Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Es hätte ihr eine Warnung sein sollen.
Als sie nach seiner ersten Vorlesung impulsiv nach vorn ging und murmelte: »Ach, Dr. Hargis, ich hab noch nie in meinem Leben so viel von einer Vorlesung gehabt, hoffentlich werden Sie hier nicht für überradikal gehalten werden«, antwortete er lachend: »Ich radikal? Aber, meine liebe junge Dame, konservativer als ich bin, kann man gar nicht sein. Ich bin ein guter Republikaner und Kirchenältester in der anglikanischen Kirche, und außerdem habe ich eine ausgesprochene Vorliebe für die Bilder von Millais und Leighton!«
»Aber das – das mit den Bergleuten in Pennsylvania und mit den Sklaven?«
»Ach?« ganz leichthin, »das war nur so zur Exemplifizierung!«
Und verwirrt machte sie Mitstudentinnen Platz, die Dr. Hargis zu fragen wünschten, ob es sich bei Gibbon und Buckle um Pflicht- oder Wahllesen handle.
Auf dem Heimweg dachte Ann voll mütterlichen Ärgers: »Es ist eine Schande für ihn, daß er so frivole Reden – er ist doch wirklich kolossal begabt – daß er so frivole Reden darüber führt. Aber vielleicht ist er viel radikaler, als er selber weiß. Er hat sich eben diese alberne glatte Dozentenart zugelegt. Das gehört wohl mit zu seinem Gewerbe – so, wie Mr. Klebs die Schuhsohlen immer ansah, mit klugen Blicken. Wissenschaftliche Haltung. Ob ich das überhaupt mal lernen kann? Doch, ich werd es lernen! Oder bin ich einfach sentimental? … Er ist süß. Seine Augenbrauen sind fast zusammengewachsen, und auf den Händen hat er so dichtes rotes Haar.«
Sie trafen sich, wie sich eben Menschen unerklärlicherweise treffen, wenn sie Interesse für einander haben; sie sahen sich nach den Vorlesungen, bei Besprechungen in seiner Kanzlei, bei Tees der Y.W.C.A., der Vereinigung Christlicher Junger Mädchen, bei den keuschen Kakao-und-Teegebäck-Orgien, die an den Donnerstagabenden bei der Dekanin stattfanden, in der Debattiergesellschaft, zu deren Leiter er ernannt worden war. Früher hatte Ann jenes komplizierte und bewußte Streiten, das man »Debattieren« nennt, verachtet, aber jetzt entdeckte sie darin mit einemmal ein ausgezeichnetes Mittel zu politischer Schulung. Eine ganze Reihe von Mädchen hatte ein zartes Interesse für Dr. Hargis an den Tag gelegt. Aber soweit Anns Beobachtungen reichten, gingen ihm die zahmen Amy Jones' auf die Nerven, weil sie weniger Interesse für die Karolingischen Könige hatten als für Kuchenteig und billige Wohnungseinrichtungen, und die Mitzi Brewers, weil ihre herausfordernden Augen der Stellung eines ernsten jungen Privatdozenten gefährlich werden konnten. Gekränkt über ihn und seine Blindheit, sah Ann zu, wie er ein Mädchen nach dem anderen umkreiste, und als er sich dann auf sie – aber selbstverständlich ganz rein und freundschaftlich – konzentrierte, hatte sie die Empfindung, sie müsse sich hochmütig gegen ihn benehmen, und tat es nicht.
Sie waren befreundet.
Sie verplauderten eine Stunde in dem Gesellschaftsraum des Vereinigungshauses. Er ließ seine überlegene Frivolität fallen, und sie machte die Entdeckung, daß er sich hinter dieser Pose gegen die unersättlichen Studentinnen verschanzte, die von ihm erwarteten, er müsse alles wissen, und sich diebisch darauf freuten, ihn bei einem Irrtum zu ertappen.
Sie gingen spazieren – aber nur im Collegegarten, ausnahmslos.
Es war eine Regel in Point Royal, daß Wesen männlichen Geschlechts, ob es sich nun um Mitglieder des Lehrkörpers handelte, oder um Vettern, die auf Besuch kamen, sich mit den Mädchen im Collegegarten aufhalten durften, wo sie in Reichweite des Gekichers und der sehnsuchtsvollen Blicke der anderen, miterregten jungen Damen waren, aber sie durften keine weiteren Spaziergänge oder Ausflüge miteinander machen. So tapfer die Mädchen in Point Royal auch diskutierten, trotz all ihrer Biologie und Physiologie, trotz ihrer gespielten Objektivität gegenüber königlichen Mätressen und den wirtschaftlichen Ursachen der Prostitution, und so sehr sie sich auch einbildeten, normal und, wie sie es verstanden, »modern« zu sein, bereit zur Ehe und zum Kinderkriegen oder zum Beruf auf Basis einer halben Gleichberechtigung mit den Männern – trotz alledem waren diese Mädchen in einem Konvent, behütet von Nonnen beiderlei Geschlechts. An den staatlichen Koedukationsuniversitäten konnten die Mädchen in ihrem Umgang mit jungen Männern vergnügt und selbstverständlich genug sein, es war ihnen möglich, sie nicht allzu ernst zu nehmen, denn sie sahen täglich, wie sie in Bibliothek und Laboratorium umhertapsten. Aber in diesem Kloster ertranken sogar die Mädchen, die in höchst gesunder Weise mit lärmenden Brüdern aufgewachsen waren, ganz und gar in dem schwächlich duftenden Geniesel von Weiblichkeit, so daß sie ebenso verdreht wurden wie die hysterischen Hühnchen in einem Pensionat.
Sie waren besessen von Gedanken und Wünschen, die um Männer kreisten, und die meisten von ihnen reagierten dies ab, indem sie Männerverachtung zur Schau trugen – solange keine Männer in der Nähe waren. Waren aber Männer da – – Der simpelste männliche Lehrer, Reverend Henry Sogles, Magister der Künste, Professor für Latein und Griechisch, hatte nach jeder Vorlesung eine zwitschernde Schar von Studentinnen um sich, die voll Ehrfurcht lauschten, während er so interessante Bemerkungen machte, wie zum Beispiel daß Sophokles ein besserer und auch moralischerer Autor gewesen sei als David Graham Phillips. Und sie beeilten sich, ihm seine abgetragenen, verstaubten hohen Überschuhe zu suchen. Ein Mädchen, das für einen französischen Kupfer hätte Modell stehen können, sonst ein wahrer Ausbund an Frechheit, fand sie unter einem Pult und überreichte sie ihm rasch atmend.
Völlig pensionatstoll wurden aber die Mädchen, wenn eine Studentin einen gut aussehenden jungen Mann zu Besuch hatte. Kam der Unglückselige den Hauptgartenweg herauf, so sahen zahllose hübsche Köpfe zu den Fenstern heraus. Wenn er schüchtern, den Hut in der Hand, in das Wohngebäude kam, wurde er ein Quieken und Kucken und Treppaufeilen gewahr, wie von Tausenden rascher Mäuse. Saß er verlegen im Empfangszimmer, bemüht, sich gegenüber seiner augenblicklich einzigen Liebe galant zu erweisen, so hatten absonderlich viele junge Damen gerade hier ein Buch zu suchen. Und nachher besprachen sie den fahrenden Gott bis in alle Einzelheiten von seinen zweifelhaften gelben Schuhen bis zu seinem herrlich hohen Kragen.
Sie hörten von Mädchen an den größeren Frauencolleges, für die es ganz natürlich war, zu Bällen in Yale oder Harvard zu gehen. Und sie selbst tanzten, wenn sie in den Ferien zu Hause waren, in den Landklubs, die überall im soeben reich gewordenen Amerika plötzlich aus Kuhweiden köstliche Turniergelände machten. Waren sie aber wieder einmal zurück in Point Royal, dann kam diese Essenz, dieses Ritual, dieser Duft der Weiblichkeit wieder über sie, machte sie schwindlig und erzeugte ein Gefühl der Unwirklichkeit in ihnen, wie man es hat, wenn man im Nebel geht. Sie verfielen in wahre Orgien der Ziererei – Spitzen und Bändchen, Kopien französischer Unterkleider, kleine silberne Federmesserchen, die für das ständige Bleistiftspitzen völlig ungeeignet waren, Teetassen, so dünn sie nur zu haben waren. Sie parfümierten sich für einander und priesen einander laut den Duft ihrer Parfüms – und doch taten sie es nicht für einander, sondern für Phantasiehelden.
In jedem Jahrgang revoltierten einige Mädchen gegen diese Ziererei, indem sie sich arrogant in dicken Flanellsachen zeigten und den Tee in irdenen Töpfchen auf den Tisch brachten, und etliche – von diesen gab es noch weniger als von den anderen – legten sich eine auffallende, elegant geschneiderte Männlichkeit zu und wurden dann von der überspannten Mädchenschaft ihrer Umgebung schüchtern angeschmachtet.
Diesen alles einhüllenden Hypnotismus umgekrempelter Sexualität hatte Ann Vickers widerwärtig gefunden; sie hatte ihn mit Basketballspielen, mit herzhaftem, wiewohl vielleicht herzlosem Beten in der Vereinigung und mit der trockenen Asexualität der Nationalökonomie bekämpft. Doch er umzärtelte sie stets mit verfänglicher Süßigkeit, und in diesem Jahr fluchte sie (mit wohlanständigen presbyterianischen Schimpfworten) darüber, daß sie jetzt von ihrer Zimmerkameradin Eula Towers noch mehr gestreichelt und besäuselt wurde als je zuvor.
Im ersten Monat flößte Eula ihr Entsetzen ein. Im zweiten Monat langweilte sie sie, und im dritten machte sie sie wütend. Und mit jedem Monat ließ Eula Glenn Hargis' haarige Männlichkeit ersehnenswerter erscheinen.
Sie konnte Eula nicht ganz aufgeben. Diese chiffonduftende Ästhetin wußte, so sehr sie auch schwindelte und angab, recht vieles, wozu Ann Vickers' energischer, tüchtiger Verstand keinen Zugang hatte. Von ihr lernte Ann, sich von Keats und Shelley, von Beethoven und Rodin ergreifen zu lassen, aber mit Eulas eigentlichen Idolen, mit Swinburne, Edgar Saltus und Oscar Wilde konnte sie niemals etwas Rechtes anfangen. Mit schrillem, wieherndem Lachen trieb Eula Ann ihre stille Vorliebe für Elbert Hubbard aus. Ann beharrte darauf, daß Mr. Hubbard eine »sehr schöne Botschaft« hätte, bis Eula fragte, worin denn eigentlich Mr. Hubbards »Botschaft« bestünde. Und in einer angeregten Stunde erledigte Eula eines von Anns Lieblingsbüchelchen. Es war ein so nettes kleines Büchlein, seufzte Ann, das ihr Reverend Donnelly einmal zu Weihnachten geschenkt hatte. Es war eine Sammlung von Auszügen aus den poetischsten Predigten amerikanischer Priester – an erster Stelle stand Henry Ward Beecher – und hieß Herzen, die den Himmel küssen.
»Ach du lieber Gott!« kreischte Eula in hysterischer Wonne; sie umklammerte ihre Fußgelenke, schleuderte dann die Arme weit auseinander und schrie in einer vulgären Vergnügtheit, die in ihrem ästhetischen Leben sonst eine Seltenheit war. » Herzen, die den Himmel küssen! Warum nicht Lebern, die zur See fahren? Oder Heldentum mit Stiefmütterchenantlitz?«
Um der Wahrheit die Ehre zu geben, muß gesagt werden, daß Ann niemals recht wußte, was denn mit dem netten kleinen Buch sei, das ihr so lieb gewesen war, daß sie oft den Vorsatz gefaßt hatte, noch über Seite einundzwanzig hinauszulesen. Aber sie gab es auf und versteckte es in ihrem Koffer, und eines Tages räumte sie ein, daß ihr jetzt Verse wie die folgenden lieber seien:
Die Eule fror, so dick auch ihr Gefieder war,
Der Hase hinkte zitternd durch das frosterstarrte Gras,
Und stille war im warmen Pferch der Schäfchen Schar.
Wenn sie sich aber Eula dankbar erwies, wenn sie sich aus der Festung herauswagte, die sie sich gegen diese junge Schmeichelkatze errichtet hatte, dann stürzte Eula sich auf sie, küßte sie und hauchte mit einer Zärtlichkeit, die für die frische Ann übelkeiterregend war: »Ach, mein Liebling, ich bin ja so beglückt, daß du lächelst! Du warst so zurückhaltend und immer in anderen Regionen, als ob dich etwas beunruhigte. Ach, ich wollte so gern mit dir fühlen, dir helfen! Ach ja, ich muß dir die Hand küssen! Das ist meine Verehrung für dich!«
»He! Hör auf! Willst du mich in den Schwitzkasten nehmen, du Würgerin? Du solltest ringen und nicht zeichnen!« fauchte Ann mit einer Stimme, die sie selbst nicht erkannte – einer Stimme, die entstellt war nicht von Haß, sondern von frommer Angst.
Und an kalten Morgen wollte Eula zu ihr ins Bett kriechen, wobei sie scheußlich parfümierte Zigaretten rauchte, und murmelte: »Ach, lassen wir heute die Vorlesungen schießen. Vorlesungen – Kohl! Bleiben wir einfach hier liegen und träumen wir davon, was wir tun werden, wenn wir einmal aus diesem Gefängnis herausgekommen sind. Stell dir vor – du und ich, wir werden eine Villa in Capri haben und den ganzen lieben Tag lang über dem weinroten Meer, unter den violetten Berggipfeln träumen! Liebste, möchtest du eine Tasse Kaffee haben? Bleib doch liegen, bleib liegen! Ich kriech heraus und mach dir einen auf dem Spirituskocher!«
»Das wirst du bleiben lassen! Ich hab um halb neun eine Prüfung!« log Ann, während sie aus dem Bett sprang und sich in einem Tempo anzog, über das ihr Vater sich gewundert hätte.
Es gab in ganz Point Royal nur vier oder fünf Eulas, aber die genügten, um Glenn Hargis zu einem Helden und die Spaziergänge mit ihm auf dem zerfressenen Gras des Collegegartens zu einem erhebenden und befreienden Abenteuer zu machen.
Ohne besondere Verabredungen zu treffen, nahmen sie die Gewohnheit an, sich auf dem eichenbestandenen Vorgebirge zu treffen, wo ein Geschütz aus dem Bürgerkrieg und das Denkmal Elizabeth Cady Stantons auf den braunen Housatonic hinausblickten; der Fluß kräuselte sich golden im Sonnenschein des Spätsommers, und am anderen Ufer stand inmitten von Pappelgehölzen ein hochgelegener Bauernhof mit roten Scheunen. Dort sprach er begeistert von deutschen Universitäten, von Kaffeehäusern Unter den Linden und am Kurfürstendamm, und von dem einfachen Studenten der Rechte, der sich in Wirklichkeit als ein Herr Graf entpuppte und ihn einmal auf sein altes Familienschloß in Thüringen mitnahm, von der köstlichen, wunderbaren Woche (bezahlt mit Monaten des Verzichtes auf Frühstück und neue Schuhe), die er in Ägypten verbracht hatte: er war Zeuge der Ausgrabung eines Königsgrabes gewesen und hatte die frischen, natürlichen Farben von Bildern gesehen, die seit viertausend Jahren unter der Erde lagen, hatte die ganze Geschichte als etwas Lebendiges erkannt, so daß er nicht am Jahre 1910 und an diesem dürftigen Connecticuter Collegegarten haftete, sondern auch, im gleichen Augenblick, im Theben des Jahres 2000 vor Christi und vielleicht in irgendeinem asiatischen oder südamerikanischen Neu-Theben des Jahres 3000 vor Christi umherging und sprach. »Damals kam etwas Neues in mein Leben, so wie das Leben eines Astronomen bereichert wird, wenn er durch sein Fernrohr sieht und vom Mond und vom Mars für sich Besitz ergreift!« rief Hargis in einem der seltenen Augenblicke, in denen er den Mut hatte, unversperrt, einfach und empfindsam zu sein.
Sie liebte seinen Verstand – nein, sein Wissen. Sie erriet, daß er eitel war und zimperlich wie eine alte Jungfer, daß er nicht Größe genug hatte, um in aller Unbeholfenheit aufrichtig zu sein, und weil er in diesem Nonnenkloster der einzige verständnisvolle Mann war, weil er überdies sichtlich sie unter allen Schwestern erwählt hatte, war sie mitleidsvoll und machte sich nicht das geringste aus seinem kindischen Wesen.
Aber sie konnte nicht immer weiter demütig und ehrfurchtsvoll ihm gegenüber sein – die geweckte junge Schülerin des weisen Meisters bleiben. Sie wiegte sich nicht in Täuschungen über ihn, wie es ihr mit Adolph Klebs gegangen war, und das bewies ihr Urteilsvermögen, denn Adolph Klebs war viel mehr aus einem Guß, mit bedeutend mehr Konsequenz egoistisch und hochmütig gewesen, als der Dr. phil. Glenn Hargis. Sie war bald so weit, ihn mit einem ruhigen »Mhm« statt mit einem atemlosen »Ach jaaa!« zu antworten.
Das ärgerte ihn. »Sie nehmen mich nicht ernst!« sagte er in klagendem Ton.
»Na, tun Sie denn das?«
»Na selbstverständlich! Übrigens, vielleicht tu ich's nicht. Aber Sie sollten es. Ich behaupte nicht, klüger zu sein als Sie, Ann, aber ich weiß eben mehr.«
»Das könnte jeder von sich sagen. Ich bin wohl der Typus des praktischen, des Tatmenschen. Für mich werden immer Leute arbeiten, die mehr wissen als ich, aber ich werde sie leiten. Ich halte es nicht für eine besondere Tugend, ein wandelndes Lexikon zu sein, wenn man ein nettes, seßhaftes antiquarisch um fünfzig Dollar kaufen kann!«
»Ich bin kein Lexikon! Ich verfolge bei meinen Vorlesungen das Ziel, die Studentinnen dazu zu bringen, daß sie selbst nachdenken.«
»Na, ich denke selbst nach – über Sie, Dr. Hargis, das müßte Ihnen also recht sein.«
»Sie sind eine sehr aggressive junge Person!«
»Wirklich, ich bin nicht absichtlich so! Ich bin es wohl. Aber nicht mit Absicht. Irgendwie sind mir aber alle Männer, auch mein Vater – der ganz besonders – immer wie kleine Jungen vorgekommen. Sie wollen bemerkt werden. ›Mutter, sieh mal! Ich spiel Soldaten!‹ Und der Prediger aus Boston, der am letzten Sonntag da war: ›Meine jungen Damen, sehen Sie mal her! Ich bin so edel, und Sie sind bloß arme kleine Schäfchen, die ich führen muß.‹ Wenn der etwas von dem Gekicher hinten in der Kapelle gehört hätte!«
»Und«, rief Hargis geärgert, »wahrscheinlich kichert ihr entzückenden Jungfrauen auch bei meinen Vorlesungen hinten im Hörsaal.«
»Nein, das tun wir nicht. Wir sind immer schrecklich gespannt. Sie machen aus Richard Löwenherz etwas so Lebendiges wie Präsident Taft.«
»Na, das muß ich auch. Er war etwas viel Lebendigeres. Wissen Sie übrigens, daß Richard ein recht anständiger Dichter und ein ganz hervorragender literarischer Kritiker war? Er sagte …«
Dr. Hargis war in Fahrt, angenehm, wie immer, wenn er sich selbst vergaß, und Ann lauschte, angenehm, wie immer, wenn sie ihn als Mann vergaß und ihm zuhörte wie einem Buch, das spricht.
Als Dr. Hargis merkte, daß er nicht imstande war, auf diese tüchtige junge Frauensperson dadurch Eindruck zu machen, daß er den brutalen Mann oder einen traurigen, einsamen kleinen Jungen spielte, legte er sich eine Taktik zu, der gegenüber sie hilflos war. Er begann zu sticheln; er machte sich lustig über das Quantum Naivität, das noch in ihr stak – das sie auch später niemals verlor. Und sie, die rasch genug dachte, wenn es sich darum handelte, eine Arbeit zu tun, war schwerfällig und verwirrt, wenn es galt, ihre Illusionen zu verteidigen.
Er machte sich lustig darüber, daß sie sich über ein so offensichtlich gehaltloses Geschöpf wie Eula Kopfschmerzen machte, daß sie sich über die Verfassung der Basketball-Mannschaft den Kopf zerbrach, daß es ihr Sorgen bereitete, ob die neue Jahrgangssekretärin Mitzi Brewer (ihre eigene unheilvolle Schöpfung) mit den Akten Unfug trieb oder nicht, daß sie in aller Einfalt strahlend stolz auf gute Noten in der trockenen mathematischen Disziplin war, daß sie voll Eifer daran glaubte, es werde jemals etwas ausmachen, ob die Frauen das Wahlrecht bekommen, daß sie an ihrer Waubanakee-Überzeugung festhielt, ein Glas Whisky sei eine Expreßfahrkarte zur Hölle.
Dann stieß er mit plumpen Fingern auf ihre Religion, und da zuckte sie wirklich zusammen und überlieferte sich in Qualen seiner Meisterschaft.
Es begann in aller Harmlosigkeit, als eine Übung intellektueller Gymnastik, und endete damit, daß sie voll Jammer etwas tat, das bis jetzt in ihrem ganzen Leben das tragischste war – daß sie sich um der zweifelhaften Sache der Ehrlichkeit willen, einer Sache, die ihr so teuer war wie die Liebe, das Herz aus dem Leibe riß.
Sie hatten auf der Kanone auf Stanton Point gesessen und in der farblosen Novemberluft mit ihren klammen Fingern auf den Beinen getrommelt, aber im Rausch des Redens war ihnen die Kälte gar nicht bewußt geworden.
»Wir hatten gestern abend ein ganz besonders nettes Beisammensein in der Vereinigung. Erntefest. Es war ganz anders als ein gewöhnliches Beisammensein. Alle schienen so ein bißchen fröhlich zu sein«, sagte Ann.
»Schön, schön, Ann, und was haben wir bei unserem fröhlichen Erntefest getan?«
»Ach, Sie brauchen nicht ironisch zu grinsen! Es war nett. Wir haben natürlich gesungen und gebetet – aber wirklich gebetet, nicht bloß mechanisch. Alle schienen ein bißchen erregt zu sein und wollten mitmachen. Wirklich, wissen Sie, sogar Mitzi Brewer war da, und als die Führerin sie aufrief – –«
»Die Führerin waren wohl Sie?«
»Ja, ich war es, wenn Sie 's unbedingt wissen wollen! So! Und als ich Mitzi aufrief, ja, da stand sie doch wirklich auf und sagte ein besonders nettes Gebet.«
»Und mit was für einer Anrufung wandte sich unsere kätzchenhafte Freundin Miss Mitzi an Gottes Thron?«
»Ach, Sie wissen ja. Eben ein Gebet. Daß sie nicht immer tut, was sie tun sollte, aber hofft, geführt zu werden.«
»Hm, unsere gute Mitzi muß in der letzten Zeit irgendeine ganz besondere Teufelei ausgefressen haben. Mir scheint, ich habe irgend etwas über sie und den hübschen jungen Garagenmechaniker von Falls gehört. Sehr passend. Ihr hattet also ein züchtiges Erntefest, und wahrscheinlich habt ihr auch gesungen: ›Sammelt ein das Laub‹. Großartig! Da ihr Christen und sehr moderne Menschen seid, hat es sich bei euch selbstverständlich nicht um etwas so Primitives und Einfaches handeln können, wie um ein Fest aus der römischen Frühzeit. Erinnern Sie sich an jenes Junifest in ›Marius, der Epikuräer‹? Ceres und Dea Dia, von weißgekleideten Knaben in heiligen Truhen getragen – die Altäre mit Wollgirlanden und Blumen geschmückt, die später in das Opferfeuer geworfen wurden, und der Duft von den Bohnenfeldern, und die Priester in alten steifen Gewändern der Vorfahren. Und Marius hatte die Pflicht, Honigwaben und Veilchen auf die Urne seines Vaters zu legen. Veilchen und Honig! Ach, diese Bergheiden waren ganz und gar nicht modern! Sie hörten keiner Mitzi zu, die sich ihren letzten Flirt von der Seele betet, und sie brummelten nicht: ›Arbeitet der Mensch nicht mehr, so kommet Arbeit für die Nacht‹ – was mir immer als der scheußlichste Trugschluß in der ganzen Literatur erschienen ist.«
»Ach, die Römer haben sicher etwas gesungen, was ebenso schlecht war! Ich glaube nicht, daß Mr. Pater alles gekannt hat, was sie gesungen haben! Auf jeden Fall waren wir fröhlich. Es war eine richtige – also eben, so eine ruhige, stille Fröhlichkeit – richtige Religion.«
»Sie sind so außerordentlich, so rührend kindlich mit Ihrer Religion, mein liebes Kind! Sie sind fest davon überzeugt, daß alle Wunder wirklich geschehen sind. Sie fassen die Erzählung von der Speisung der Fünftausend mit Brotlaiben und Fischen so auf, als handelte es sich um eine dokumentarisch belegte historische Tatsache und nicht um einen hinreißend schönen Mythus. Sie glauben tatsächlich an die Bibel als ein geschichtliches, nicht als ein dichterisches Werk.«
»Aber du lieber Himmel, tun Sie das nicht auch? Sie sind doch Kirchenältester!«
»Natürlich. Das sind die Mores. Ich rasiere mich auch, aber ich halte es nicht für etwas Heiliges; wenn es Sitte wäre, daß liebenswürdige junge Professoren einen Bart tragen, wie es noch vor gar nicht langer Zeit war, würde ich auch einen tragen. O ja, ich bin seit einiger Zeit Kirchenältester, aber Sie werden bemerkt haben, daß ich mich nicht oft zeige. Sagen Sie jetzt aber nicht ›Heuchler‹! Ich weiß ganz genau, was ich tue und was ich denke. Dazu haben Sie noch nicht den Mut gehabt. Sie haben diese vagen Gefühle, die Sie ›Religion‹ nennen, noch nie auf die Probe gestellt. Sie haben sie noch nie solchen Prüfungen unterworfen, wie Sie es bei einem historischen Bericht aus dem Mittelalter täten. Schließlich, liebe Ann, sind Sie typisch für alle Frauen; Sie sind recht realistisch, wenn es sich um Dinge handelt, die nicht Ihre Gefühle tangieren; Sie wiegen die Butter und zählen das Geld nach, das Sie herauszubekommen haben, damit das arme Ding von Dienstmädchen Sie auch nicht um einen Cent betrügen kann. Aber Sie lehnen es ab, sich zu fragen, was Sie wirklich glauben, und ob Ihr Glaube seinen Ursprung in ehrlichem Denken hat oder einfach etwas ist, das Sie von der Familie ererbt haben. Und eines Tages werden Sie denselben – wahrscheinlich ehrenwerten, aber sicherlich irrationalen – denselben Glauben an Ihren Mann und Ihre Söhne haben! Eben ein ganz gewöhnliches Weib, trotz allem, meine liebe Gelehrte!«
»Ich finde Sie ekelhaft!«
»Ich weiß, daß ich das bin! Trotzdem habe ich nicht einen Augenblick lang den Wunsch, Sie des Trostes zu berauben, den Ihnen Ihr Aberglaube schenkt. Ich will bloß, daß Sie sich selbst begreifen – das ist doch das Hauptziel der Collegeerziehung, nicht wahr? – und bemühen Sie sich nicht, solange Sie eine süße, ausgeglichene, gesunde ›Hausfrau‹ sind, gleichzeitig auch eine rasiermesserscharfe Intellektuelle zu sein!«
»Ich bin nicht gesund! Ich will nicht, daß Sie – – Sie sind – Sie sind –«
»›Ekelhaft‹, das war es doch?«
»Ja, das sind Sie. Sind Sie!«
Sie war auf dem Rückweg zum Wohngebäude ununterbrochen streitsüchtig, und er schritt, ein Schullehrerlächeln der Befriedigung darüber, daß er sie klein gekriegt hatte, auf dem Gesicht, vergnügt und leicht neben ihr einher. Mit affektierter Heiterkeit wünschte er ihr Gute Nacht.
Ann war in der Woche, die verging, bevor sie wieder miteinander sprachen, weder affektiert noch heiter.
Was das schlimmste war, sie tobte, weil es stimmte, daß sie ihren Glauben nie auf seinen Wert untersucht hatte. Sie hatte einige Einzelheiten ausgejätet; nach reichlichem Gemütsweh war sie im Fuchsjahr zu dem Schluß gekommen, daß sie nicht mehr an die jungfräuliche Empfängnis und an die ewige Verdammnis glaube. Aber sich zu fragen, ob sie an ein künftiges Leben, an das konkrete Dasein und die Allmacht Gottes oder an die Göttlichkeit Christi glaube, dazu hatte sie nie den Mut gehabt.
Jetzt zwang sie sich mit vielen Mühen zu diesem Mut. Eula suchte sich diese Woche der Leiden in Gethsemane dazu aus, den Vorschlag zu machen, sie sollten öffentliche Deklamationsabende veranstalten, und war zutiefst verletzt, als Ann auf sie losfuhr und sie anschrie: »Laß mich zufrieden – scher dich zum Teufel!«
Ann hockte über ihrer Bibel. Die Wunder erschienen ihr nun, da sie sie nicht mehr mit beruhigten, sondern mit irritierten, ungewohnten Blicken ansah, unwahrscheinlich zu sein. Was war denn das Ganze mit der Geschichte, das Jesus Teufel aus einem Besessenen austrieb und in eine große Herde Säue an der Weide fahren ließ, so daß diese toll wurden, sich ins Meer stürzten und ersoffen? Nicht sehr wahrscheinlich, so dachte sie bekümmert, und eine absonderliche Art, unschuldige Säue und ihren ruinierten Besitzer zu behandeln!
Mit anderen Augen betrachtete sie auch in Lukas IV die Erzählung davon, wie der Teufel Jesus auf einen hohen Berg führte, ihm alle Reiche der ganzen Welt zeigte und sie ihm zu geben versprach, wenn er ihn anbeten wollte.
Ann keuchte: »Aber! Das ist ein Symbol, selbstverständlich! Eine sehr dramatische Fabel, aber eben nur eine Fabel!«
Voll Erstaunen erkannte sie, daß sie das ihr ganzes Leben lang als exakte Tatsachenchronik hingenommen hatte; sie dachte daran, daß sie diese Dinge auch selbst in der Sonntagsschule in Waubanakee als Tatsachen gelehrt hatte. Sie überprüfte ihr Denken und ihren Verstand so objektiv, als hätte sie sich soeben kennengelernt, und machte dabei die Entdeckung, daß sie über die Bibel und den Kirchenglauben ihrer Kindheit niemals nachgedacht, sondern ihn, wie er war, heruntergeschluckt hatte. Selbst der unklare Agnostizismus des alten Oscar Klebs hatte nur aus Phrasen bestanden, die sie sich zu eigen gemacht hatte, ohne sie auf ihr eigenes Glaubensbekenntnis anzuwenden.
»Und alle Wunder – sie sind so – schöne Mythen – sie haben nicht mehr Wirklichkeit als der Nikolaus für ein vierjähriges Kind, das von Weihnachten hingerissen ist!« dachte sie verwundert.
Sie kam sich vor wie eine Frau, die seit Jahren, ohne es zu wissen, von ihrem Mann betrogen wird, während alle anderen es schon längst wissen und sich darüber lustig machen. Sie suchte ihren heiteren Glauben wiederzugewinnen, indem Sie den neunzehnten Psalm las:
Die Himmel erzählen die Ehre Gottes, und die Feste verkündiget seiner Hände Werk.
Ein Tag sagt's dem andern, und eine Nacht thut's kund der andern.
Es ist keine Sprache noch Rede, da man nicht ihre Stimme höre.
Ihre Schnur gehet aus in alle Lande, und ihre Rede an der Welt Ende; er hat der Sonne eine Hütte an ihnen gemacht;
Und dieselbe gehet heraus, wie ein Bräutigam aus seiner Kammer, und freuet sich, wie ein Held zu laufen den Weg.
Das Gesetz des Herrn ist vollkommen und erquickt die Seele. Das Zeugnis des Herrn ist gewiß, und macht die Unverständigen weise.
Die Befehle des Herrn sind richtig, und erfreuen das Herz. Die Gebote des Herrn sind lauter, und erleuchten die Augen …
Sie sind köstlicher denn Gold und viel feines Gold; sie sind süßer denn Honig und Honigseim.
Zum erstenmal hatte sie den Eindruck, etwas aus einer großartigen Dichtung zu lesen; sie deklamierte es sich pathetisch vor und war dankbar dafür, daß Eula nicht zu Hause war und sich nicht darüber lustig machen konnte. Aber zum erstenmal hatte sie auch den Eindruck, daß das nichts mit dem Alltagsleben zu tun habe. Es waren Worte, wie schön sie auch klingen mochten, Worte wie in »Kubla Khan«. Sie glaubte wieder, Glenn Hargis voll Ironie sagen zu hören: »Sie fassen es so auf, als handelte es sich um eine dokumentarisch belegte historische Tatsache und nicht um einen hinreißend schönen Mythos.«
In ingrimmiger Verbissenheit machte sie sich auf den Weg, um mit Dr. Hargis auf Stanton Point zusammenzutreffen.
Als sie den sich am Rande der Klippe hinziehenden Weg entlanggingen und in das Tal hinausblickten, in dem das bereifte Gras grau glitzerte, fragte er in spöttischem Ton: »Haben Sie noch einmal über Ihre interessante mittelalterliche Religion nachgedacht?«
»Ja, hab ich!«
»Und sind Sie betreffs der sieben Brotlaibe und der geringen Anzahl von Fischlein zu einer Entscheidung gekommen? Eigentlich großartig, eine solche Lösung des wirtschaftlichen – –«
»Ach, hören Sie doch auf! Ich hab einen Entschluß gefaßt. Morgen abend – in zwei Monaten war ich wahrscheinlich zur Präsidentin von der Vereinigung gewählt worden, aber bei der Zusammenkunft morgen abend werd ich abdanken und auch sagen, warum. Ich bin nicht mehr gläubig, und wenn ich das nicht mehr bin, kann ich keine Lügengeschichten erzählen.«
»Sie wollen sagen, daß Sie vor der ganzen versammelten bebrillten Reinheit aufstehen und sagen werden, Sie glauben an das Christentum ebensowenig wie an den Buddhismus?«
»Natürlich!«
»Aber, äh – was geht das denn die Leute an? Das ist Ihre Privatangelegenheit. Es handelt sich dabei gar nicht um Lügen; es gibt eben ganz einfach kein Gesetz, das Sie dazu zwingt, jede Kleinigkeit und jeden Mumpitz zu erzählen, den Sie sich denken.«
»Vielleicht nicht, aber ich habe bei den Zusammenkünften geführt, ich habe gebetet, ich habe meinen Glauben bekannt – aus Gründen, die nicht stimmen, wie es scheint. Ach, ich werde nicht den Versuch machen, die anderen jetzt zu mir zu bekehren. Nein! Die sollen sich nur ihren Glauben behalten, wenn es ihnen so lieber ist. Aber ich bin es mir schuldig, ihnen zu sagen, wo ich jetzt stehe.«
»Aber hören Sie doch, Ann!« Alle Ironie und die Freude, die es ihm bereitet hatte, sich der jungen Person überlegen erwiesen zu haben, waren verschwunden. Seine Augen hatten einen hilflosen, kindischen Ausdruck; seine dünne Stimme begann zu quäken: »Ich weiß wirklich nicht, ob ich Lust habe, in diese Sache hineingezogen zu werden und meine Privatansichten der Begutachtung eines Haufens sabbernder Provinzler vorlegen zu lassen. Nicht, daß ich auch nur im geringsten Angst hätte, wohlverstanden! Aber wenn die Leute, vor allem wenn die Präsidentin wüßte, daß ich Sie beeinflußt habe, so könnten daraus ernsthafte Schwierigkeiten für meine Aufgabe, vernünftigen Geschichtsunterricht zu geben, resultieren!«
»Ach, Sie brauchen keine Angst zu haben. Ich werde Sie schon nicht bloßstellen!«
»Seien Sie keine dumme Gans! Ich? Angst? Vor diesen Dorfschullehrern? Unsinn! Ich will bloß nicht, daß sie eine Möglichkeit haben, sich in mein Privatleben einzumischen.«
»Ich hab's Ihnen doch gesagt. Ich werde Sie nicht bloßstellen. Tag!«
Und weg war sie, mit Löwensprüngen.
Am nächsten Abend erklärte sie bei der Zusammenkunft der Vereinigung ernst und kurz, ohne jedes nervöse Getue, und ohne heroische Selbstglorifizierung, daß sie nicht mehr imstande sei, in der Bibel und allen anderen christlichen Glaubensbekenntnissen mehr zu sehen als eine gute, schöne Legende von der Art der Fabel von König Artus' Tafelrunde. Sie teilte mit, daß sie ihren Posten als Vizepräsidentin niederlege – und mit einemmal erklärte sie mit der schönen Geistesgegenwart aller Politiker, sie hoffe, man werde Amy Jones für sie wählen!
Von Dr. Hargis erwähnte sie kein Wort, weder im Verlauf der Versammlung noch nachher in ihrem Zimmer, als alle ihre Freundinnen außer Eula jammerten: »Was ist denn nur in dich gefahren – du mußt ja verrückt geworden sein! Wenn du schon so denkst, warum gibst du allen Fanatikern eine solche Gelegenheit, über dich herzufallen?« (Eula nahm die Gelegenheit wahr und sagte schluchzend, ihre liebe, süße, über alles geliebte Ann könne glauben, was sie wolle, sie werde Ann durch das Höllenfeuer und sogar durch die Exegese Gefolgschaft leisten.)
Die Affäre war in einem langweiligen Monat in Point Royal eine Sensation. Die Präsidentin – obwohl sie die Schwester eines bekannten anglikanischen Bischofs war, eine fromme Frau – ließ Ann zu sich kommen, um mit ihr zu ringen, und las ihr Newman vor – den frühen, richtigen Newman, aus der Zeit vor seiner Abirrung. Bei einer Sonderversammlung der Vereinigungsleiterinnen betete zu Anns Ärger ein verschüchtertes, bleichsüchtiges Mädchen namens Sarah laut für die Abtrünnige. Es war ganz eigentümlich, aber jetzt, nach einer kurzen Woche, schien es Ann, als liege ihr Kampf Jahre zurück und sei längst vergessen.
Nur mit Dr. Hargis konnte sie darüber sprechen, Eula mit ihren feuchten, dünnen Klammerarmen eignete sich durchaus nicht dazu.
Obwohl sie Hargis wegen seiner Feigheit ein wenig verachtete, hatte sie das Gefühl, daß sie miteinander die Gefahr des Exils teilten, und – ach, er war ein Mann, und sie empfand ein Bedürfnis nach der Sicherheit, die, anders wußte sie es eben nicht, nur Männer einem schwachen Weib geben können.