»Alles! Alles hat es damit zu tun! Frauen, die keine Angst haben, die schöne, interessante Gefühlserfahrungen haben, bleiben nicht in Vorstädten stecken; sie sehen die Welt – nein, sie sehen sie nicht bloß wie Reisende, sie kennen sie, sie leben in ihr, dort, wo sie wollen, als Herrinnen über ihr eigenes Geschick. Sie lachen spöttisch, Sie versuchen sich darüber lustig zu machen, wenn ich Ihnen die Weisheit und die Anmut Europas bringe, natürlich zusammen mit dem, was der Europäer nicht hat, was der amerikanische Mann hat, mit der Treue und Verläßlichkeit und Freundlichkeit und – – Sie dumme Gans!«
Zu ihrer großen Überraschung packte er sie und küßte sie herzhaft, bis sie keine Luft bekam. Sie hörte auf, ihn zu verachten, sie hörte auf, vernünftig und überlegen zu sein, und ihre Lippen schienen ein eigenes Leben zu gewinnen. »Ach bitte!« flehte sie.
» Wollen Sie denn nicht eine richtige Frau sein, statt eines gebildeten Grammophons? Wollen Sie nicht empfinden, wollen Sie nicht, daß Ihr ganzer Körper brennt, wollen Sie denn nicht die Schönheit kennenlernen, aufhören, das ängstliche Kind in der Wachstuchschürze zu sein?«
»Ich will schon – ich bin noch nicht so weit – –«
»Entsetzt wie ein kleiner Fratz aus der Sonntagsschule!«
»Ich bin gar nicht entsetzt! Du lieber Himmel, wir leben in der modernen Zeit! Wir schreiben nicht 1890! Ich habe Biologie studiert. Aber man tut so etwas nicht leichtfertig. Ich würde einen Liebhaber haben, wenn ich ihn ernsthaft genug wollte, diesen ganz speziellen Ihn!«
»Nichts würden Sie! Sie haben zu viel Angst!« Er küßte sie noch einmal, grob, wild. Sie war einen Augenblick lang geblendet und einen Augenblick lang über alles erregt, so, als wäre sie ein toter Meeresarm, durch den die rückkehrende Flut brandet. Dann, als er es übertrieb, wurde sie kalt und leer. Er war zu realistisch, um echt zu sein.
»Lassen Sie das, hab ich gesagt!« verlangte sie. Er ließ sie los, aber er starrte sie hoffnungsvoll an, dieser sehnsüchtige kleine Junge, voll Gewißheit, er werde doch noch in den Zirkus kommen, und versuchte sie herauszufordern: »Sie sind ganz ohne Leidenschaft!«
»O doch, ich habe Leidenschaft! Da wir schon ziemlich aufrichtig zu sein scheinen, will ich Ihnen sagen, daß ich gerade jetzt aufgeregt zu werden begann, bis Sie den Höhlenmenschen spielen wollten. Nur das Gebrüll hat gefehlt! Ach, Dr. Hargis!«
»Ohne Leidenschaft. Kein Blut, sondern Druckerschwärze. Sie sind eine biologische Monstrosität, Sie und alle Mädchen hier. Ihr haltet euch für viel zu hochstehend, um einem Mann auf seinem eigenen ehrlichen Boden entgegenzutreten! Eine biologische Monstrosität, das und nichts anderes ist die sogenannte wohlerzogene amerikanische Frau! Kein Atom gesunder, schöner Leidenschaft!«
»Ist es ganz unmöglich für Sie, auf den Gedanken zu kommen, daß ich sehr viel Leidenschaft für manche Männer haben könnte, aber nicht für Sie? Vielleicht sind Sie gar nicht der große Held und verführerische Mann, für den Sie sich halten. Einmal wollte ich einen Schuhmacherssohn lieben, der in einem Kolonialwarengeschäft angestellt war. Der war wirklich ein Mann. Aber Sie – Sie machen täppische Verführungsversuche, Sie machen aus Ihrer Geschichte kleine, geleckt kluge Phrasen. Lieber würd ich mich vom College-Pförtner verführen lassen!«
Er schleuderte seine Kaffeekanne in den Rucksack, hing ihn sich mit einer brüsken Bewegung auf den Rücken und stapfte auf dem Holzfällerpfad davon, ohne sich umzuwenden.
Am liebsten hätte sie ihn zurückgerufen. Sie wollte nicht verführt werden – jedenfalls nicht jetzt – aber er war ihr nächster Freund – zumindest ein wärmerer und festerer Freund als alle Mädchen – –
Sie rief ganz schwach »Glenn!«, aber es war zu spät. Er war nicht mehr zu sehen.
Dann war sie auf einmal gerührt: der kleine Junge, der so stolz auf sein mitgebrachtes Essen gewesen war, auf seinen europäischen Rucksack, seine kupferne Kaffeekanne und den Wein, den er sich nicht leisten konnte.
»Vielleicht hat er recht gehabt. Vielleicht hab ich mich bloß in Tugendhaftigkeit hineingeschwatzt«, sagte das moralische junge Mädchen, das dem bösen Verführer Widerstand geleistet hatte.
Und dann gingen alle ihre Bemühungen, dahinter zu kommen, was sie in Wirklichkeit dachte, in grauer Einsamkeit unter, als das Tal unter ihr grau und kalt und einsam wurde.