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Er war so mager und nett und grau und reizend, der gute Lindsay Atwell. Seine frische Farbe war verblaßt. Pat Bramble ließ sich nicht nehmen, daß er ein alter Kater wäre, aber Ann sah ihn lieber als Windspiel. Er dachte an Blumen und Konfekt und Geburtstage. Er küßte sie, zärtlich und keineswegs allzu kurz, aber das war auch alles. Hin und wieder dachte sie: »Wenn der Mann nicht recht bald um mich anhält, werde ich um ihn anhalten«, aber sie vergaß es immer wieder. Er war etwas ihr so Vertrautes wie ihre rechte Hand, und etwas ebenso Unbeachtetes.
Er kam um die Zeit, die New York höflicherweise die »Teestunde« nannte, in einem Augenblick, in dem sie besonders abgerackert war und sich besonders auf die von ihm ausgehende Ruhe freute. Ein böser Tag. Kitty Cognac wurde so süß und fromm, daß Ann die Gewißheit hatte, sie sei auf irgendeine Teufelei aus. Und Anns Lieblingsgefangene, Nr. 3701, eine frühere Schullehrerin, die im Gefängnis war, weil sie seltene Bücher aus Bibliotheken gestohlen hatte, war beim Verkaufen falscher Zähne aus dem Dentaldepot ertappt worden. »Als blendende Reformatorin hab ich mich rausgemacht«, seufzte Ann im Jargon des Tages. Ihr war recht jämmerlich zumute. Als Lindsay kam, küßte sie ihn zu seiner sanften Überraschung, bis sie ihn nahezu erwürgt hatte. Aber sie sagte nicht, daß sie müde war: Müdesein war sein Privileg. Sie zog die Stehlampe näher an den tiefsten Sessel heran, gab ihm die Abendblätter und ging in die Küche hinaus, um die Cocktails zu mischen.
Während sie die magischen Eiswürfel aus dem elektrischen Kühlschrank holte, während sie abmaß und schüttelte, summte sie angeregt vor sich hin und machte Pläne. »Was für ein gesegnetes Gefühl der Geborgenheit wir haben werden, wenn Lindsay und ich einmal verheiratet sind und er jeden Abend wie heute nach Hause kommt! Er wird Richter am Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten sein, und ich wohl Gouverneurin von New York. Zusammen werden wir königliche Macht besitzen. Wie ein König und eine Königin im Mittelalter. Ich werde ihm etwas von meinem Glauben an das Glücksgefühl der Kollektivarbeit geben. Er wird mir etwas von seinem gesunden Menschenverstand geben. Aber wie kann ich in Albany sein, und er in Washington?« Sie lachte, als sie den Mixbecher auf einem Silbertablett mit Gläsern und einem glatten, ganz unweiblichen Dessertserviettchen hineintrug. »Darüber zerbrech ich mir wirklich etwas zu früh den Kopf!« verspottete sie sich selbst.
Lindsay nahm bedachtsam einen Schluck. Er faltete die Zeitung zusammen, bevor er sie aus der Hand legte, die Kanten genau parallel zu den Kanten des Tischchens neben ihm, und bedachtsam sprach er:
»Ich glaube, es ist besser, du weißt es, Ann: ich heirate. Margaret Salmon – du erinnerst dich doch, die Tochter des Bankiers.«
Ann blieb still sitzen. Sie, die sonst hastig war, stellte ihr Cocktailglas sorgsam nieder. »Ja? Miss Salmon? Ein nettes Mädel. Ich erinner mich an sie. Bei dir in der Wohnung.«
(In ihrem Innern aber tobte die Ann, die Cap'n Waldo Trotz geboten hatte, ganz ordinär: »Das wirst du bleiben lassen! Du wirst mich heiraten! Diese Salmon, dieser Flapper, dieses saftlose Knochengestell, diese Gans, die nur tanzen kann – fährt so schlecht Auto, daß sie immer Bruch macht, und – – Ach Liebling, das ist das Ende, Lindsay, du Lieber!«
»Du bist die erste, der ich das erzähle, Ann, weil ich mir erlaube, dich für meine beste Freundin zu halten. Ja. Meine beste Freundin.« Er hielt ein. Er kratzte sich mit dem linken Zeigefinger an der Oberlippe. Er stand jetzt, sein Cocktail war noch nicht ausgetrunken, aber seine Hand zitterte und er setzte das Glas ab. Ein paar Tropfen auf dem Tischchen. Geistesabwesend wischte er sie mit seinem sauberen Taschentuch fort, bevor er ihr wieder ins Gesicht sah. »Ann, früher einmal hoffte ich, ich könnte dich darum bitten, mich zu heiraten. Du bist die liebste Frau, die ich kenne, und die, die am meisten wert ist. Aber du dürftest wohl leider ein wenig zu großartig sein für mich. Ich habe meine eigene Karriere. Und wenn ich dich heiratete, würde ich einfach dein Kammerdiener werden, fürchte ich, meine Liebe.«
»Ja. Ja, vielleicht. Ja, es könnte schon so sein.«
(»Es war gar nicht so, du Dummkopf! Ich würde dich beschützen und dir helfen – –«)
»Siehst du, eben weil ich dich und deine Karriere für so wichtig halte – – Du weißt doch. Ich würde dir nicht dreinreden wollen, Ann. Eher dich noch ermutigen.«
»Ja, nun, ich denke, vielleicht verstehe ich das auch – –«
»Aber andererseits scheint es ziemlich sicher zu sein, daß ich von den Demokraten als Richter am Obersten Gerichtshof des Staates aufgestellt werde, und – – Aber ich fürchte, du – – Oh, selbstverständlich in aller Hilfsbereitschaft und Nettigkeit. Du würdest mir Ratschläge geben wollen und ein Richter muß allein stehen – oder sitzen, ha, ha! – und – – Und im Alltagsleben würdest du dich um mich abzappeln – – Weißt du, mich sozusagen mit Freundlichkeit erdrücken. Siehst du, gerade weil du energisch bist und deinen eigenen Standpunkt hast und ich mich, das ist wenigstens denkbar, von dir beeinflussen ließe, und – – Du verstehst?«
»Ja, doch, ich kann mir schon denken, daß es vielleicht so wäre.«
»Und, Liebe, du mußt meine Margaret schätzen lernen! Du denkst wahrscheinlich, sie ist unreif, aber – – Sie hat ein so schönes, zartes Wesen – ist eben einfach zu scheu, um sich vor anderen Leuten wirklich so zu geben, wie sie ist, aber so lieb und – – Ach, Ann, ach mein Gott!«
Er küßte sie, linkisch und unbeholfen vor Bewegung, schluchzte nahezu als er sie auf Ohren, Haar, Hals, Schultern küßte. Dann rief er: »Ich kann das nicht ertragen!« und floh aus dem Zimmer, aus der Wohnung.
Sie rührte sich nicht; stand bloß da, die Arme zur Tür ausgestreckt.
Eine Stunde lang saß sie vornübergebeugt, an einem Knöchel herumbeißend, auf der Kante eines Lehnstuhls. Hundertmal dachte sie: »Ich ruf ihn an. Ja! Nein. Ich tu's nicht!« Sie stand, nichts als die Vision Lindsays und seiner Küsse im Kopf, mechanisch auf; sie trank seinen Cocktail aus, wusch Mixbecher und Gläser ab, stellte sie weg und streichelte, ohne etwas zu sehen, den Kater Jones, der, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, mit einem Papierballen Katz und Maus spielte. »Ich ruf ihn an. Ich muß! Ich kann ihn nicht gehen lassen, zu diesem scheußlichen kleinen Flapper!«
Sie stellte das Radio an, als sie aber einen Moment Terry Tintavo »Der Atlantic City-Mooooond« säuseln hörte, stellte sie wütend wieder ab.
Die längste Zeit dieser Schmerzensstunde saß sie unbewegt, in der Haltung des »Denkers«, nur um ein weniges empfindsamer. Es »riß sie in Stücke«, wie man wohl zu sagen pflegt. In Wahrheit verläuft der Vorgang umgekehrt. Was von ihrem Wesen verstreut und zersplittert war, wuchs endlich wieder zusammen. Ihr Selbst, das in so viele Teile auseinandergefallen war: in berufsmäßige Menschenfreundlichkeit, die, richtig besehen, nichts anderes bedeutet, als alte böse Richter und alte böse Vagabunden trocken zu legen; in flüchtiges Herumgespiele mit Psychologie, in Zuneigung für Freunde, in Wiederabgleiten in das Kategorisieren des Provinzkindes, Furcht vor Angsthaben, Verlangen nach einem unmöglichen, völlig sündenlosen Leben, nicht ohne eine gewisse gesunde Ironie gegenüber dem Schauspiel des eigenen Ich, das sich bemüht, vollkommen zu sein; in uneingestandenen Stolz darauf, es zur Spezies »Bedeutende Frau« gebracht zu haben; in romantische Hingabe an Bruchstücke aus Keats und Tennyson, deren sie sich noch entsann; in das vielerlei Durcheinander unumgänglicher Alltagskleinigkeiten, als da sind: unbezahlte Rechnungen, der Geschmack frischer Erbsen, der Duft von Nelken auf einem Straßenkarren, das Hühnerauge, das irgendeiner Unterredung mit einem Beamten des Staates eine lächerliche Note gab, die Frage nach der Höhe des Trinkgeldes für den Hotelportier (der übrigens im vergangenen Monat lediglich die Lampe in ihrem Badezimmer repariert hatte) der immer wiederkehrende Traumklang von Prides Weinen, die Lautsprecher der Nachbarn, die sie beim Einschlafen störten, der Ärger, daß sie die Blumen für Dr. Wormsers Geburtstag vergessen hatte – die zerstückelten Teile ihres Selbst fanden wieder zu einander, und Ann Vickers wurde ein geschlossenes, leidenschaftliches Ganzes, eine Frau, toll vor Liebe wie Sappho.
Das äußere Bild war kein anderes als dies: eine unauffällig gekleidete, angenehm aussehende Frau, auf der Kante eines dickgepolsterten Stuhles sitzend, in einer Zelle irgendeines nach höchst wissenschaftlichen Grundsätzen elektrisch beleuchteten und mit elektrischen Kühlanlagen versehenen Wolkenkratzerhotels, mitten in der nimmer ruhenden, aus Stahl und Glas und Beton erbauten Stadt dreihundert Meter hoher Türme. Aber alle Kultiviertheit, kluges Überlegen und Anpassung an die Betonrespektabilität hatte sie von sich geworfen, bis sie hüllenlos war wie eine Gottheit – nackt und bloß wie die Führerin eines Eingeborenenstammes im Dschungel.
Das wenigste dachte sie in Worten, im wesentlichen waren es Gefühle, bis zum Zerreißen mit Spannung geladene, blutigrote Gefühle. Hin und wieder jedoch wurden ihre Gedanken klar:
»Ich möchte ein millionstel Teilchen zur Zivilisierung der Menschheit beitragen. Wie Florence Nightingale. (Aber hoffentlich nicht so verdreht!) Ich liebe eine Arbeit, die Würde besitzt und Achtung verdient. Ich liebe Macht. Ja! Ich will nicht mein Leben damit verbringen, Grünkramrechnungen zu bezahlen! Und ich kann das auch darstellen. Es wär nicht zum erstenmal. Macht und eigener Entschluß und die Chance, Kitty Cognac eine Chance zu geben.
Und ich pfeif darauf! Ich will Liebe; ich will Pride, mein Kind. Ich will sie tragen. Ich habe ein Recht auf sie. Ich will sie unterrichten. Ich wäre froh, wenn irgendein Ansiedler aus einem idiotischen ›Wildwestroman‹ daherkäme und mich wegführte. Ich würde ihm Kinder gebären und ihm seine Bohnen kochen. Und ich müßte nicht ein blödes Bauernweib werden. Ich würde alles lernen: Getreidearten, Boden, Traktoren. Ich würde für die Kooperativen kämpfen. Ich würde in die Politik gehen. Und die ganze Zeit hätte ich Pride und meinen Mann – –
Aber vielleicht könnte ich gar nicht Pride und meinen Ackerbauer und noch dazu meinen Ehrgeiz haben, ebenso, wie ich jetzt nicht Pride und Lindsay und meinen Ehrgeiz haben kann. Wie simpel waren wir doch, als wir noch über eine Sache zu reden pflegten, die wir Frauenbewegung nannten! Wir wollten genau so sein wie die Männer, auf allen Gebieten. Das können wir nicht. Entweder sind wir stärker (zum Beispiel als Herrscher, wie die Königin Elizabeth) oder wir sind schwächer, durch unser Aufgehen in den Kindern. Trotz allem, was wir 1916 gesagt haben, sind wir noch immer Frauen und nicht Männer im Embryonalzustand – Gott sei Dank! Ich bin froh darüber, denn während Lindsay seinen Richtertalar und dieses Balg, die Margaret, hat, werde ich eines Tages meine Tochter Pride haben!«
Russell Spaulding am Telephon.
»Es ist wohl keine Rede davon, daß Sie heut abend zum Essen noch frei sind, Ann? Wahrscheinlich speisen Sie mit dem Präsidenten von Columbia oder mit dem Pascha von Pezuzza.«
»Ach! Nein! Russell! Das wäre reizend – – Das soll wohl eine Einladung sein?«
»Na selbstverständlich, was denn sonst! Ich bin gleich da.«
Sie hatte nur einen Nebengedanken: »Hoffentlich ist er nicht zu witzig.«
Mr. J. Russell Spaulding vom Institut für Organisierte Wohlfahrtspflege, in den Reformatorenkreisen New Yorks teils als »Ignatz«, teils als »Russell« bekannt, war ein tüchtiger Sozialarbeiter, der recht genau Bescheid wußte, der schlecht bezahlte Stenotypistinnen im Institut ebenso tüchtig abhetzen konnte wie jeder Versicherungsdirektor – eine der wichtigsten Eigenschaften für leitende Personen in sozialen Bewegungen – und der in zehn Sekunden genau wußte, ob ein Bittsteller wirklich arbeiten wollte oder nicht. (Da die Objekte der Wohlfahrt ganz ähnliche Wesen sind wie Zimmerleute, Schriftsteller, Fischer, Flieger und Ärzte, wollten sie das zum größten Teil ganz entschieden nicht.) Und doch erinnerte Russell mit all seinen Menschenführereigenschaften im Privatleben an einen guten alten, freundlichen und einfachen Bauernhund, der herumhopst, sich windet und reckt und, weil er sich gar zu gern auslaufen möchte, mit seinem ganzen dicken Hinterteil wedelt.
Als er kam, hatte Ann ihr Kostüm abgelegt und das erste beste Kleid angezogen, hatte sie sich die Augen gewaschen und den Mund gespült und war nun fest davon überzeugt, sie hätte ihren Kummer so gut verborgen, wie es nur eine Bedeutende Frau tun kann, die es gewohnt ist, sich vor der Öffentlichkeit zu zeigen und zu verstellen. Er hüpfte herein und rief: »Wie wär's mit fabelhaften chinesischen Gerichten – Hühnerananas, Eier Fou-yung – – Nanu, Ann, Liebling, was ist denn?«
»Irgend etwas hat Ihnen Kummer gemacht. Sagen Sie's dem guten Onkel Russell.«
Er stand da wie ein Turm. Er war bedeutend größer und breiter als Lindsay, seine Brust wirkte, mit Lindsays zierlichem Oberleib verglichen, wie ein Bierfaß, sein gewelltes schwarzes Haar legte sich in natürliche Locken. Am liebsten hätte sie den Kopf an seine Brust gelegt und sich ausgeheult. Aber sie sagte frisch und energisch: »Gar nichts. Ach, bloß der übliche Ärger im Arbeitshaus. Ich will das aus dem Kopf kriegen. Und wenn ich etwas blaß und schwach ausseh, so liegt das wahrscheinlich daran, daß ich ganz ausgehungert bin. Gehen wir essen.«
Er packte sie mit seinen großen, etwas pummeligen Händen an den Armen und hielt sie fest. Er küßte sie brüderlich auf die Stirn und brummte: »Na, ich will mich in nichts einmischen, meine Liebe, aber wenn ich irgendwas tun kann, soll's mir ein Volksfest sein. Ja, vergessen wir's. Aber Sie sollen heute abend keinen Chinesenfraß essen, mein Kind. Was Sie brauchen, ist – – Ich weiß ein italienisches Speakeasy, wo man nicht einmal so großartige Führer der öffentlichen Meinung wie uns erkennen wird und wo der Chianti beinah genießbar ist. Los!«
Und er war nicht zu witzig. Er bemitleidete sie nicht fühlbar. Er fachsimpelte – die einzige wirklich befriedigende Unterhaltung, abgesehen von schmutzigen Anekdoten und Liebe, die ja selbst auch eine Art Fachsimpeln ist. Er brachte sie dazu, sich wütend mit ihm über Eugenik zu streiten, über öffentliche Arbeiterhochschulen, Minimalarbeitszeit für Frauen, Reorganisierung der Textilindustrie. Lindsay hätte bezaubernd und witzig über das Theater und Trouville geplaudert, und Ann wäre recht glücklich und zufrieden gewesen. In Russels Gesellschaft aber war sie aggressiv und lebhaft und schon halb geheilt. Als sie wieder bei ihr waren, sagte Russell munter: »Passen Sie auf. Wenn Sie am nächsten Sonntag nicht schon was mit Ihrem Freund Atwell vorhaben, könnten wir doch eigentlich Malvina Wormser und Bill Coughlin fragen und eventuell zu viert einen Ausflug nach Westchester machen?«
»Ich werde Dr. Wormser anrufen und Ihnen morgen Bescheid geben. Vielen Dank, Russell.«
Er beugte sich herab, um ihr einen Kuß zu geben, tat es dann aber nicht und ging fort, überließ sie ihrem Weinen – aber nun weinte sie gar nicht. Es schien ein Kummer zu sein, der schon seit hundert Jahren tot war, und Lindsay war jemand, von dem sie nur gelesen hatte.
Aber die Erwähnung Dr. Wormsers weckte in ihr Sehnsucht nach dieser Quelle des Lebens. Bei Malvina konnte sie sicherlich weinen. Und wenn sie nicht weinte, würde sie sterben.
Es war gar nicht so spät – ein Viertel nach elf. Sie telephonierte, und eine halbe Stunde später saß sie rauchend mit der rundlichen kleinen Frau vor dem Kamin und sagte wohlüberlegt und ernsthaft: »Malvina, ich glaube, jetzt ist es vorbei damit – mit meinem Getue, oder doch zumindest meinem Wunsch, sowohl eine Frau wie eine Art glorifizierte Schullehrerin zu sein. Lindsay hat mir heut abend den Laufpaß gegeben. Ich bin nicht um Trost gekommen, sondern gewissermaßen um viel mehr: ich will öffentlich und offiziell zu Protokoll geben, daß irgend etwas, weiß der Himmel, was es ist, es jedem richtigen Mann unmöglich macht, mich zu lieben.«
»Das stimmt nicht, Ann. Du hast etwas, ich habe etwas, alle geistigen Frauen (wir sind doch geistige Frauen, nicht? Ich weiß nicht) haben etwas an sich, und das macht den einigermaßen richtigen Männern Angst davor, wir könnten sie in den Schatten stellen – den Männern, die strebsam und regsam sind, nicht gewöhnlich, und doch keinen Vergleich mit Besserem vertragen. Für uns gibt es nur zweierlei Männer: sie müssen entweder so klein sein, daß sie ihren ganzen Stolz und Egoismus damit befriedigen können, daß man sie als unsere Gefährten kennt, oder aber sie müssen so groß sein, daß sie den Vergleich mit niemand scheuen.
Das hat nichts mit geschlechtlicher Anziehungskraft zu tun. Wir beide haben Gefühle und einige Reize. Außerdem mußt du dir den Gedanken aus dem Kopf schlagen, Ann, daß diese Schmerzen nur Frauen unserer Art kennen. Den Männern geht es auch nicht anders. Ein ausgezeichneter Mann heiratet ein minderwertiges Frauenzimmer, und wenn sie über ihre erste Scheu vor ihm als Berühmtheit hinaus ist, verbringt sie den Rest ihres Lebens – bis er sie wegjagt – damit, daß sie der Welt einzureden sucht, sie taugte ebensoviel wie er. Sie leidet fast bis zum Wahnsinn darunter, daß die meisten Menschen in ihr nichts anderes sehen als die Frau des Großen Mannes. Sie sucht ihn dahin zu bringen, daß er das Gefühl bekommt, er wäre schuld daran.
Sogar unter Freunden des gleichen Geschlechts – A und B fangen, anscheinend ganz gleich, als junge Leute an. A bringt es zu etwas. B nicht. B muß schon ein sehr seltenes und prachtvolles Exemplar sein, um das zu ertragen, um nicht ununterbrochen an A's Jugenddummheiten zu denken und sie ihm immer wieder unter die Nase zu reiben, damit er sich klein und häßlich vorkommt.
Du lieber Himmel, Ann, die Sache ist so alt wie die Welt. Es ist die Geschichte von Aristides dem Gerechten. Drei Viertel der Massen hassen überlegene Menschen. Wahrlich, ich sage euch, es soll mehr Freude sein über einen guten Menschen, der hinabgezerrt wird zum Pöbel, denn über neunundneunzig, die erhöht werden als Beispiele für die Menschheit.
Wenn eine Frau und ein Mann zusammenkommen, die beide Größe genug haben, um einander die Größe nicht zu neiden, so ist das nur ein sehr unwahrscheinlicher Zufall – und selbst wenn sie zusammenkommen, wird der eine der beiden schon mit irgendeinem kleinen anmaßenden Menschlein verheiratet sein, und die beiden können nicht heiraten – aber, dem Himmel sei Dank, bis jetzt ist noch kein verfassungsänderndes Gesetz angenommen worden, das die heilige alte Gepflogenheit der unerlaubten Liebe unmöglich macht. In meinem langen Leben, das ich damit verbracht habe, mich in die intimen Angelegenheiten anderer Leute einzumischen, habe ich noch kein halbes Dutzend guter Ehen kennengelernt, in denen beide Teile wertvolle Menschen waren. Aber das alles hat nicht das Geringste mit deinen weiblichen Reizen zu tun, meine Liebe.
Aber – – Seltsam. Eine Frau kann so schön sein wie Diana, sie kann eine bessere Physikerin sein als Lord Rutherford, Präsidentin der Vereinigten Staaten und Tennisweltmeisterin, sie kann siebzehn Sprachen beherrschen, eine himmlische Tänzerin sein und eine tadellos funktionierende Nebenniere haben, sie wird sich doch elend und minderwertig vorkommen in der Gegenwart eines beliebigen hopsenden Chormädels, wenn sie noch nie von einem Mann aus feuchten Augen angesehen worden ist. Und leider wird es in der Welt wohl so bleiben bis in alle Ewigkeit, Amen. Verflucht!«
Auf dem Heimweg konnte Ann kein Gefühl der Tragik aufbringen – sie kam sich bloß trübselig und überflüssig vor, durchaus nicht als Bedeutende Frau, sondern als Kleines Frauchen.
Der Ausflug war nett. Drei Wochen lang kümmerte Russell Spaulding sich in seiner tolpatschigen Art um sie, erfreulicherweise ohne Fragen zu stellen. Ann telephonierte nicht mit Lindsay. Er rief sie einmal an und redete vorsichtig etwas von einem Zusammensein mit seiner Margaret, aber sie entschuldigte sich mit betonter Höflichkeit.
Ann saß am frühen Abend allein in ihrer Wohnung und studierte, im Zusammenhang mit ihrer Gefängnisarbeit, eine Broschüre: »122 Verschiedene Arten Sparsamer Reiszubereitung.« Sie summte vor sich hin. Es klopfte, sie rief gleichgültig: »Herein.«
Es schien niemand zu kommen. Sie blickte auf. Auf der Schwelle stand Lindsay Atwell, vor sich hinstarrend. Seine Hände, die den Hut hielten, zitterten. Er hatte etwas unbeschreiblich Gealtertes und Abgetriebenes an sich. Sein Kragen saß freilich ordentlich, aber seine Krawatte war ein wenig verschoben, sein Haar nicht ganz glatt. Er sah aus wie ein kranker Mann, wie einer, der keine Hoffnung hat. Als er auf ihren Schreibtisch zuging, stolperte er. Sie stand nicht auf. Das war ein Mann, dessen sie sich kaum entsinnen konnte.
»Ann, ich werde wahnsinnig! Ich kann es mit Margaret nicht aushalten! Sie ist ein kleiner Pfau! Ach, ich brauche deinen Reichtum und deine Wirklichkeit – – Verzeih mir! Heirate mich!«
»Ja, es tut mir leid, Lindsay, aber Russell Spaulding und ich haben gestern geheiratet. Morgen verschicken wir die Anzeigen.«
»Warum? Mein Gott, warum?«
»Warum? Ach, wohl weil er mich darum gebeten hat. Und ich hab ihn gern, weißt du. Ja. Natürlich, ich habe ihn gern.«