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46

Dr. Ann Vickers entließ (nur nannte sie es »An die Luft setzen«) ihre Stellvertretende, die gute Mrs. Keast.

»Ich geb Ihnen eine Gelegenheit, zurückzutreten – um mich so feig auszudrücken, wie Chefs das immer tun, Keast. Wenn Sie nicht zurücktreten, brech ich Ihnen das Genick. Seitdem ich hier bin, haben Sie von der ersten Minute an gegen mich intrigiert. Ich glaube nicht, daß Sie wirklich finanzielle Durchstechereien gemacht haben. Sie haben bloß versucht, mir den Hals abzuschneiden. Sie brauchen also nur das da zu unterschreiben – es ist Ihr Rücktrittsgesuch, und zwar sehr gut und bescheiden abgefaßt; das weiß ich ganz genau, denn ich hab es selber aufgesetzt.«

»Sie meinen, daß Ihnen das gelingen kann, Miss Vickers? Ich habe Freunde – –«

»Ja, ich weiß; Sie waren mit Staatssenator O'Toolohan gestern abend um elf Uhr in seiner Wohnung zusammen. Nein, ich habe keine Privatdetektive für mich arbeiten lassen, aber ich hab ein paar gute Freunde unter den städtischen Polizisten. Ich werde wohl so ziemlich alle Einzelheiten Ihrer Intrige schriftlich haben – den Originalakt hebe ich übrigens nicht hier in meinem Amt auf, es hat also gar keinen Zweck, daß Sie jeden Abend, wenn ich weg bin, das Codewort zu meinem Privatsafe zu finden suchen!«

»Sie – – Jetzt passen Sie einmal auf, Miss Vickers – –«

»Dr. Vickers bitte!«

»– ich mach mir einen Dreck daraus, was Sie Ihrer Meinung nach gegen mich in der Hand haben. Aber was ich gegen Sie in der Hand habe! Würde es sich nicht ganz einfach blendend machen, Doktor Vickers, Direktor Vickers, Mrs. Spaulding oder was für Namen sonst Sie haben, wenn es rauskäme, daß Sie die Geliebte eines Gauners von Richter sind, der in Manawassett sitzt? Los! Erheben Sie Anklage gegen mich und warten Sie ab, was für Anklagen gegen Sie dabei herauskommen! Zurücktreten werd ich nicht!«

»Keast, das beweist nur, daß Sie nie begriffen haben. Es ist mir piep egal, was für Anklagen Sie gegen mich haben. Es ist mir ganz wurst, ob ich meine Stellung hier verliere, wenn ich nur einen Krebserreger wie Sie los werde. Ich würde mir gar nichts daraus machen, ins Geschäft zu gehen und Geld zu verdienen. Was ich kann … Übrigens, warum sind Sie nicht wegen Mord angeklagt worden, damals, wie das Mädel gestorben ist, das Sie in der Fairlea Cottage-Besserungsanstalt haben an den Daumen hochbinden lassen? Wissen Sie zufällig, daß der Justizminister, der Sie damals geschützt hat, vor zwei Monaten gestorben ist? Also, machen wir Schluß mit dem Gewäsch. Unterschreiben Sie hier, und wir bleiben gute Freunde, ohne alles Gerede.«

Mrs. Keast unterschrieb.

Ann saß an ihrem Schreibtisch, kritzelte auf dem Löschpapier herum und grübelte: »Widerlich! Dramatisch wirst du! Ist das die richtige Art, eine Beamtenschaft zu leiten? Wie in einem billigen Rührstück!

Nein! Ich werd mich nicht vor mir entschuldigen! Rührstücke kommen heutzutage vor! Gangster bringen Bootleggers um. Ministerpräsidenten werden ermordet. Flieger stürzen auf Landhäuser ab und verbrennen die alten Damen darin. Säuglinge werden entführt und ermordet. Könige werden aus ihren Ländern hinausgejagt und verhungern in kleinen Hotels. Methodistenbischöfe werden wegen Börsenspekulationen und Wahlschiebungen angeklagt. Milliardäre begehen Selbstmord und beweisen, daß sie Fälscher waren. Fünf Jahre alte Jungen in anständigen Vororten spielen Gangster und bringen dreijährige Jungen um – und Gangster, die eben jemand spazierengefahren und niedergeknallt haben, eilen nach Hause, um ihrem lieben alten Mütterlein zum Geburtstag Stiefmütterchen mitzubringen. Ein magerer kleiner Hindu, der sich nur von Ziegenmilch nährt, bringt das ganze britische Weltreich in Verlegenheit. Vierzehnjährige Negerjungen werden wegen Notzucht, die sie gar nicht begangen haben, zum Tode verurteilt, und Richter des Obersten Gerichtshofs bestätigen feierlich das Urteil. U-Boote, die nicht wieder heraufkommen wollen, und Flugzeuge, die nicht oben bleiben wollen. Hundertstöckige Gebäude, und fünfzehnjährige Jungen, die auf öffentlichen Straßen Benzinlokomotiven mit hundertfünfundzwanzig Stundenkilometern fahren und an manchen Tagen tatsächlich niemand töten. Ein Volk von hundertzwanzig Millionen Menschen, das sich von ein paar Fanatikern das Bier entziehen und zu giftigern Fusel verurteilen läßt. Menschen, die als Mörder bekannt sind, laufen am hellen lichten Tag herum und dinieren mit Richtern. Britische Pairs kommen wegen Bilanzfälschungen ins Gefängnis. Und ich glaube, ich könnte dieses unglaubhafte Rührstück, daß Barney im Gefängnis ist, nicht ganz durchhalten, wenn ich nicht selbst ein kleines Rührstück mit der Keast aufführen würde.

Ich wollte, sie hätte den Mut, mich anzugreifen. Ich wäre stolz, wenn die ganze Welt wüßte, daß er mein Geliebter ist.«

 

Sie besuchte die staatliche Strafanstalt in Manawassett.

Sie, die Gefängnisexpertin, sah nichts Entsetzliches in den düsteren Mauern, die, gleich einem Grabmal für die lebendig Toten, bis zu den Juligewitterwolken aufragten; nichts Einschüchterndes in den Wachtposten, die, das Gewehr im Arm, auf den Mauern standen; der Gedanke daran, daß Barney, ein Verbrecher, ein Sträfling, hier eingeschlossen war, hatte nur wenig Schrecken für sie. Sie kannte so viele Sträflinge, daß die meisten von ihnen für sie nichts anderes waren als ihre übrigen Freunde. Aber ihr kam von neuem die alte Erkenntnis, wie völlig idiotisch und sinnlos das alles, wie kindisch es von diesem Übersäugling, dem Staate sei, zu glauben, daß Steinmauern, stahlverwahrte Tore, schlechtes Essen und die Bewachung durch Wärter, die zu dumm waren, um Straßenbahnführer zu werden, in magischer Weise brave Verbrecher wie Barney Dolphin lehren könnten, Vorsänger in der Vereinigung Christlicher Junger Männer zu werden.

Sie schickte ihre offizielle Karte hinein und wurde vom Direktor in seinem Dienstzimmer empfangen. Auf dem Weg dahin überkam sie eine plötzliche Anwandlung von Angst für Barney, als sie einen Zellenkorridor entlangblickte und den alten Gestank nach Desinfektionsmitteln, Schwaben, schlechtem Essen und Erbrochenem in die Nase bekam, den sie in der Sauberkeit des Arbeitshauses schon nahezu vergessen hatte.

Der Direktor, ein alter Bekannter von ihr, war besser als seine Anstalt. Sie hatten bei Gefängniskonferenzen gemeinsam gegen die Todesstrafe gekämpft, für die reichlichere Erteilung von Bewährungsfristen, besser bezahlte Überwachungsbeamte und mehr Erziehung in den Gefängnissen gefochten. »Das ist ja eine großartige Überraschung, Dr. Vickers! Wollen Sie sich unseren Laden ansehen?«

»Später gern, aber – – Es verstößt wahrscheinlich ein bißchen gegen die Regeln, aber ich möchte mit Richter Dolphin sprechen, unter vier Augen.«

»Hm. Ja. Gegen die Vorschriften. Er soll mit Besuchern nur im Sprechzimmer zusammen sein, aber da wir beide alte Kampfgenossen sind, werd ich's schon einrichten können … Sprechen Sie hier mit ihm … Ich muß ohnedies auf eine halbe Stunde weg. Sie werden nicht gestört werden.«

Sie überlegte, wieviel der Direktor wohl wissen mochte, aber sie überlegte gleichgültig, ohne etwas zu befürchten. Es gab nur eines in ihrem Leben, dessen sie sich niemals schämen konnte – ihr Gefühl für Barney.

Der Direktor ließ Barney holen (es war ein recht trauriger Augenblick für Ann, als sie hörte, wie er zu einem Aufseher sagte: »Schicken Sie Nr. 37 896 herauf!«) und ließ sie im Zimmer; die Tür zum Vorderbüro, in dem fünf oder sechs Gefangene in kläglichen, schlotternden grauen Uniformen Schreibarbeiten machten, blieb offenstehen. Ann hörte die Tür draußen aufgehen, sah die Schreiber aufblicken und hörte sie rufen: »Nanu, da ist ja der gute alte Richter, der Schweinehund, der mich in den Kasten geschickt hat, wie der jetzt aussieht!« – »Guten Morgen, Euer Unehren!« – »Na, Süßer, jetzt siehst du aber nicht aus wie n Richter, jetzt siehst du aus wie n Gangster!« und, ganz einfach und freundlich: »Du scheinheiliger Gauner!« Barney eilte, mit gesenktem Kopf, ohne sie zu sehen, in das Dienstzimmer. Auch er war in farb- und formlosem Grau; er war unrasiert; seine Hände hatten Schwielen und waren schmutzig. Als er aufblickte, brummte er überrascht: »Oh! Davon hat man mir nichts gesagt!« Er schloß die Tür, blieb zaudernd stehen. Dann waren ihre Arme um ihn, sein Kopf ruhte schwer auf ihrer Schulter, und sie schwatzten im Schrecken ihrer Freude.

 

»Ich werde auf dich warten, Barney und Mat sagen, daß du wiederkommst. Ich werde so viel Geld verdienen, wie ich nur kann. Ich werde Piratenkopf bereithalten – wenn du hinkommen willst!«

»Weiß Gott, daß ich kommen will, so rasch wie es nur geht, aber sieh doch, Ann; willst du, daß Mat einen Schurken zum Vater hat?«

»Den Schurken hat er doch schon zum Vater! Und außerdem ist es gar keiner!«

»O ja, ich bin einer – ich war ganz reichlich und ordentlich schuldig, zum mindesten technisch, und ein Mann, der egoistisch genug ist, eine hohe Stellung einzunehmen, ob er nun Richter oder Beamter ist, Chirurg oder Bischof, hat kein Recht, auch nur technische Fehler zu machen. Ich hab's verdient. Sieh einmal her!«

Barney saß ihr gegenüber. Mehr als sein zerfurchtes Gesicht, mehr als der Schmutz auf den weichen, glatten Händen, die einst sein Stolz gewesen waren, tat es ihr weh zu sehen, wie schüchtern er auf der Kante des Stuhles saß. Und er sprach nicht, wie früher, kühl, sondern übereifrig, wie einer, der sich alles in der Einsamkeit überlegt hat und nun darauf brennt, so viel davon zu erklären, wie er nur kann, bevor sein Zuhörer überdrüssig wird:

»Ich glaube, ich wäre in dem Kanalisationsprozeß zu derselben Entscheidung gekommen, auch wenn sie mir nicht, wie sie es nannten, ›ihre Anerkennung ausgedrückt‹ hätten – ich glaube wenigstens. Und ich bin mir besser vorgekommen als viele andere Richter. Nie ist es jemand gelungen, mich zu bestechen, damit ich eine Entscheidung fälle, die ich für unrecht hielt – und du kannst dir ganz einfach keine Vorstellung davon machen, wie oft sie das versucht haben, in unserem gesegneten Zeitalter des Rackettwesens. Kein Bootleggerkonzern hat mich dazu bringen können, einen Gauner oder einen Mörder laufen zu lassen, oder die Kommission für Bewährungsfristen daran zu verhindern, daß sie einen Mann, der rückfällig geworden ist, wieder ins Loch steckt.

Aber ich weiß, daß ich ein Schwächling von der allerschlimmsten Art war, ein Kompromißler. Ich bin nicht moralisch geworden, ich bin einfach realistisch geworden. Ich hätte entweder ein völlig konsequenter Ehrenmann sein müssen, der von Leuten, die mit einem Prozeß zu tun haben, auch nicht einmal eine Fünfcent-Zigarre annimmt, oder ein völlig konsequenter Schieber, der ganz offen sagt, daß die meisten Beschäftigungen heute, vom Zahnpasteverkaufen bis zum Predigen im Rundfunk, ganz einfach aus schmutzigen Schiebungen bestehen, und daß ein Narr ist, wer nicht alles nimmt, was er kriegen kann. Ich war weder das eine noch das andere. Ich war ein anständiger Mensch … und spielte Billard mit den bekannten Sprachrohren großer Unterweltskanonen und hatte, wie so viele Reine Bürger, einen bekannten Mörder zum Bootlegger. Ich war weder Wolf noch Schäferhund. Gerade das kotzt mich ja so an: die Schwäche und Behutsamkeit daran. Das will ich anders machen, wenn ich herauskomme. Ich will entweder ein Gangster sein oder ein Heiliger – soweit der Sohn des alten Mat Dolphin überhaupt ein Heiliger werden kann. Und wenn du wirklich auf mich warten kannst (ach Gott, hoffentlich tust du's – aber du darfst nicht, um deinetwillen – aber hoffentlich tust du's!) und wenn du wartest, werde ich mir ein bißchen Heiligkeit zulegen müssen. Du hast ja selbst auch Anlagen dazu, abgesehen von deiner leichten Disposition zu illegitimen Kindern – du liebes Geschöpf!«

»Ich werde warten! Ich werde am Gefängnistor sein! Versuch's nur, mich zu verlieren!«

»Weißt du, ich habe nicht mehr viel Geld – die Depression und alles andere. Einiges habe ich mündelsicher angelegt, und damit ist für Mona und die Mädchen gesorgt. Ich brauche nie wieder an sie zu denken. Aber für uns und Mat – da sieht es nicht so gut aus. Ich werde vielleicht gegen zehntausend aus dem Zusammenbruch gerettet haben. Wir könnten nach dem Westen gehen und eine Farm oder so etwas Ähnliches kaufen. Aber die Inseln Griechenlands, die Inseln Griechenlands, wo die feurige Sappho liebte und sang, die, fürchte ich, werden wir nie wieder sehen.«

»Was mir schon daran liegt! Ich will nur eines sehen – wie du mit Mat spielst, auch wenn ich eine Frau mit Beruf bin, eine Gefangenenwärterin! Ach, jeden Tag kommt es jetzt über mich, es zerreißt mich wie Geburtswehen, wenn ich daran denke, daß ich eine Gefängnisaufseherin bin, und du ein Gefangener!«

»Eines ist sonderbar – um darauf zurückzukommen, was ich sagte, daß ich ein so guter Richter wäre. Jetzt, wo ich einer von ihnen bin und sie gern hab (auch die netten kleinen Witzbolde, die mir unter die Nase reiben, daß ich Richter war, und daraus mache ich ihnen, weiß Gott keinen Vorwurf) – jetzt sehe ich, was für anständige Burschen viele von den Sträflingen sind, und mir wird klar: wenn ich mir am strengsten und rechtschaffensten vorkam und die härtesten Urteile fällte, dann war ich vielleicht am bösartigsten, und wenn ich, ganz ohne alle Ethik, sentimental und oberflächlich war, da war ich vielleicht am nächsten daran, gerecht zu sein. Ich habe nie gedacht, daß ich ein Gefängnisbruder sein würde. Ich habe nie daran gedacht, daß ich verzweifelt in eine kluge Frau verliebt sein würde. Ich habe nie daran gedacht, daß ich jemals die erhabene Gewalt der Richter in Frage stellen würde, darüber zu entscheiden, ob ein Mensch acht oder zehn oder fünfzehn Jahre in einer Moderhölle verbringen soll. Wie es scheint, habe ich eben überhaupt nie gedacht … Ach, ich schwatze ununterbrochen. Ich habe die beiden letzten Monate geschwiegen, in Zellen! Erzähl mir mehr von Mat, mehr von dir, mehr – mehr!«

 

»Deine armen Hände – sie sehen so zerarbeitet aus. Du solltest in einem der Büros oder in der Bibliothek sein.«

»Nein. Mir ist beides angeboten worden. Ich habe das Gefühl, daß das eine Art Schiebung wäre. Ich will Buße tun. Ich nähe Strohsäcke. Es hilft nicht viel! Buße! Ich habe den Leuten immer davon vorgeredet. Überhebliche, unnatürliche, von Priestern geschaffene Selbstgerechtigkeit! Trotzdem, ich will keine Vergünstigungen. Ich kann alles auf mich nehmen, was sie mir aufbrummen. Wirklich, die einzige Schiebung, die ich jetzt haben möchte, ist, daß ich dich so oft sehen will, wie es nur geht. Rasch! Es kommt jemand!«

Ein furchtbarer Kuß, bevor der Direktor hereinkam.

Von nun an sah sie ihn allmonatlich einmal, und jeder Monat dauerte länger als der vorhergehende; sechs Jahre, das schien eine bis zur Hysterie unerträglich lange Zeit zu sein, und die grauen Stellen in ihrem Haar mehrten sich.


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