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Vom ersten Tage an, den sie in Copperhead Gap war, führte Ann einen Kampf um die Säuberung der Frauenabteilung im Gefängnis. Sie machte die Entdeckung, daß Jessica Van Tuyl von ihrer Zelle aus ebenso viel erreicht hatte, wie sie von ihrem Zimmer aus zuwege bringen konnte. Mrs. Van Tuyl hatte Notizen für die Zeitungen hinausgeschmuggelt, in denen sie darüber berichtete, daß das muffige Hafermehl mit muffigen Würmern gespickt war, daß ein Mädchen von vierzehn Jahren und eine Syphilitikerin im dritten Stadium mit eiternden Geschwüren in einer Zelle zusammengesperrt waren, daß Frauen ausgepeitscht wurden, weil sie ihr »Pensum« in der Werkstatt nicht fertig bekommen hatten. Davon war immerhin so viel gedruckt worden, daß die Verantwortlichen unruhig wurden – einen Augenblick lang.
»Ich wollte, wir könnten dies Weibsbild, die Tuyl, loswerden. Können wir sie nicht begnadigen lassen?« hörte Ann Mrs. Bitlick seufzend zu Cap'n Waldo sagen. »Bis dahin werden wir wohl so tun müssen, als ob wir Reformen einführen wollten. Bißchen frisches Fleisch ausgeben und die kranken Frauen isolieren, mehr oder weniger.«
Was, so marterte sich Ann, hatten kümmerliche Reformen für einen Zweck, solange der Staat dieses modrige alte Gebäude und diese Sklaventreiber duldete?
Aber sie war eine wohlausgebildete und unheilbare »Einmischerin« und quälte, soweit sich das mit ihrem Schwur, den Mund zu halten, vereinigen ließ, tagtäglich Mrs. Bitlick und Cap'n Waldo mit Vorschlägen. Mit jener argumentierte sie, diesem schmeichelte sie, und Dr. Slenk gegenüber machte sie Andeutungen, »es würde etwas herauskommen«. Sie überredete sie dazu, bessere Nahrungsmittel auszugeben. Ohne Beweise zu haben, war sie überzeugt davon, daß sie alle drei Schiebungen mit den Nahrungsmitteln machten; daß sie den größten Teil der Sahne von der Milch aus der Gefängnisfarm an sich brachten und verkauften; daß sie Rückzahlungen von den Gemüsehändlern und Schlächtern bekamen.
Die Gefängniskost war schlecht; ihre Minderwertigkeit und ihre Eintönigkeit hielten sich so ziemlich die Waage. Woche für Woche gab es immer wieder Maisbrei, Haschee, rohen Speck, Schmorfleisch, Kartoffeln, gebackene Bohnen, Brot mit Maissirup, Tee aus Weidenblättern, Würstchen aus schmutzigen Schlächtereiabfällen und geschmorte Pflaumen; es gab niemals, nicht ein einziges Mal, Obst oder frisches Gemüse, nicht einmal Vollmilch zum Trinken. Im Haschee waren manchmal Maden, im Brot Mehlwürmer, und die geschmorten Früchte waren verdorben. Alles schmeckte ranzig. Alles schmeckte ekelhaft. Und die Gefangenen hungerten munter vor sich hin, bis zu ihrem sonstigen Haß gegen das Gefängnis, der sie zu dem Entschluß brachte, es dem Staat durch neue Verbrechen heimzuzahlen, noch die mörderische Verzweiflung hinzukam, die durch unaufhörlichen Hunger und unaufhörliche Verdauungsstörungen entsteht.
Mit Andeutungen, mit Bettelei, schließlich mit der Drohung, fortzugehen und die Außenwelt über diese Dinge zu informieren, zwang Ann Mrs. Bitlick (und es war seltsam, daß das offizielle Konto für Ernährungskosten nicht anschwoll) zu Zugaben: frisches Gemüse, Mais und grüne Bohnen; alle zwei Wochen eine Orange; einmal in der Woche Kakao; gelegentlich Zitronensaft, Äpfel und geschmorte Aprikosen. Die Milch für die Küche wurde plötzlich auf geheimnisvolle Weise fetter.
(Nach Mrs. Bitlicks Bemerkungen hätte man glauben können, daß die Kost jetzt so gut wäre wie bei Foyot.)
Nun nahm Ann sich die Ventilation und die allgemeine Sauberkeit vor.
Die Hauptschwierigkeit lag an den Arbeitskräften. Es gibt, mit wenigen Ausnahmen, nur zwei Arten von Gefängnissen: solche, in denen die Insassen vor Langeweile und Untätigkeit verfaulen, und solche, deren Insassen, bisweilen zugunsten auswärtiger Vertragsfirmen, bis zur Bewußtlosigkeit ausgebeutet werden. Im zweiten Fall sind die Gefängnisse schmutzig, weil die Gefangenen zu übermüdet sind, um sie sauberzuhalten; im ersten, weil sie zu faul werden.
Ann mußte einen Kampf um ein paar Frauen führen, die den guten Auftraggebern weggestohlen wurden, um die Korridore aufzuwischen und den angesammelten Schmutz und die Fusseln wegzuräumen, die die Ventilatoren am Ventilieren hinderten. Entmutigt mußte sie die ganze Geschichte mit Betteln, Andeuten, Schmeicheln, Drohen noch einmal aufziehen, um genügend heißes Wasser, genug Seife, Scheuerbürsten, Eimer, genug Insektengift und Rattenfallen zu bekommen. Um die Bewilligung von zwei Dollar für Seife entfaltete sich ein förmlicher Dardanellenfeldzug … die nächsten zwei Dollar zahlte Ann natürlich aus ihrer eigenen Tasche.
Dann machte sie Pläne für ein Frauen-Lazarett.
Später sollte Ann noch lernen, daß die beliebteste Entschuldigung für unhaltbare Zustände in Strafanstalten und Bezirksgefängnissen lautet: »Ach, es hat keinen Zweck, einen großen Sums darum zu machen; wir kriegen ja bald ein schönes neues Gebäude.« Einstweilen wurde sie durch diese Ausrede in Copperhead Gap gehemmt. Wie sollte sie den Beamten verständlich machen, daß es sich sogar für drei oder vier Jahre lohnen würde, kranke Frauen ebenso gut zu behandeln, wie man eine kranke Kuh behandelt.
Aber sie täuschte sich mit ihrer Annahme, daß Copperhead Gap niemals einen neuen und abgesonderten Flügel für die Frauen bekommen würde. Nach dem Jahr 1925, in dem Ann von Copperhead wegging, ist ein schönes neues separates Gebäude für Frauen errichtet worden, mit großen, hellen, luftigen Zellen, mit einem ausreichenden Lazarettsaal, mit wunderbaren Duschbädern. Die Frauen arbeiten nicht mehr für eine Hemdenfabrik, sondern in dem großen Küchengarten oder in Nähstuben mit Berufsschulung. Es ist schon vor einiger Zeit gebaut worden. Seine Erbauung liegt heute, 1932, sogar schon so weit zurück, daß es wieder schön überfüllt ist: zwei Frauen in einer Zelle, die für eine bestimmt war; von den Duschbädern ist die Hälfte verstopft und der Rest verschlammt; der schöne Ziegelfußboden im Eßsaal (gelegt von dem Schwager des Direktors Slenk) hat Risse, in denen die Schwaben nisten; dem wunderbaren Krankensaal fehlt es an einem Mikroskop, an ausreichendem Bettzeug, und im Winter an aller Wärme von dem Heizkörper (installiert von einem Vetter des Exgouverneurs Golightly); und die wirklich eleganten beiden Badezimmer neben dem Lazarett wollen einfach nicht funktionieren … Oberaufseherin ist immer noch Mrs. Bitlick … Da keine der Aufseherinnen viel Zeit zum Unterrichten hat, sitzen die meisten Gefangenen im Winter, wenn sie nicht mit Gartenarbeit beschäftigt werden können, untätig herum, und Mrs. Windelskate fängt schon an zu verkünden, es wäre viel besser gewesen, wenn sich die »sogenannten Reformatoren« nicht eingemischt, und ihnen lieber die gute, gesunde, charakterbildende Arbeit in der Hemdennäherei gelassen hätten.
Was Ann die größten Schwierigkeiten bereitete, war die, wie sie glaubte, subjektiv aufrichtige Überzeugung Cap'n Waldos, Mrs. Bitlicks und der anderen Aufseherinnen, daß die Zustände im Gefängnis wirklich nicht schlecht wären. (Was Dr. Slenk sah und empfand, war etwas anderes und zählte nicht mit – er war Politiker.)
»Ich hab mir gedacht, wir könnten wenigstens mal sauber machen«, hatte Ann taktvoll bei Mrs. Bitlick angefangen.
»Sauber? Was wollen Sie damit sagen? Es ist doch alles sauber!« meinte Mrs. Bitlick verwundert.
»Das stimmt nicht.«
»Also, das muß ich mir doch mal ansehen – – Ich muß aber wirklich sagen, ich weiß nicht, wie Sie auf solche Ideen kommen!«
»Schön, kommen Sie mit und sehen Sie sich's an.«
Nun zeigte Ann – und es ist wirklich zweifelhaft, ob Mrs. Bitlick diese Kleinigkeiten je vorher bemerkt hatte – was sie für Flecken auf dem majestätischen Bau von Copperhead Gap, Frauenabteilung, hielt. Die Nachteimer in allen Zellen hatten einen schwachen ekelerregenden Geruch an sich, der Tag und Nacht, jahraus, jahrein das Zellenhaus erfüllte. Die Tagesklosetts waren leck, und die Exkremente tropften auf den Fußboden. Für alle Frauen (sowohl zum Baden wie zum Waschen von Strümpfen und Unterkleidern – lediglich die Uniformen wurden in der Gefängniswäscherei gewaschen) gab es nur zwei Badewannen, beide aus Eisen, verrostet, und so schlecht montiert, daß das Schmutzwasser nie ganz ablaufen konnte. Das Bettzeug war größtenteils schwarz vor Schmutz und wurde gewöhnlich ungewaschen von der einen Gefangenen an eine »Neue« weitergegeben, so daß es manchmal von einer Gefangenen mit infektiöser Syphilis oder Tuberkulose im Spätstadium an ein Mädchen kam, das, wenn sie auch die Sitten des Landes verletzt haben mochte, doch jung, gesund und lebenslustig war. Die Matratzen steckten voller Wanzen. Wenige Zellen hatten jemals seit ihrer Erbauung einen Sonnenstrahl gesehen. Und wenn eine Kranke auf den Fußboden brach, was oft vorkam – der unausrottbare Gestank der Nachteimer allein genügte schon – dann war niemand da, um es aufzuwischen, außer der Patientin – sobald sie gesund wurde.
Mrs. Bitlick, die hinter Ann herging, machte ein überraschtes Gesicht, als sie gezwungen wurde, diese Einzelheiten zu sehen, die sie nicht öfter als täglich vor Augen gehabt hatte. Wieder in ihrem Dienstzimmer, war sie eine Weile still, dann sprach sie feierlich:
»Jawohl, vielleicht haben Sie recht. Ich glaube, wir müssen eine Reinigung vornehmen. Ich werde nochmal mit Dr. Slenk über die Reparaturen an diesen Klosetts sprechen. Ich hab letztes Jahr mit ihm darüber gesprochen, aber es ist uns wohl beiden entfallen. Aber Sie müssen folgendes bedenken, Miss Vickers: Sie und ich, wir sind an schöne saubere Wohnungen gewöhnt. Aber solches Viehzeug wie unsere Sträflinge, die kennen's einfach nicht anders – ich bitte Sie, denen macht das gar nichts aus!«
Ann war sicher, daß es viele Rauschgifte im Gefängnis gab – Heroin, Kokain, Morphium. Sie hatte Kittie Cognac im Verdacht, damit zu handeln; sie war nicht ganz frei von Mißtrauen gegen Dr. Sorella, dessen freundliche Schwäche vielleicht ebenso schädlich war wie Kitties böswillige Stärke. Aber sie nannte keinen Namen, als sie Mrs. Bitlick Meldung machte.
»Na schön«, sagte Mrs. Bitlick seelenruhig, »wenn Sie jemanden beim Handeln mit dem Zeug schnappen, melden Sie sie einfach, und wir sperren sie in die Dunkelzelle. Sie müssen son bißchen rumschleichen und die Augen offenhalten.«
Was sollte Ann machen? Sollte sie Lampenmacherin werden?
Von ausreichender körperlicher Untersuchung, von fachmännischer und geduldiger Behandlung der Rauschsüchte, der Geschlechtskrankheiten, der Tuberkulose oder des Wirrwarrs von Psychosen und Neurosen war überhaupt nicht die Rede. Die ärztliche Versorgung von neunzehnhundert Männern und hundert Frauen oblag Dr. Sorella; seine Hilfe bestand aus zwei unausgebildeten Lazarettgehilfen und, zeitweise, ein paar medizinischen Tagelöhnern aus Olympus City, in deren Augen Gefangene eine Art niederer Säugetiere waren, die man mit Chinin, Abführmitteln und Flüchen behandeln mußte. In nüchternem Zustand war Dr. Sorella ein intelligenter Mensch, aber er war oft betrunken.
Es ist nicht richtig, daß jeder, der als Unvorbestrafter mit lediglich amateurhaften Vorstellungen von Verbrechen nach Copperhead Gap kam, in dieser Universität der Verworfenheit neue und gerissenere Arten des Verbrechens sowie die Reize der Rauschgifte und der Prostitution kennenlernte und erfuhr, daß es seine Pflicht sei, Rache an der Gesellschaft zu nehmen, indem er das nächste Mal etwas noch Schlechteres tat. Nicht bei allen war das so. Etliche von ihnen waren zu betäubt vor Angst, um irgend etwas zu lernen. Aber es ist richtig, daß es keinen einzigen Menschen gab, der Copperhead Gap nicht kränker verließ, als er gekommen war, der nicht wütender darüber war und fähiger dazu, die Krankheit unter den guten Bürgern zu verbreiten, die ihn zu ihrem eigenen Unheil zu dem gemacht hatten, was er war.
Als Ann über den heimlichen Kokshandel Meldung erstattete, war Mrs. Bitlick nicht beleidigt. Das ödete sie bloß an. Aber als Ann zögernd die Frage aufwarf, ob man betreffs der Homosexualität in der Anstalt nicht etwas unternehmen könnte, da war sie beleidigt, verletzt, schockiert, entsetzt, ungläubig und methodistisch schlechthin. Ann wußte, warum Kittie Cognac es so eingerichtet hatte, daß sie eine Zelle mit Gladys Stout teilte; sie wußte, warum die gemeine alte Engelmacherin aus dem Ort mit den vielen Kindergräbern bei Catamount Falls so schmierig freundlich zu den jungen Taschendiebinnen war.
Mrs. Bitlick hörte sie entsetzt an, dann kreischte sie los: »In meinem ganzen Leben hab ich noch nie so was Abscheuliches gehört! Miss Vickers, ich sag so was nicht gern, aber Sie haben eine schmutzige Phantasie! Ich glaube, es ist besser, wenn Sie nicht länger hier in der Anstalt bleiben! Ich wollte, Sie gingen fort! Der Gedanke an Ihren Einfluß auf die Gefangenen macht mir Sorgen! Homo – – Ich hab das Wort mal gelesen, aber ich hab noch nie in meinem ganzen Leben jemand gesehen, der so schamlos war, es in den Mund zu nehmen!«
»Ach Quatsch!« sagte Ann und ging weg; von diesem Tag an verfolgte Mrs. Bitlick sie jedoch mit scheelen Blicken.
Nun wurde die Milch wieder dünn, und als sie das nächste Mal Hilfskräfte für die Reinigung der Zellen anforderte, wurden sie ihr verweigert. Sie wußte nicht recht, wie sie sich verhalten sollte; die Stärke der amtlich beglaubigten Gleichgültigkeit und des privilegierten Hasses war zu groß, als daß sie damit fertig werden konnte. Es dauerte einige Zeit, bis sie sich darein fügte. Sie hatte einen unklaren, wahrscheinlich aus der Romanlektüre stammenden Glauben daran gehegt, daß der entschlossene und moralische Held immer, im letzten Kapitel, das Unbesiegbare besiegen könne.
Es wäre erfreulich, wenn erzählt werden könnte: die Beamten standen ihr wohl feindlich gegenüber, mit einem Groll, der sich schnell zu offenem Haß auswuchs, die Gefangenen aber waren von lebhafter Dankbarkeit gegen sie erfüllt.
Das waren sie keineswegs. Eine Stunde lang freuten sie sich darüber, daß sie saubere Zellen hatten, und einen Tag lang waren sie glücklich über die abwechslungsreichere Kost … obwohl die meisten von ihnen als Zugabe Windbeutel mit Schlagsahne frischem Gemüse und Zitronensaft vorgezogen hätten. Dann vergaßen sie es.
Zu ihrem Glück war Ann eine berufsmäßige, ausgebildete Weltverbesserin. Sie hatte bei der Wohlfahrtsarbeit zwei Dinge gelernt: daß sie nicht auf »Dankbarkeit« rechnen dürfe, und daß Leute, die darauf rechnen, ewige Amateure und ewige Egoisten seien. Die Meinung der Leute, zu deren Gunsten sie »Reformen« betrieb, war ihr ebenso gleichgültig – also, nahezu so gleichgültig, wie einem guten Chirurgen die Ansicht eines Patienten über seine Technik ist.
Selbst der Haß ihrer Kollegen, denen sie mit so geringem Erfolg entgegenzuarbeiten versuchte, regte sie nicht sehr auf.
»Nein«, grübelte sie. »Es ist nicht wahr, daß die Frauen nicht ebenso selbstsüchtig, grausam und hart wie die Männer sind. Wir haben die ganze Kraft des Mannes! Ich würde mit Vergnügen Mrs. Bitlick foltern! … Nein! Nein! Jetzt kriegt Es mich auch schon. Das ist genau dieselbe moralische Entrüstung, die sie hat! Frauen! Die Zeit ist aus den Fugen, und wir müssen sie nicht nur wieder einrenken, sondern auch noch ein paar Millionen Mrs. Bitlicks mitschleppen. Na schön, egal was ich hier in Copperhead erreichen kann, sobald ich rauskomme und der Öffentlichkeit Bericht gebe, werd ich die ganze Karre umschmeißen … Wie ich diesen Geruch nach Desinfektionsmitteln über habe!«