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Sie war sich ihres Körpers niemals sehr bewußt gewesen. Er war mehr ein Bekannter, den sie oft sah, als ein intimer Freund. Sie kannte ihn bebend müde nach dem Basketballspiel oder nach einer Wanderung, sanft entspannt im Schlaf unter einer warmen Decke in einer Winternacht, erfreut durch den Genuß warmen Roggenbrotes und kalter Milch, und sie kannte ihn auch als Störer ihrer Selbstachtung, wenn er krank war. Meistens jedoch hatte er ihr gedient, ohne viel zu fordern. Nun war er ganz Forderung, gebieterische Forderung.
Die Zärtlichkeiten Hargis' hatten ihren Körper geweckt und ihm bewußt gemacht, daß er ein Recht auf Genuß habe und Genußmöglichkeiten in sich berge. Ann lag schlaflos da – das Gutenacht Eulas, klebrig wie Honig und glitschig wie kalte Sahne, war noch aufreizender gewesen als sonst – ihre Lenden schmerzten, ihre Brüste schmerzten, und zu ihrem Kummer mußte sie konstatieren, daß ein peinigendes Bild von Glenn Hargis nach dem anderen durch ihr Hirn jagte: seine grauen Augen, die sie aus ihrer Ruhe aufstörten; seine Hände, nicht schlapp, sondern mit straff über behaarte Knöchel gespannter Haut; seine Brust, nicht weibisch und wogend, sondern fest wie eine Tonne aus Eichenholz; seine Haut, nicht glatt wie Talkumpuder, sondern ein wenig rauh wie die gute Rinde einer Birke. Sie lag auf ihrer eisernen Bettstelle, die Arme hinter dem Kopf, die Hände unter dem Kissen, vor sich hinstarrend, voll Verlangen danach, daß er zu ihr komme.
Ein Märchen ohne Worte erzählte sie sich immer wieder: Eula war auf irgendeine Weise, irgendeine rätselhafte Weise, nicht da, und sie erwachte, um Glenn hereinschreiten zu sehen, nicht de- und wehmütig, nicht um Entschuldigung bittend und ohne verlogene Bemühungen, sich als gewalttätigen Höhlenmenschen zu zeigen; er kam an ihr Bett, setzte sich an den Rand, und murmelte: »Das ist ja alles gleichgültig, wir brauchen einander – wir sind so einsam, so voll Verlangen.«
Der kluge Dr. Hargis hätte sie sich während des Monats nach dem Picknick auf dem Mt. Abora jederzeit holen können. Davon schien er aber nichts zu ahnen.
Sie suchte ihn jetzt niemals in seiner Kanzlei auf, sprach nie nach der Vorlesung mit ihm, noch ging sie mit ihm spazieren. Während des Unterrichts behandelte er sie mit einem geradezu unvorstellbaren kleinjungenhaften Trotz, so daß alle schadenfroh darüber zu reden anfingen. Er höhnte über ihren Eifer bei der Beantwortung von Fragen »Bitte, geben Sie besser acht, meine jungen Damen: Miss Vickers will ihre Begeisterung mit uns teilen. Ich habe zwar nicht gewußt, daß inspirierte Intuition die sicherste Methode zur Erhärtung historischer Tatsachen ist, aber ich kann mich ja irren.« Er ließ es ihr nie durchgehen, wenn sie in ihren Aufsätzen Relativsätze ineinander schachtelte – sie achtete mit verbissener Sorgfalt darauf, daß er sonst nichts auszusetzen finden könnte, und schachtelte voll Verachtung weiter Relativsätze ineinander, und zwar auch noch, als sie schon selbst eingesehen hatte, wie häßlich das ist.
Bis die Leidenschaft ganz in ihr einschlummerte und sie wieder gesund wie eine Katze schlief, erschien ihr die Kleinlichkeit seiner Rache unglaubhaft. Nur eines ist überraschender als die Entdeckung, daß ein Mensch seinem Wesen in auffallender Weise untreu wird: die Entdeckung, daß jemand seinem Wesen ununterbrochen treu ist, ohne jemals davon abzuweichen. Sie hatte ihn für schwach, aber originell gehalten, und jetzt merkte sie, daß er in seinem verbissenen Trotz, seiner hartnäckigen Weigerung, auch nur für einen Augenblick Kavalier zu sein, stark war wie eine giftig böse, ins Unrecht gesetzte Frau.
Einmal ärgerte sie sich ganz offen über ihn. Er hatte voll Ironie erklärt, die Leibeigenen des Mittelalters wären besser daran gewesen als die »freien« Arbeiter von heute; und jetzt wurde sie, im Gegensatz zu ihrem Eindruck während seiner ersten Vorlesung, gewahr, daß er nicht eigentlich empört über die Unsicherheit und das elende Los der Arbeiter war, sondern vielmehr Verachtung für sie hatte als für minderwertige Menschen, die sich von Natur aus nur dazu eignen, Objekte der Sklaverei zu sein.
»Wollen Sie damit sagen, Dr. Hargis«, protestierte sie, während alles im Hörsaal dumm dreinsah und sich über diesen Streit zwischen den angeblichen Liebhabern freute, »wollen Sie damit sagen, daß wir keinen Fortschritt gemacht haben und einem vernünftigen Staat um keinen Schritt nähergekommen sind? Daß der Kampf der Arbeiter und der Befreier nichts weiter als eine Farce gewesen ist – Wolfe Tone, Cromwell, Washington, Debs, Marx?«
»Aber gewiß doch, wir haben Fortschritte gemacht, meine liebe Miss Vickers, wenn Sie in Präsident Taft eine Verbesserung gegenüber der Königin Elizabeth sehen, in Howard Chandler Christy eine Verbesserung gegenüber Leonardo da Vinci, und in William Jennings Bryan einen erbaulicheren Philosophen als Machiavelli! De gustibus! Ich würde es nie wagen, über Ansichten zu diskutieren. In meinem bescheidenen Laden gibt es eben nur Tatsachen!«
Manche von den College-Professoren pflegten so zu sprechen; häßliche kleine Cliquenschlagworte wie »De gustibus«. Vielleicht gibt es noch einige von der Sorte.
Noch vor dem Frühjahr hatte Ann den Trost, daß sie ihn außerhalb der Vorlesungen völlig vergaß. Während ihres Seniorenjahres, in dem sie bei ihm nicht hörte, sah sie ihn nur bei den Tees der Lehrerschaft, und ihre Leidenschaft erlosch und wurde abgelöst von einem Eifer für energische Unternehmungen, die einen unklaren sozialen Charakter hatten.
Seitdem sie ihren religiösen Wirbel hinter sich hatte – Vereinigung, Freiwillige, Gebetsversammlungen des Jahrgangs, Kapellenausschmückungen – verlangte ihre energische extrovertierte Seele, ihre Theodore-Roosevelt-Seele, nach anderen Kreuzzügen, und an diese machte sie sich vergnügt mit allen Illusionen, mit der Priesterandacht und der Liebe zu vertrauten Zeremoniellen, mit dem Glauben an ihre Fähigkeit, die ganze Welt zu bemuttern und umzukrempeln, den sie in ihrer Religion gezeigt hatte.
Sie stürzte sich auf die Sozialistische Gesellschaft, die recht schwächlich dahinvegetierte, und verdoppelte ihre Größe durch Mitgliedswerbungen. Sie beschenkte die College-Bibliothek triumphierend mit einem Porträt von Eugene V. Debs, und die Präsidentin, eine schlaue, verschlagene, zynische alte Dame verdarb ihr ihre Kampfpose, indem sie dafür sorgte, daß das Bild angenommen und in einem abgelegenen Korridor der Bibliothek aufgehängt wurde, wohin kein Mensch kam. (Nach Anns Abgang wurde der Rahmen für ein Porträt der Reverend Mary Wilkerbee, Missionarin bei den Flachkopfindianern, verwendet.)
Ann fiel auch mit Gewalt über die Debattiervereinigung her, und im Seniorenjahr belegte sie das Seminar für Redekunst.
Ihre religiöse Abtrünnigkeit und Gerüchte über ihre nahen Beziehungen zu Dr. Hargis hatten sie bei allen hochgesinnten jungen Damen, die nicht Mitglieder des Sozialistenklubs waren, mißliebig gemacht. Ja, obwohl es ganz sicher gewesen war, daß sie für die Zeit der letzten und sentimentalsten Monate am College Jahrgangspräsidentin werden sollte, wurde sie jetzt nicht einmal vorgeschlagen. In der Debattiergesellschaft nahm man sie nicht sehr warm auf, und sie hatte ein wenig Angst; sie, die Anführerin des Jahrgangs gewesen war, empfand Angst wie das kleine Mädchen, das bei der Geburtstagsgesellschaft Mildred Evans' sprachlos die japanischen Lampions angestarrt hatte.
Aber bei den Ausscheidungsdiskussionen für die Debattiermannschaft tat sich Ann in ihrem Seniorenjahr hervor. Sie war stets eine ernste Sprecherin gewesen, getragen von der Überzeugung, daß sie etwas zu sagen habe. Sie war stets leichtgläubig genug gewesen, um Freude an direktem Beifall zu haben und sich an ihm emporzusteigern. Einige Stunden im Redeseminar genügten, um ihr eine geradere und ruhigere Haltung beizubringen, und lehrten sie, zu ihrer angeborenen Überzeugungskraft, den Berufstrick völlig schwachsinniger Gesten, die – aus keinem ersichtlichen Grunde, es sei denn, daß sie auf ordentliche, schön ausgereifte Hexerei zurückgingen – die Zuhörerschaft zu stimulieren schienen, bis sie schäumte wie Sodawasser. Diese neue Podiumroutine, unterstützt von ihrem natürlichen Verstand, machte sie zu einer gewaltigen Debattiererin, und so wurde sie zur Führerin der Mannschaft gewählt, die weit hinauf in den Norden auf ein großes Abenteuer auszog, mit der berühmten und noch niemals besiegten Mannschaft des Southern New Hampshire Christlichen Frauencollege über das Thema zu debattieren: »Zu beweisen, daß die Kirche wichtiger ist als die Schule.« Ann, deren Ansicht das nicht im mindesten entsprach, vertrat die bejahende Seite. Eine Wikingerfahrt! Mit zwei anderen, großartigen Mädchen ging es auf die Reise – ohne Garde! Zwölf begeisterte Studentinnen begleiteten sie zur Bahn, schenkten ihnen Blumen, zwei Pfund Konfekt und eine Nummer des Life. Fremde Männer im Zug starrten sie herausfordernd an, bis sie alle in gemeinsamem Vergnügen lachten! Der süße Ernst, mit dem der Feldzugsplan für die Debatte zurechtgelegt wurde! Neue Ortschaften, kalte Hochlandluft, und sechzehn begeisterte, jubelnde Mädchen von dem fremden College hießen sie willkommen! Zwei üppige Zimmer für die Gäste in einem Bundeshaus, und ein Privatbad! Und ein gewaltiges, zweihundert Menschen zählendes Auditorium, das überaus wohlwollend und freundlich war!
Nachdem die anderen Rednerinnen brav ihre Sprüchlein zugunsten der Kirche beziehungsweise der Schule wie artige Mädchen beim Schulvortrag aufgesagt hatten (»die Frage, nicht wahr, meine lieben Freundinnen, die Frage ist, ob das kleine braune Kirchlein im wilden Hag, das kleine braune Kirchlein im Tale, so teuer es auch unseren Herzen und unserem Gedenken sein mag, etwas Heiligeres ist als das Andenken an die hingebungsvolle Lehrerin im kleinen roten Schulhaus an der Straße, an der die Welt vorüberzieht«) – nach all diesen Stiefmütterchen und betauten Rosenknospen des Denkens legte Ann los, vergaß völlig alle Damenhaftigkeit und verkündete, fünf Minuten lang selbst von der Sache überzeugt, mit wilden Fanfarenstößen die Glorie der Kirche – Inspiratorin der Kreuzzüge, Schöpferin der meisten prächtigen Bauwerke, die die Welt jemals gesehen, Prophetin, von der die Schulen die moralische Grundlage haben, ohne welche ihre kleinen Lehren nichts bedeuten würden, Begründerin unserer vollkommenen demokratischen Regierung, Erweckerin der Heiden, die sich vor Holz und Stein verneigen. »Die Schule, ja, sie ist unsere ältere Schwester, unsere freundliche und treue Schwester, die Kirche aber ist unsere Mutter, die uns geboren hat, der wir das Leben verdanken und alles, was wir haben! Verzeiht mir, o verzeiht mir, wenn ich gegen die Anstandsregeln verstoße, die viele bei einer Debatte für angemessen halten – vergebt mir, wenn ich zu hitzig spreche – aber wer kann ruhig bleiben und das Dekorum wahren, wenn die eigene Mutter, die einzige Mutter zergliedert, wenn sie kritisiert und verhöhnt wird?«
Der Beifall kam wie ein Wolkenbruch, das unbesiegbare New-Hampshire-College war besiegt, und Ann war Ehrengast im Bundeshaus bei sehr viel Kaffee, belegten Broten mit Salat und Tomaten und Eiern au Diable. Dieser Name führte nach der religiösen Debatte zu vielen unschuldigen Witzen. Und in der nächsten Woche erschien Anns Bild auf der Titelseite des Weekly Point Royalist, sie wurde aufgefordert, für die Frauenrechtlervereinigung in Torrington und für die Gesellschaft Junger Frauen der Ersten Kirche der Jünger Christi von Amenia zu sprechen.
Ihre begeisterte Verteidigung des kleinen braunen Kirchleins im wilden Hag hatte jedoch Verwicklungen für sie zur Folge. Die Funktionärinnen der Vereinigung stürzten sich auf sie, wie sechs Katzen auf einen Tennisball, und fragten, warum sie nicht zur Vereinigung zurückkehre, wenn sie der Kirche so töchterlich ergeben sei. Als sie, ein wenig zaghaft und schwach, ablehnte, erklärte Miss Beulah Stoleweather, die beratende Vertreterin des Lehrkörpers in der Vereinigung, mit strahlender Miene: »In Wirklichkeit sind Sie ja doch eine von uns, Ann. Sehen Sie, meine Liebe, ich kenne Sie eben besser, als Sie sich selbst kennen! In Ihrem Innern sind Sie durchaus Christin – viel mehr, als Sie ahnen! Wie oft habe ich Sie nicht schon ›Behüt dich Gott‹ als Gruß verwenden hören! Sie werden sehen! Sie kommen wieder zu uns!«
So wurde Anns Ansehen wiederhergestellt. Aber sie war nicht zufrieden. Ihre Nächte voll schamlosen Verlangens danach, von Armen umschlungen zu werden, hatten in ihr etwas erweckt, das sich jetzt nicht mit Ausschüssen und glatten Worten von Vertreterinnen des Lehrkörpers zufriedengeben konnte. Sie war wütend darüber, daß man sie nicht zur Jahrgangspräsidentin gewählt hatte … »natürlich, keine Rede davon, daß sie sich etwas so Verdrießliches und mit Scherereien Verknüpftes, wie die Präsidentschaft wünscht. Aber es geht um das Prinzipielle der Angelegenheit. Na, die sollen noch sehen! Wenn sie vom College abgeht, wird sie etwas viel Beliebteres, Großartigeres und Denkwürdigeres sein als eine dumme kleine Jahrgangspräsidentin!«
In einem wahren Popularitätsfuror, in einem Wirbel politischer Machenschaften ohne politischen Hintergrund raste sie durch das Seniorenjahr, wiedergewinnend, was sie durch ihren Abfall und durch das Gerücht, sie hätte von Dr. Hargis den Laufpaß bekommen, verloren hatte. Ihr Zimmer – ein Einzelzimmer in diesem Jahr, das nach keiner Eula Towers duftete, Gott sei dank! – wurde der Versammlungsort für alle Debattiererinnen, Nationalökonominnen, künftigen Fürsorgerinnen und anderen Intellektuellen von Point Royal, und bei heißer Limonade wurde mit Gründlichkeit und Endgültigkeit über das Frauenrechtlertum, den Weltfrieden und das Lohnproblem gesprochen.
Sie besuchte Mädchen, für die sie nichts übrighatte. Sie war im Collegegarten betont freundlich zu Studentinnen, auf deren Namen sie sich nicht einmal besinnen konnte. Insbesondere machte sie Pläne für die Debattiergesellschaft. Sie versetzte das ganze College in ehrfürchtige Scheu, indem sie das verblüffende Projekt aufbrachte, einen Debattierkampf mit Vassar zu führen, für das Point Royal seit jeher auf einer Stufe stand mit Landwirtschaftsschulen, katholischen Seminaren und Akademien der Einbalsamierkunst. (Zwei Jahre später wurde aus dem Projekt Tatsache, aber da war Ann schon fort.)
Der Himmel allein weiß, welche guten oder schlechten Folgen dieses Seniorenjahr der Diktatur auf Anns spätere Vorstöße in das Gebiet einer mehr männlichen Politik hatte. Es soll nicht behauptet werden, daß die brave kleine Ann aus Waubanakee nicht ein wenig von ihrer Reinheit verlor, aber das etwas wirre und in Verlegenheit gebrachte junge Geschöpf gewann eine neue Macht und hätte sich vielleicht mit fliegenden Fahnen dem Zynismus und der Großtuerei überantwortet, wäre nicht jene Stunde mit der grotesken Pearl McKaig gewesen.
Pearl war die fleißigste und beste Studentin im Jahrgang unter Ann. Sie war ein mageres, klein gebliebenes, zimperliches Kind mit knolliger Stirn, humorlos, lerneifrig und frühreif, zwei bis drei Jahre jünger als der Durchschnitt ihres Jahrgangs. Sie stürzte sich auf Stipendien, wie ein Trunkenbold sich auf Freiwhisky stürzt; und ihre Jahrgangskolleginnen lachten über sie, verhätschelten sie und haßten sie wegen ihrer naiven Freimütigkeit.
Sie hatte sich um die Aufnahme in die Debattiermannschaft bemüht und Schiffbruch erlitten – da sie sich niemals an den Sport herangewagt hatte, war das einer ihrer ganz wenigen Fehlschläge. Die Reden, mit denen sie sich um die Aufnahme bewarb, zeichneten sich durch Trockenheit und Fülle an statistischem Material aus. Aber wenn Ann blitzte und stürmte und mit Worten jonglierte, war sie stets in der Nähe und riß ihre hellen Augen verehrungsvoll auf; sie trat in den Sozialistenklub ein und stimmte in stammelnder Begeisterung zu, als Ann mit Emphase erklärte, daß sie alle natürlich zu der vornehmen und überaus gebildeten Kaste gehörten, deren selbstverständliche Pflicht es sei, den weniger vom Glück gesegneten Arbeitern zu helfen. Und wenn Ann, rasch über den Collegegarten eilend, ihr freundlich zuwinkte, errötete Pearl vor Glückseligkeit.
Dennoch war es Pearl McKaig und keine andere, die eines Nachmittags, als Ann im Begriffe war, sich zu einem Frühjahrsabendmeeting der Gesellschaft zur Pflege der Collegegartenbäume zu begeben, wo sie Ein paar Worte zu sprechen hatte, zu ihr ins Zimmer kam, sich in einen Morrisstuhl fallen ließ, stumm vor sich hinsah, bis Ann am liebsten laut zu schreien angefangen hätte, an ihrem kaum vorhandenen Kinn herumfingerte und herausplatzte:
»Ann, du – du sprichst unglaublich viel leichter als vor zwei Jahren, wie ich dich zum erstenmal in der Vereinigung gehört habe.«
»Ja?«
»Du hast viel mehr Schwung. Du weißt besser, wie du die Menschen packen kannst!«
»Ach, das ist bloß – –«
»Und du interessierst dich für viel mehr Sachen. Du bist kein Kleinstadtmädel mehr. Ich bin wohl noch eines geblieben.«
»Also, natürlich – –«
»Du könntest eine schrecklich große Frau werden – in den ganzen Staaten.«
»Aber Unsinn, mein liebes Kind!«
»Warum hast du – Ann, warum hast du dich dann eigentlich verkauft? Warum willst du bei allen Gänsen und Dummköpfen beliebt sein?«
»Also wirklich – –«
»Du mußt mich anhören! Weil ich dich liebe! Und weil ich die einzige bin, die sich traut, dir das zu sagen – vielleicht die einzige, die es weiß! Wie du dein Amt in der Vereinigung niedergelegt hast, war ich dabei. Ich habe dich bewundert, kolossal bewundert. Ich bin damals auch ausgetreten – nur habe ich keinem Menschen etwas davon gesagt. Ich bin einfach nicht mehr hingegangen. Und bei mir ist es wohl niemandem sehr aufgefallen. Du warst wunderbar. Und jetzt läufst du den Leiterinnen von der Vereinigung nach und machst Schmus mit ihnen und klopfst ihnen auf den Rücken und bringst sie auf den Gedanken, daß es dir, ganz heimlich, vielleicht ein bißchen leid tut, daß du überhaupt ausgetreten bist, und bloß bei dem bleiben mußt, was du einmal gesagt hast. Und du spielst dich auf. Ja, das tust du! Wie der Reverend Dr. Stepmoe, der herkommt und zu allen ›Schwester‹ sagt und einem sozusagen geistig auf den Rücken klopft – wahrscheinlich macht er es bei den Mädchen, die einen weicheren Rücken haben als ich, nicht nur geistig! Du spielst dich auf! Und bist so zuvorkommend! Alles für alle Männer, und noch mehr für alle Frauen! Sanft! Tüchtig! Energisch! Fix! Klug! Und so vergnügt, wenn du in Wirklichkeit ganz verbiestert und traurig bist! So strahlend und fix! Und falsch! Ach Ann, verkauf dich nicht! Und halt dich nicht für so wichtig – du bist viel zu wichtig, um dein Herz so einzumauern, indem du dich dafür hältst. Und jetzt wirst du nie mehr mit mir reden … Aber ich hab dich eben so lieb!«
Pearl lief schluchzend aus dem Zimmer.
Ann Vickers ging nicht zum Frühjahrsabendmeeting und sprach nicht Ein Paar Wohlgewählte Worte. Sie blieb im Dunklen sitzen, und ihre Seele schmerzte, wie ihre Schultern vom Sitzen schmerzten.
»Es ist Wort für Wort wahr«, sagte sie sich verzweifelt. »Jetzt brauch ich meine Religion wieder, um um Demut zu beten. Wahrscheinlich werd ich nie demütig werden; wahrscheinlich war ich es nie. Aber nach dem jetzt – bloß, ich könnte dieses Balg umbringen mit ihrer Eierstirn und ihrer kriecherischen Rechtschaffenheit, umbringen könnt ich sie dafür, daß ich jetzt an mir zweifeln muß! – aber auf jeden Fall werd ich jetzt vielleicht etwas weniger aufdringlich sein. Demut! ›Selig sind, die da geistig arm sind, denn – –‹
Nein, der Teufel soll mich holen, wenn sie das sind! Selig sind die geistlich Reichen, denn sie werden das Himmelreich nicht brauchen! Selig sind die Furchtlosen im Herzen, denn Gott wird sie anschauen!«
Sie verhielt sich jedoch seltsam still bis zur Schlußprüfung und auch noch nachher; sie lehnte eine ihr angebotene Assistentenstelle für Nationalökonomie an der Bryn Mawr-Sommerschule ab und ging in eine dunstige Wollspinnerei in Fall River arbeiten, wo sie erfuhr, um wieviel weniger die vornehme Kaste von Liebe, Gebären, Müdigkeit, Hunger und Jagd nach Arbeit weiß als französischkanadische Fabrikarbeiterinnen, wo sie darüber aufgeklärt wurde, warum die Gewerkschaften existieren, und wie man Ziegel versteckt, um beim Streik Fensterscheiben einwerfen zu können.
Und so lernte sie Demut – erwarb sie sich genug von diesem gefährlichen Element, um durch eine Welt gehen zu können, die es in gleichem Maße lobpreist und geringschätzt.