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38

Dr. Malvina Wormser gab eine Gesellschaft.

Auf diesem äußersten Gipfel der Zivilisation, dem New York des Jahres 1930, bedeutete das Wort »Gesellschaft« vielerlei. Für die Künstlerseelen bedeutete es Gin und Knutschen. Für die unkultivierten Nicht-Künstlerseelen bedeutete es Gin und Knutschen. Für Leute, die so reich und angesehen waren, daß sie noch nicht einmal angefangen hatten, über die »Depression«, die eben einsetzte, zu jammern, bedeutete es Kontraktbridge und Gin. Aber für die fortgeschrittene Gruppe bedeutete es einfach Gerede.

Dr. Wormser erfreute sich nicht besonderer Stärke zur Lenkung und Zügelung der Ideenhausierer, aber sie besaß etwas Besseres: eine tiefe Seelenruhe, die es ihr ermöglichte, in liebenswürdiger Indifferenz am Kamin zu sitzen und ihrer Gesellschaft zuzulächeln – weder gelangweilt, noch so angeregt, daß ihr eine schlaflose Nacht drohte. Am nächsten Morgen stand sie dann wieder früh um zehn ausgeruht und heiter am Operationstisch. Chirurgen und Seekapitäne und Flugzeugführer – das sind zuverlässige Leute in einer geisteskranken Welt.

Ann, am anderen Ende des Zimmers, betrachtete sie voll Neid. Sie selbst langweilte sich. Sie saß auf einer Couch und mußte einem jungen Menschen zuhören, der auf Grund seiner Zeitschriftenlektüre mit Bestimmtheit behauptete, in Sowjetrußland seien alle Probleme des Geschlechts gelöst. Dann gab er ihr eine skizzenhafte Darstellung seiner wesentlicheren Ideen über die Industrialisierung der Landwirtschaft. (Er war in New York als Neffe eines Rabbiners geboren und kannte sich ganz genau in der Landwirtschaft aus, nur eines wußte er nicht: was auf dem Land wächst.)

Ann gähnte innerlich: »Ich glaube, ich geh nach Hause und stell das Radio an!«

Dann erwachte sie zu einer menschlichen Neugier. Breitschultrig kam ein kräftiger, rotbärtiger Mann ins Zimmer, nicht sehr groß, aber mit dem Körperbau einer Bulldogge, einer roten Bulldogge. Sein Bart war kurz, rauh, aggressiv; er hatte lebhafte Augen, und seine Stirn unter dem rostfarbenen drahtigen, allmählich ergrauenden Haar war schön, geädert und sichtlich heller als seine roten Backen. Er hatte Hände wie ein Preisboxer, aber sie waren manikürt. Er trug einen ausgezeichneten Smoking mit einer abscheulich gebundenen Schleife.

Ann kannte ihn nicht persönlich, aber sie hatte ihn auf einem offiziellen Dinner gesehen. Es war Richter Bernard Dow Dolphin vom Obersten Gerichtshof des Staates New York. Er war ein Bekannter von Lindsay Atwell; er hatte zusammen mit anderen Ann ihre Stellung als Leiterin verschafft. Er besaß eine hohe berufliche Bildung, seine Urteile waren klug und anständig – und er war als Liebhaber von Wein und Huren berüchtigt; er hielt autoritative Vorlesungen an den juristischen Fakultäten – und er stand auf du und du mit allen ultra-elegant gekleideten, zynisch amüsierten höheren Politikern des Staates. Lindsay hatte ihr erzählt, unter allen zur Zeit mit der Herrscherwürde Bekleideten in dem großen Königreich des Staates New York mit seinen zwölfeinhalb Millionen Einwohnern, gebe es keinen Oligarchen, der in seiner Eigenschaft als Richter männlicher, kenntnisreicher, widerspruchsvoller, ehrenhafter, und in seinem Privatleben verkommener wäre als Richter Dolphin.

In politischen Kreisen kannte man ihn als Barney Dolphin.

Er war Baccalaureus der Künste der Universität Fordham mit Auszeichnung und mit einem Baseballdiplom; er hatte die juristische Fakultät der Columbia-Universität absolviert und ein Jahr an der Sorbonne gearbeitet; er war Dr. jur. hon. causa von drei Universitäten; und man erzählte sich von ihm, er spräche korrekt und fließend französisch, italienisch, polnisch, jiddisch, englisch und den Slang der East Side. Er gehörte auch zum Elchklub von Brooklyn und war ein klassischer Billardspieler. Er war die erste Autorität für Eisenbahnaktien in New York City, und einmal hatte er zweiunddreißig Stunden hintereinander Poker gespielt. Er konnte Balzac, Zola und Victor Hugo (sic) genau, mit Nennung der Seite, zitieren und hatte nie in seinem Leben etwas von solchen Zeitgenossen Michelson usw. gehört. Er galt als Millionär, und man glaubte auch, daß die Spekulation, die zu diesem Zustand der Gnade geführt hatte, ehrlich gewesen war. Es wurde behauptet, er besäße noch immer das Ziegelhäuschen in der Morton Street, in dem er geboren war, und wenn er müde wäre, zöge er sich dahin zurück und kochte sich, ganz für sich allein, Corned Beef und Kohl; und an dieser Geschichte stimmten nur die äußeren Daten nicht. Er war ein geehrter Stammgast in Bradley's Casino in Palm Beach und am Queens County Orphanage. Mit seinen dreiundfünfzig Jahren konnte er hundert Yard in dreizehn Sekunden laufen. Er war ein überzeugter Katholik, aber sein Name hatte unangenehmerweise bei drei Scheidungsprozessen als der des möglichen Partners in der Luft gelegen. Im Gerichtssaal war er lustig und guter Dinge, aber er konnte mit einer entsetzlichen kalten Wut auf Rechtsanwälte losgehen, die aus dieser guten Laune Vorteile ziehen wollten.

Ann sah zu, wie Richter Dolphin durch die Schwatzenden zu Dr. Wormser hinstolzierte. Seine schnellen Augen schienen jedem, an dem er vorbeikam, auf den Grund der Seele zu sehen. Er küßte Dr. Wormser die Hand und hielt sie fest. Die jungen Leute kamen, um sich mit ihm zu unterhalten, und er antwortete ihnen mit dem schnellen, herzerwärmenden und gänzlich inhaltslosen Lächeln des Politikers.

Es dauerte eine halbe Stunde, bis Richter Dolphin in Anns Nähe kam und sich mit einem nichtssagenden Blick und einem gemurmelten »Erlauben Sie?« neben sie auf die Couch fallen ließ. Der ernsthafte Jüngling, der ihr die Vorlesung gehalten hatte, war verschwunden, und sie fühlte sich erschöpft. Sie mußte sich einen Ruck geben, um herzlich zu ihm zu sagen: »Ich muß mich noch bei Ihnen bedanken. Ich glaube, es ist zu einem guten Teil Ihnen zuzuschreiben, daß ich meine Stellung bekommen habe. Ich hab Ihnen geschrieben, aber ich hatte noch keine Gelegenheit, Ihnen persönlich zu danken.«

»Oh. Ach ja.«

»Ich bin Ann Vickers vom Stuyvesant-Arbeitshaus.«

Der Blick, den er auf sie warf, war ganz besonders rasch und noch durchdringender als sonst. Dann schüttelte er den Kopf. Jedes Haar in seinem borstigen kurzen roten Bart sah aus wie ein Draht, von dem Funken sprühten.

»Unsinn, mein liebes Kind! Sie wollen Leiterin einer Besserungsanstalt sein? Wo ist die Brille? Wo sind die dünnen Lippen? Wo ist der Ausdruck, als ob Sie einen schlechten Geruch in der Nase hätten? Wo ist das Gesicht der geduldigen Märtyrerin?«

»Ach, ich bin noch ärger, Richter. Ich bin der matronenhafte Typ. Ich bemuttere die armen Seelen, und die müssen das aushalten.«

»Ja, das mag schon stimmen, aber Sie sehen mir nicht nach schwarzen Spitzenhandschuhen und dem kleinen grauen Häuschen im Westen aus. Sie sehen ganz schön desillusioniert aus.«

»Das bin ich nicht. Ich bin melancholisch.«

»Die Unterhaltung eben?«

»Ja.«

»Sind Sie Kommunistin?«

»Wie soll ich das wissen? Ich weiß gar nichts davon. Dagegen bin ich entschieden nicht. Aber es langweilt mich, mir diese Leute anzuhören.«

»Ja? Ich bin jetzt –« ein Blick auf die Uhr an dem breiten haarigen Handgelenk – »zweiunddreißig Minuten und vierzig Sekunden hier, und ich habe gehört, wie diese Kiebitze alles auf der Welt außer ihrer Miete erledigt haben. Wir wollen weggehen und uns irgendwo was zu trinken beschaffen und einen Polizisten umbringen, und dann werde ich uns beide dazu verurteilen, in Ihrem schönen Gefängnis zu leben.«

Seine Augen ließen die ihren nicht los, ganz ohne Umschweife, mit einer vergnügten Frechheit, die sie seit Adolph Klebs bei keinem Mann gekannt hatte; sie sagten ihr, daß er sie für eine äußerst nette und verführerische Frau halte und sie recht hübsch finde, daß er es sehr nett finden würde, diese Seite des Lebens in ihrem »schönen Gefängnis« mit ihr zu teilen.

»Wir wollen ernsthaft sein«, bat sie. »Meine Ironie steht heute abend auf besonders schwachen Füßen.«

»Ihnen fehlt wohl Ihr Russell, ja? Oder sind Sie nur einfach einsam?«

»Sie – –«

»Aber sicher. Ich weiß alles. Mein Metier als Politiker. Ich erkannte Sie gleich, als ich heut abend hereinkam. Wir waren vor zwei Jahren auf demselben Dinner – die Vestal Association – Sie saßen am letzten Tisch rechts vom Tisch des Vorsitzenden, und Sie saßen zwischen – – Warten Sie! Warten Sie! Nichts sagen!« Er schnippte mit seinen kurzen Fingern; ein trockener, knackender Laut. »Sie saßen zwischen Dr. Charlie Sargon und dem Dekan von der Universität New York. Und während ich einen gelehrten Vortrag – das tat ich wirklich – über Luftfahrtgesetze hielt, sah ich Sie an – Sie rauchten türkische Zigaretten aus einem Lederetui, italienische oder Wiener Arbeit, glaub ich – und ich sah Sie an und dachte, was für einen süßen Mund zum Küssen Sie haben – es ist Leben in Ihren Lippen, nicht feuchtes Pergament, in dieser Stadt der Pergamentfrauen! Aber natürlich gab ich diese bösen Gedanken auf, wie ein braver Richter es tun muß!«

Sie starrte ihn an. Es stimmte unangenehm genau. Sie kam sich hilflos vor – um so hilfloser, als er sie anlachte und ihre Hand durch seinen Arm zog.

»Im Ernst! Sie wissen doch selbst, Miss Vickers, daß die Frauen in dem Weltverbesserungsring – und alle Heiligen sollen sie segnen, denn es ist eine schöne aufopfernde, gut zu leidende Bande von edlen Seelen, das sind sie, sicher – aber größtenteils werden sie fischblütig oder vorsichtig oder diktatorisch; sie wollen einen Haufen schwächlicher Jasageweiber kommandieren, oder sie wollen gesellschaftlich wie Prinzessinnen empfangen werden; aber Sie, sagte ich mir, Miss Vickers ist immer noch, trotz all ihrem Wissen, das liebe Mädel, sagte ich mir, sie ist immer noch das reizende Balg von langbeiniger süßer Göhre, das sie als Kind war, und, jawohl, ich habe den Schmeichlerstein in Blarney geküßt, wie Sie gerade sagen wollten, Ann!«

Wieder lachte er sie an, zärtlich, und drückte ihre Hand zwischen seinem Boxerarm und seiner Seite.

Sie lächelte ihm zu, ein wenig verschleiert, und sagte etwas kläglich mit kleiner Stimme: »Ich glaube, ich wollte etwas vom Blarney-Stein sagen. Das sagt man so. Sind Sie wirklich Ire?«

»Ein Viertel. Und zu je einem Viertel Cockney-Fischhändler, Schwede und Österreicher. Aber wie all die Tammanyjungs, wie Al Smith, bin ich von Amts wegen Ire, so wie Herbert Hoover von Amts wegen ein Iowa-California-Yankee ist. Schreiben Sie uns doch mal einen Aufsatz über die neue Lösung des Rassenminderheiten-Problems – seine Urureltern nach Wunsch geographisch abzuändern. Aber Sie sagten, wir sollen ernst sein. Ich möchte ernsthaft von einer Sache sprechen, Liebling; ich möchte Ihnen dafür danken, daß Sie so sehr nett zu – erinnern Sie sich noch? – ein Mädchen, zweiundzwanzig, Carma Krutwich, Stenotypistin? Als ich beim Schöffengericht war, mußte ich sie einsperren, weil sie einen kleinen Scheck gefälscht hatte. Ich konnte nicht anders. Ich sagte ihr, sie sollte wieder zu mir kommen, wenn sie auf Bewährung entlassen wäre. Das hat sie gemacht. Sie hat mir erzählt, daß Sie sie, als Sie die Stelle im Stuyvesant übernahmen, so gut behandelt haben, wie noch niemals ein Mensch seit ihrer Geburt; daß Sie sie in Ihr Büro genommen, ihr Bücher geliehen, immer mit ihr Tee getrunken haben. Wie die kleine Carma Sie liebt! Sie werden ja wohl wissen, daß sie jetzt anständig ist, mit einem fabelhaften Jungen verlobt?«

»Ja. Sie waren zum Butterbrot und Bier bei mir, vorige Woche.«

»Das sieht Ihnen ähnlich … Sie hat mir erzählt, wenn sie ein Mann wäre, würde sie Sie heiraten, und wenn sie dazu ein paar Morde begehen müßte. Hören Sie, Ann, wissen Sie, an welchem gesegneten Fleck oder in welcher Schatzkammer, in welcher heimlichen Ecke des Eisschranks der Gin liegt? Malvina holt ihn frühestens in einer Stunde.«

In der Küche fiel ihr auf, daß er nur einen ganz kleinen Schluck trank, aber augenscheinlich mit großem Genuß, er warf dabei den Kopf zurück, und sein Bart sah aus wie ein gestutzter Assyrerbart.

»Wir wollen hier weggehen, Ann. Wir wollen uns das Gerede nicht mehr anhören. Wenn wir durchaus noch etwas wissen müssen, so sind die Druckerpressen ja noch im Laufen, glaube ich. Wir wollen irgendwo hinfahren. Fabelhafte Nacht für März. Kommen Sie!«

»Schön.«

Dr. Wormser legte den Kopf ein bißchen auf die Seite, als Ann mit Barney Dolphin zu ihr kam, um gute Nacht zu sagen. Das erweckte in Ann ein jugendliches und angenehmes Schuldgefühl.

Richter Barneys Wagen, ein cremefarbener Roadster mit niedrigen roten Ledersitzen, sah so lang aus wie eine Lokomotive. Er fischte eine Pelzdecke aus dem Notsitz und wickelte sie sorgfältig ein, ohne die Situation zu Zärtlichkeiten auszunutzen. Er machte das so schnell und unpersönlich wie ein Chauffeur.

»Fahren wir in irgendeine bestimmte Gegend?« fragte sie.

»Ich weiß nicht. Nach Long Island. Wir werden halten und uns aufwärmen, sobald Sie wollen. Übrigens: Barney Dolphin heiße ich.«

Weiter sagte er nichts, meilenlang. Sie glitten über die Brücke der Neunundfünfzigsten Straße mit ihrem Ausblick auf die sich am Fluß entlangziehenden Geschäftshäuser. Obwohl es Mitternacht war, konnte man an den Lichtpunkten der Fenster die unwahrscheinliche Höhe sehen; fünfzig, sechzig Stockwerke. Wer war da noch so spät oben auf diesen Berggipfeln – welcher verzweifelte Bankrotteur, welcher triumphierende Condottiere des Geschäftslebens legte seinen Opfern einen Hinterhalt, welches kleine Büroliebespaar hielt sich da oben in den hochragenden Türmen umschlungen? Sie schossen dahin durch Straßen mit langweiligen Läden und öden Appartmenthäusern, kamen an einer häßlichen Wüste aus Millionen Tonnen von Asche und Müll vorbei, waren mit einem Satz auf der offenen Landstraße, und dann rochen sie den salzigen Sund. Nichts gab es mehr außer der ungeheuerlich großen cremefarbenen Motorhaube vor ihnen und einem Tunnel von Licht, dessen Wände sandige Straßeneinschnitte und struppige Bäume bildeten. Der Motor lief weich; er summte nur triumphierend, als die Nadel auf hundert Kilometer sprang.

Die Kälte kroch unaufhaltsam unter ihre Pelzdecke. Als ihre Brust vor Kälte eine Gänsehaut bekam, ließ er den Wagen langsam auslaufen und gab ihr wortlos eine Flasche, aus der sie einen ausgezeichneten Whisky trank. Dann packte er sie wieder in die Decke und raste weiter. Er sprach jetzt, nicht glatt und etwas albern, wie bei Malvina, sondern langsam, als ob ihn irgend etwas quälte:

»Gefällt's Ihnen, Ann?«

»Ich find es herrlich!«

»Ich auch. Es ist meine allerbeste Flucht vor der Realität. Können Sie es vertragen, wenn es spät wird?«

»Aber – –«

»Gibt's morgen irgend was wirklich Ernsthaftes im Arbeitshaus?«

»Natürlich! Immer! Nummer 3701 hat Türknöpfe gestohlen, nur um in Übung zu bleiben, sonst war nichts Abnehmbares da. Nummer 3921 steht in Heroinverdacht. Nummer 3966 ist plötzlich religiös geworden und hat der Vorsteherin einen Brief geschrieben, der Erzengel Gabriel hätte gesagt, ich hätte völlig unrecht. Mrs. Keast, meine Stellvertretende, ist wieder mal tief gekränkt, weil ich so kurz angebunden war, und ihre Nasenspitze ist röter als je. Das neue Kochrezept für Haschee taugt nichts. Die Pfingstbrüder wollen in der Kirche Gottesdienst abhalten, zu der für die Messe festgesetzten Zeit, und wir sind doch ein demokratisches Land, und was soll ich machen – dem Papst kündigen? Ernsthaft? Weiß Gott ja!«

»Dann können wir ja weiterfahren. Ich brauch morgen überhaupt nicht aufs Gericht, und, wenn es nicht drauf ankommt, ob ich müde werde oder nicht, dann wird das natürlich fraglos ein beruhigendes Gefühl für Sie sein.«

Seine Hände lagen anscheinend ohne Anstrengung auf dem Rad. Er fuhr, wie andere Leute essen. Er nahm die Augen keine Sekunde von der Straße, aber ohne gewaltsame Spannung. Sie fragte sich – wie kam sie dazu, an ihn zu denken, das hatte sie doch jahrelang nicht getan? – sie fragte sich, ob Adolph Klebs so fahren würde, wenn er noch lebte.

Sie hatte keine Ahnung, wo sie waren, sie wußte nur: irgendwo auf Long Island. Sie hatte nicht das Gefühl, diese Straße je gesehen zu haben; es war eine Straße aus dem Film, ohne geographische Beziehung, ohne Realität. Nichts war zu erkennen außer den sandigen Einschnitten, die mit Kiefernnadeln bestreut waren, den Tankstellen, Frühstücksbuden, einsamen Häusern, die alle sinnlos nach hinten vorbeistürzten. Manchmal tauchten rote Schlußlichter vor ihnen auf; im Nu waren sie hinter ihnen außer Sicht, scheinbar ohne daß Barney den Volant bewegt hatte. Einmal, drei Sekunden lang, erschien im Scheinwerferlicht ein geparkter Wagen und auf seinem Vordersitz ein Mädchenkopf an einer Männerschulter. Da zog Barney sie an sich, aber er sah sie nicht an und versuchte nicht, sie zu küssen.

Er sprach, abgebrochen:

»Ich bin froh, daß ich Sie getroffen habe, besonders heut nacht. Ich hab Sorgen. Ich muß vor eine Untersuchungskommission. Ein neuer Legislaturausschuß. Sie müssen wissen, ich habe eine Menge Geld verdient, ich glaube, auf ehrliche Weise. Ich will nicht behaupten, daß ich nicht gute Tips für die Börse bekommen hätte, aber ich glaube nicht, daß ich sie je mit einer Rechtsbeugung bezahlt habe. Meine Amtsführung als Richter scheint mir hieb- und stichfest. Aber die Publizitätshunde könnten beweisen, daß irgendein Fehler, den ich gemacht habe, reine Korruption wäre. Und all die Jungs, die ich habe einsperren lassen, werden sich vielleicht freuen, wenn die Presse in meinen Privatangelegenheiten herumschnuppert und herumschnüffelt! Es macht mir Sorgen. Es ist verdammt tröstend, Sie hier zu haben – als ob Sie alles verständen, ohne daß ich es Ihnen zu sagen brauche, Ann.«

»Liegt irgend etwas gegen Sie vor?«

»Ja: folgendes. Ich bin immer völlig unbekümmert in meinen privaten Bekanntschaften gewesen. Ich kenne Spieler, große Bootlegger, Großschieber, Inhaber von Schwarzen Börsen, alle möglichen zweifelhaften Charaktere, und ich spiele Karten mit ihnen und trinke mit ihnen. Ich würde jeden von ihnen, wenn es sein müßte, a tempo einsperren lassen – oder ich hoffe wenigstens, ich würde es tun – aber bis sie angeklagt sind, sind sie meine Freunde. Ich finde sie bedeutend amüsanter als Rechtsanwälte, die Karten spielen und in die Oper gehen. Aber meine kleinen Seitensprünge geben den Untersuchern eine schöne Menge Schlüssel in die Hand, die gar nicht da sind. Sind Ihnen meine Freundschaften unangenehm – wenn Sie in Betracht ziehen, daß ich Sie heute abend mit einiger Heftigkeit in diesen erlauchten Kreis aufgenommen habe?«

»Nein.« Sie dachte nach. »Wirklich nicht. Mein Geheimnis als Gefängnisleiterin – und wahrscheinlich wäre es mein Ruin, wenn irgend jemand außer Ihnen und Malvina Wormser davon wüßte – ist, daß ich die Entdeckung gemacht habe, daß mir die Gefangenen sympathischer sind, ja, daß ich sie mehr bewundere als die meisten Aufseher und Wärter. Manche Gefangenen sind wirklich schlecht. Schmierig. Aber so viele sind nur abenteuerlustiger gewesen als die anderen – sie wollten nicht für ihr ganzes Leben ins Kleidernähen und Kassieren abrutschen. Unten im Süden kannte ich ein entzückendes Mädchen, eine gewisse Birdie Wallop – ich habe gehört, sie hat jetzt ein gutgehendes Restaurant in Spokane. Die kam immer zu mir – –«

Eine Viertelstunde lang sprach sie von Birdie. Dann brach sie ab und sagte fragend: »Ist es nicht ein bißchen reichlich spät – Barney? Ich kann nicht an meine Uhr. Wohin fahren wir?«

»Ja. Ich fürchte, es ist Zeit umzudrehen. Aber wir sind schon beinah draußen an meinem Landhaus. Noch zwei Meilen. Wir wollen da haltmachen und uns ein bißchen kalte Pute und eine Flasche Bier aus dem Eisschrank holen. Das Haus ist so gut wie unbewohnt – meine Frau und die Mädels (zwei Töchter – jetzt sind sie junge Damen) – die sind in Europa, und ich gehe nur gelegentlich zum Wochenende hinaus. Aber etwas zu essen wird da sein, und wir können uns aufwärmen, ehe wir zurückfahren.«

Sie wußte, sie sagte sich, daß er die ganze Zeit mit aller Schlauheit seinem Bau zugestrebt war. Sie hatte das Gefühl, daß sie empört sein müßte. Sie konnte nicht. Er gefiel ihr, mit Haut und Haaren.

Sie war gespannt, was für ein Haus er hätte – ein bunt gestrichenes kleines neues Bungalow, ein schäbiges Landhaus im Kolonialstil oder einen vornehmen Herrensitz mit Mansardendach und Stuckwänden. Es war ihr gleichgültig.

Die zwei Meilen dauerten bei ihrer Geschwindigkeit zweieinhalb Minuten, und während sie sich noch den Kopf zerbrach, bogen sie zwischen Betonpfeilern ein, knirschten über den Kies einer Viertelmeile kurvenreicher Auffahrt und hielten vor etwas, das ein riesiges Haus im georgianischen Stil aus Ziegeln und Kalkstein zu sein schien. Sie meinte, Barney würde klingeln und dann von einem Butler und Dienern empfangen werden. Aber er ging mit ihr zu einer kleinen Seitentür und durch einen weißgestrichenen Korridor in eine Küche aus dem Paradiesestraum einer Hausfrau – Linoleumboden, kanariengelbe Kachelwände, langer Gasherd, Kohlenofen mit einer Haube, Spültisch aus Monelmetall, und an den Wänden eine Familie kupferner Kessel, vom Großvaterkessel bis zum Baby, zweifellos aus Frankreich importiert.

Ein gut zwei Meter breiter Eisschrank, elektrisch.

Darin war Bier, ein kaltes Huhn, eine kalte Ente, Kaviar; und in der Speisekammer ein riesiger Kasten mit englischen Biskuits.

»Für Bier ist es zu kalt, finden Sie nicht?« sagte Barney. »Ich werd Ihnen eine Tasse Tee machen. Mögen Sie?«

»Das wäre herrlich! Ich bin kalt bis auf die Knochen.«

»Ich wollte, es wär nicht so spät; dann würde ich Ihnen ein ganzes Essen kochen. Ich bin vielleicht als Jurist ein Analphabet, und im Handball kann mich sogar ein Harvardmann schlagen, aber ich bin verdammt der beste Koch außerhalb des Colony Restaurants.« Die Art, wie er das Gas andrehte, es anzündete, nach dem Teekessel griff, seine berufsmäßige Sicherheit war der Beweis für seine Worte. »Von meinen Mulligan-Stews sprechen sogar die besten Barkellner mit Ehrfurcht, und mein Sauerkraut mit Ananas hat vertriebene deutsche Fürsten dazu gebracht, Tränen von reinem Löwenbräu zu weinen.«

Er lehnte es ab, sich von Ann helfen zu lassen. Russell hätte es bestimmt angenommen. Sie merkte wieder einmal, daß es eine Sage ist, die weichlichen Männer wären am »tüchtigsten im Haushalt«. Sie konnte sich Barney Dolphin als Lagerkoch, als Kompaniekoch, als Schiffskoch vorstellen und sich denken, daß es ihm Freude machte, während Russell in Küchen herumspielte und gähnend im Weg stand. Barney war in Hemdsärmeln, sie bemerkte seine kräftigen Schultern. Jetzt war ihr warm, sie saß auf einem hohen Stuhl und sah ihm glücklich zu. Er machte appetitliche Sandwiches mit Huhn und röstete Toast für den Kaviar. In zehn Minuten hatte er den Imbiß fertig, sie verzehrten ihn am Küchentisch, nicht sehr gesprächig, und tauschten erfreuliche Skandalgeschichten über Richter und Gerichtsbeamte und Gefängnisleute aus.

Die Ellbogen auf dem Tisch, das Kinn auf den Händen, sah er ihr durch die Augen hindurch ins Gehirn.

»Es ist kalt draußen, Liebling. Es ist spät. Wollen wir nicht heut nacht hierbleiben? Wir können morgen so früh wie Sie wollen losfahren – oder so spät Sie wollen.«

Sie hätte protestieren müssen, oder wenigstens so tun. Aber sie wollte dableiben. Nach Jahren der Einsamkeit war sie in Barney Dolphins Gegenwart auf seltsame Weise zu Hause. Sie vermied seine Augen, sie trommelte mit ihrer Gabel. Unpersönlich hörte sie sich sagen: »Na schön.«

Er kam um den Tisch herum, um sie zu küssen, mit einer professionellen Sicherheit, die sie bezauberte; dabei hatte sie das Gefühl, daß sie hätte entsetzt sein müssen. Sie gingen den weißen Korridor entlang in eine Eingangshalle mit Porträts, die ihr alt und hübsch vorkamen, und dann die Treppe hinauf. Aber da blieb sie beunruhigt stehen. Auf dem Treppenabsatz, von einer Soffittenlampe beleuchtet, hing das Porträt einer Frau, so kühl, klar, schlank und stolz, als wäre sie aus Bergkristall gemacht, und neben ihr zwei Mädchen, fragil und hochmütig.

»Ist das Ihre Frau?« fragte Ann. Ihre Stimme klang betroffen.

»Ja. Mona. Und die Mädchen. Sehen gut aus, glaub ich.« Seine Hand drängte sie nach oben. Er führte sie in ein Schlafzimmer, das wie eine Ecke im Petit Trianon aussah, mit einem allzu farbenfrohen Badezimmer daneben. Der Toilettentisch bestand aus Glas und Spitzen und – sie hatte plötzlich einen Abscheu davor – riesigen Schleifen von rosa Band.

»Das ist doch nicht Ihr Zimmer, Barney?«

»Nein. Nein. Wirklich nicht. Es ist ein Gästezimmer. Und ich muß schon selber sagen, ich finde, es sieht aus wie das Boudoir einer ausgehaltenen Frau. Ich bin nicht schuld an all dem verzierten Zeug. Aber das Bett hat jedenfalls eine fabelhafte Matratze. Ich werde Ihnen etwas Nachtzeug bringen.«

Als er mit einem Stoß von Sachen, Schlafrock, Pyjamas, Coldcream und ein riesiger Badeschwamm, zurückkam, war sie wieder in dem Abendcape, das sie in der Küche abgelegt hatte. Sie saß mit gekreuzten Beinen auf der Bank vor dem Ankleidetisch, den Rücken zum Tisch, und starrte, den Ellbogen aufs Knie gestützt, ins Zimmer.

»Hast du Kummer, Liebling?« Seine Stimme hüllte sie ein, liebkosend wie ein warmes Bad.

»Nein, aber – – Ach, Barney, es ist ein bißchen plötzlich, aber ich fürchte, ich hab dich schrecklich gern. Wehrlos, beinahe! Ich glaube, du hast mich auch gern.«

Sein Kuß zeigte ihr, daß er sie äußerst gern hatte, und daß irgend etwas in dieser Angelegenheit getan werden mußte.

»Aber hier geht es nicht«, beharrte Ann. »Es ist Monas Haus, so ganz und gar ihres. Wenn wir Irrfahrer wären, die sich durch Zufall irgendwo in einem Gasthaus treffen, würde es mich nicht stören. Aber ich kann sie nicht verletzen, Barney, und es kommt mir so vor (vielleicht ist es idiotisch) daß ihr Wesen hier überall ist. Ich kann sie nicht betrügen, nicht ganz so.«

»Hör mal. Willst du für ein Wochenende mit mir wegfahren, nächste Woche?«

»Ja-a – ja ich will!«

»Dann schlaf schön und morgen früh werde ich dich um acht wecken – da hast du fünf Stunden – und dann kannst du dich umziehen und um halb elf in deinem Amt sein, und unterwegs werden wir Pläne machen, mein Liebling!« Auf seinen Gutenachtkuß murmelte sie, ohne ganz zu wissen, daß sie es sagte: »Mein liebes Herz!«

Sie träumte, sie stände als Gefangene vor Adolph Klebs in der Richterrobe. Er sah ironisch auf sie herunter. Sie liebte ihn und hatte ein bißchen Angst vor ihm, war jeder seiner Launen völlig ausgeliefert.

Als sie aufwachte, saß Barney Dolphin im Morgenlicht auf dem Rand ihres Bettes. Sein Arm im Pyjamaärmel lag warm um ihren Hals, aber sein Morgenkuß war fast enttäuschend unschuldig, und er sagte nur: »Steh auf, mein Liebling, und dann weg zu den kleinen Verbrechern.«

Es waren Badekristalle da, anscheinend Geranin, die sie nicht kannte und wunderbar angenehm fand.

Ein Aushilfsdiener brachte ihnen Frühstück, und als Barney ihr über den Toast und Honig und Kaffee hinweg zulächelte, hatte sie das Gefühl, daß sie seit Jahren zu ihm gehörte.


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