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Glenn Hargis, Magister der Künste, Doktor der Philosophie, Privatdozent der Geschichte am Point Royal College, saß in seiner Kanzlei im Souterrain der Susan B. Anthony Hall – ein kleiner Raum, rosa getünchte Wände, jener Kohledruck des Parthenons, der so bekannt ist, daß er unbedingt aus der Zeit des Parthenons selbst stammen muß, zwei gerade Stühle, ein flaches, sehr dürftiges Schreibpult, ein Weltalmanach, ein Vorlesungsverzeichnis von Point Royal und ein großes Jahrgangsverzeichnis, die letzte Nummer des New Havener Journal and Courier, Dr. Hargis selbst; und das war alles, bis Ann Vickers hereinschritt und dieses Verließ, das traurige Auseinandersetzungen über das Versäumen von Vorlesungen, Zensuren, nicht bestandenen Prüfungen, Aufsätze und Pflichtlesestoff gewohnt war, mit einemmal Leben gewann.
Dr. Hargis blickte von seinem Pult zu ihren vom Regen glänzenden Wangen und ihren funkelnden Augen auf. Sie blickte zu ihm hinunter. Er war, wie Ann bemerkte, ganz entschieden nicht der »griechische Gott«, den die ausgehungerte Francine in ihm entdeckt hatte, aber er war ein kräftiger, gesunder, recht angenehm aussehender junger Mann mit breiter Stirn und munteren Augen. Er rauchte eine Pfeife. Das konstatierte Ann mit einer ihr unerklärlichen Anerkennung. Die meisten Lehrer in Point Royal waren grau und bekümmert und ängstlich und waren ergebene Anhänger von Moralität und Erdnußbutter.
Er stand auf. Seine Stimme klang unerwartet dünn, fast weibisch, als er piepste: »Ja? Worum handelt es sich, bitte?«
Als sie sich setzten, sog er, wie sie fand, ganz großartig an seiner Pfeife. Sie selbst beugte sich in dem Marterstuhl vor, in dem vor einem Jahr so viele Studentinnen dem Mathematikprofessor zu erklären versucht hatten, warum junge Mädchen hin und wieder das Tanzen dem Beherrschen der Differentialrechnung vorziehen.
»Ich hab um neun Uhr dreißig frei«, sagte sie hastig, »und kann wählen zwischen Harmonie, Shakespeare und Allgemeiner Europäischer Geschichte bis Vierzehnhundert.«
»Warum nicht Harmonie oder Shakespeare? Ein Prachtkerl, Shakespeare. Hat etwas über gutes und vergnügtes Leben gelehrt – ein Gegenstand, der in dieser keuschen Atmosphäre sehr vernachlässigt wird, soviel ich beurteilen kann. Oder Harmonie? Meine Allgemeine bis Vierzehnhundert ist ziemlich voll belegt.«
»Ach, mit Harmonie könnt ich nicht viel anfangen. Ich hab leider nicht sehr viel künstlerische Talente. Früher hab ich in der Kirche Orgel gespielt, aber weiter hab ich es in der Musik nie gebracht. Und Shakespeare – mein Vater und ich haben ihn immer laut gelesen, und ich hasse dieses Zerpflücken, das man ›Studieren‹ nennt.«
»Sehr nett, aber schließlich müßten Sie das Zerpflücken der Europäischen Geschichte dann auch hassen.«
»Nein, weil ich überhaupt nichts davon weiß.«
»Sagen Sie mir, Miss – äh – sagen Sie mir ganz genau, warum Sie Allgemeine Europäische studieren wollen, wenn Sie davon absehen, daß neun Uhr dreißig Ihnen bequem liegt?«
»Ich will es lernen. Wirklich wahr! Ich will lernen! Ich hoffe, daß ich eines Tages – – Gestern hat mir ein Mädel vorgeworfen, ich wäre eine Politikerin, und das habe ich geleugnet, und dann hab ich denken müssen: vielleicht hab ich mir selber etwas vorgelogen. Vielleicht werd ich noch mal Politikerin, wenn die Frauen überhaupt das Wahlrecht bekommen. Warum nicht? Irgendeine Regierung muß es geben, auch wenn sie nicht vollkommen ist, und das ist ohne Politiker wohl nicht möglich.«
»Politiker, meine verehrte junge Dame, Politiker sind lediglich die Mittelsmänner der Wirtschaft, und was wir alle von Mittelsmännern halten, wissen Sie ja. Sie nehmen die wirtschaftliche Wahrheit und verhandeln sie in kleinen Mengen mit einem unmäßigen Profit an die Kunden.«
»Ja, sind – sind Lehrer, auch College-Professoren, nicht Mittelsmänner des Wissens?«
Er lächelte breit. »Ja, vielleicht. Und Schriftsteller sind Mittelsmänner der Schönheit – sie schänden sie sorgfältig und verpacken sie in kleine Emballagen mit bunten Etiketten und Bändchen aus unechter Seide und verkaufen sie unter einem schmissigen Handelsnamen. Vielleicht. Und Juristen sind die Mittelsmänner der Justiz. Schön, vielleicht lassen wir Sie Politikerin werden. Aber was hat das mit der Allgemeinen Europäischen zu tun und damit, daß die Vorlesung um halb zehn beginnt? – übrigens eine kalte, scheußliche Stunde in unseren nördlichen Breiten!«
»Na ja, wenn ich Politikerin werden sollte, dann möcht ich schon so eine sein, die auch noch was anderes kann, als ein neues Postgebäude für Passawumpaic Creek durchkriegen. Jetzt, wo es keine großen Kriege mehr geben wird, kann ich mir vorstellen, daß Amerika in engen Kontakt mit Europa kommt, und dafür würd ich gern arbeiten. Aber auf jeden Fall möcht ich lernen!«
»Sie sind für meine Vorlesung akzeptiert.« Er stand auf; er strahlte. »Außerdem wird es Sie vielleicht interessieren, daß Sie die erste junge Dame an dieser Bildungsstätte sind, die ich mit Freuden akzeptiere. Weil Sie ›lernen wollen‹. Ihre Kolleginnen scheinen gegen das Lernen eine ebenso herzliche Antipathie zu haben wie die jungen Herren, die ich an der Universität in Chicago und an meinem alten Ottowatamie College kennengelernt habe. Aber zweifellos wird sich herausstellen, daß ich unrecht habe.«
»Nein«, sagte Ann ärgerlich. »Frauen sind fleißig, aber sie wissen selten, wofür sie fleißig sind. Sie sind Ameisen. Sie können eine Menge Mädels finden, die angestrengt arbeiten, die alles aus einem Buch auswendig hersagen können. Aber Sie werden nicht viele finden, die wissen, warum sie es studieren, oder die überhaupt etwas lesen, was Sie ihnen nicht auftragen.«
»Aber Sie werden es tun, nehme ich an!«
»Aber« – völlig ungerührt von seiner Ironie, in überraschter Aufrichtigkeit – »Sie wissen doch, daß ich es tun werde.«
Als Ann zur Versammlung der Freiwilligen ging, jubelte sie bei sich: »Er ist großartig! Er ist der einzige Professor hier, mit dem es nett ist zu reden!«
Die Freiwilligen sind eine alle Colleges umfassende Körperschaft, deren Mitglieder so heiß gelobt haben und so eifrig darauf brennen, Missionarinnen zu werden, daß von den zweiundvierzig Freiwilligen, die sich in diesem Jahr in Point Royal gemeldet hatten, fünf später wirklich Missionarinnen wurden. Die Freiwilligen sangen bei ihren Zusammenkünften Hymnen, sie beteten und lauschten Vorträgen über die rasche Ausbreitung des Christentums in Belutschistan, Nigeria oder Mexiko – welch letzteres, vom Standpunkte Point Royals aus, überhaupt kein christliches Land war.
An diesem Tag hatten sie eine echte Missionarin da, die eben von Burma zurückgekehrt war. Sie sprach nicht von vergoldeten Kuppeln und bimmelnden Tempelglöckchen, sie erzählte nichts von Stunden mit zierlichen Eingeborenenfrauen, da der Nebel über den Reisfeldern liegt und die Sonne tief am Himmel steht. Sie sprach von Müttern, die selbst noch Kinder sind, von Fieber und von zerlumpten kleinen Kindern, die im Schmutz und Kehricht spielen. Ann Vickers interessierte sich weniger für Tempel mit Mosaikarbeit als für das Füttern verhungerter Kinder; sie geriet auch durchaus nicht in eine zynische Stimmung, als die Missionarin seufzte: »Ach, wenn ihr nur kämet und hülfet, ihnen die Botschaft von Jesus zu bringen, auf daß die Heiden gleich unserem geliebten christlichen Vaterland völlig befreit würden von dem Schauspiel elender Bettler und hungernder Kinder!« Ann nickte freundlich – aber sie hatte nichts gehört. Sie hatte an den rothaarigen Glenn Hargis gedacht.
War er wirklich witzig oder bloß (das waren ihre Worte im Jahre 1910) »so ein bißchen forsch und frech«?
Wie kam es nur, daß ihr der Pfeifengeruch angenehmer war als der glatte, warme Duft, der stets um Eula war?
Und, voll Verachtung, warum war sie so geistesabwesend, während ihnen eine wirkliche Missionarin Botschaft aus der Kampfzone brachte?
Und: war Dr. Hargis verheiratet?
Er war nicht verheiratet.
Das wußte innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden jedes Mädchen im Collegegarten.
Es entsprach nicht den Gepflogenheiten Point Royals, daß ein Junggeselle, insbesondere ein gut aussehender Junggeselle, dem Lehrkörper angehörte. Dr. Hargis war jedoch ein Vetter der frommen Dr. Merribel Peaselee, der früheren Präsidentin Point Royals, und schien deshalb garantiert ungefährlich zu sein.
»Na ja, vielleicht«, sagte Mitzi Brewer, das Problem des Juniorenjahrgangs, »aber ich finde, er sieht aus wie eine Pastete!«
»Sei doch nicht ekelhaft!« antwortete Ann. »Er ist ein sehr feingeistiger Mensch. Er denkt an nichts anderes als an die Lehren, die wir aus der Geschichte ziehen können, um die menschliche Gesellschaft zu reorganisieren. Er hat ein wirkliches Ideal der Gelehrsamkeit.«
»Na, Annie, mir kann er nichts über die Reorganisation der Gesellschaft beibringen. Die Dekanin rausschmeißen, freie Fahrt nach Yale, und jeden Abend tanzen. Was würdest du dazu sagen? Du bist eine scheußlich reine Seele, Ann. Es tut weh, wenn man dich ansieht. Aber wart nur, bis dich der Hafer kitzelt, mein Lämmchen. Wenn ich zu Hause sitze und Socken für meinen sechsten Sprößling stricke, wirst du mit Gebrüll zu toben anfangen und dir erst die Hörner abstoßen wollen!«
»Du bist widerlich!« sagte Ann so kraftlos, daß sie selbst ganz erstaunt war.
Obgleich Ann in ihren persönlichen Gewohnheiten ebenso ehrbar war wie die Dekanin Dr. Agatha Snow, obgleich sie mit ihrem Basketball und ihrem Haushaltungskursus nahezu aufreizend gesund und normal war, beunruhigte es sie schon seit einiger Zeit, wie konservativ in Point Royal gedacht wurde (wenn von Denken überhaupt die Rede sein konnte). Der Schatten des alten Oscar Klebs war noch immer als grauer Schemen um sie. Es ärgerte sie, daß keine zehn, zwölf Mädchen in Arbeitern mehr als untergeordnete Geschöpfe sahen; daß sie der Ansicht waren, New Washington in Ohio sei notwendigerweise etwas Besseres als Wien, Venedig und Stockholm zusammen. Obwohl sie sich für eine gute Christin, ja für eine künftige Missionarin hielt, bekümmerte es sie, daß es als ungehörig galt, die Bibel so zu kritisieren, wie man Shakespeare kritisiert. Nicht etwa, daß Point Royal im Jahre 1910 so »fundamentalistisch« gewesen wäre wie ein Grenzer-Meeting im Jahre 1810. Die Mädchen nahmen die Bibel ohne Fragen hin, nicht weil sie tiefe Erbauung in ihr fanden, sondern weil sie nicht genug Interesse für die Bibel, für die Religion hatten, um dafür zu kämpfen oder daran zu zweifeln. Sie hatten nicht genug Glauben, um entweder Zeloten oder Atheisten zu sein. Ann wußte, daß es größere Frauen-Colleges gab – Vassar, Welleslay, Smith – wo ein kleiner Teil der Mädchen das Lernen ebenso hoch einschätzte wie das Tennisspielen. Point Royal jedoch war, wie viele Sekten-Colleges im Mittelwesten, ein vollkommenes Beispiel für jene amerikanische Überlegenheit über Raum und Zeit, die es ermöglicht, daß in einem einzigen Geschäftsmann gleichzeitig die Religion von 1600, die Eheanschauungen von 1700, die wirtschaftlichen Begriffe von 1800 und die technische Geschicklichkeit von 2500 vereinigt sein können.
Der Ärger darüber und ihre Erinnerung an Oscar Klebs hatten Ann dazu gebracht, den Point Royal Sozialistenclub zu gründen. Er war ziemlich sanft und sehr klein. Die Teilnehmerschaft bei ihren Zusammenkünften betrug durchschnittlich sechs; sie saßen im Zimmer eines der Mädchen auf dem Fußboden und erklärten aufgeregt, es sei nicht gerecht, daß manche Menschen Millionen besitzen, während andere verhungern, und sie würden alle Karl Marx lesen, sowie sie Gelegenheit dazu fänden. Einmal sagte Tess Morrissey, eine strenge junge Person, sie müßten sich mit dem Studium der Geburtenreglung befassen, und da schnappten sie nach Luft und redeten mit erregten, leisen Stimmen. »Ja, es müßte den Frauen erlaubt sein, selbst über ihr Geschick zu bestimmen«, flüsterte Ann. Als aber Tess auf Grund ihrer biologischen Kenntnisse murmelnd von praktischen Verhütungsmethoden sprach, setzten sie verlegene Mienen auf und begannen die Schönheiten des Frauenwahlrechts zu diskutieren, das allen Verbrechen und aller Korruption ein Ende machen sollte.
Niemand im Sozialistenklub sah etwas Inkonsequentes darin, daß Ann sowohl hier wie bei den Freiwilligen Mitglied war. Es war die Ära einer Phantasie, die man als Christlichen Sozialismus kannte. Es war die Ära eines windigen Optimismus, eines Vorkriegs-»Idealismus«, der sich mit Glauben zufrieden gab, anstatt Statistiken zu fordern, einer Gewißheit auf der einen Seite, daß der Kapitalismus von Gott eingesetzt sei, um ewigen Bestand zu haben, und auf der anderen Seite, daß der Kapitalismus bald und ohne Blutvergießen von einer internationalen utopischen Gemeinschaft ersetzt werden würde. In dieser Ära legte jedermann, der 1930 im Alter zwischen fünfunddreißig und fünfundfünfzig Jahren stand, den Grund zu jenen strahlenden, Shawschen, liberalen, ein wenig hanswursthaften Ansichten, die, wie er dann erleben mußte, für seine Söhne und Töchter auf ein und derselben Stufe rangierten wie etwa die baptistische Ethik und die Kosmogonie Mosis.
Ann Vickers war wohl in ihrem Jahrgang die geistig Regsamste, aber trotzdem stand sie als College-Juniorin im Jahre 1910 William Wordsworth und den idyllischen Bilderstürmergedanken von 1832 geistig näher als den Feuergeistern, die in den Jahren 1929, 1930, 1931 und 1932 als Junioren so klare Köpfe waren, daß ihnen die gespenstischen Kämpfer auf die Nerven fielen, die in den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts über dem Leichnam eines toten Victorianismus noch immer so trutzig ins Muschelhorn stießen wie zur Zeit der victorianischen Sitten – die Welt von 1832 war ihr näher als das Wesen dieser Feuergeister, denen eins noch verächtlicher war als solche Windmühlenkämpfe: die säuerliche Verkommenheit des Jahrzehnts unmittelbar vor ihnen, in welchem die gescheiterten Odysseusgestalten des Weltkrieges zwischen 1919 und 1929 unaufhörlich gejault hatten: »Lasset uns essen, trinken und verrucht sein, denn die Welt ist zum Teufel gegangen, und nach uns wird es nie wieder Jugend und Frühling und Hoffnung geben.«
Von diesem neuen Kreuzzug ahnten Ann und ihre ganze Generation so wenig, daß ihre Geschichte, obgleich sie im Jahre 1932 erst einundvierzig war, dennoch unweigerlich in nahezu gleichem Maße eine historische Erzählung, eine Chronik muffiger Anschauungen und Gewohnheiten sein muß, als hätte sie im Florenz der Medici gelebt. Das ist das Schicksal aller von uns, die alt genug sind, um den Weltkrieg als Realität in Erinnerung zu haben. In den vierzig bis fünfzig Jahren, die wir dem lügenhaften Kalender nach gelebt haben, haben wir fünf Jahrhunderte rasender Wandlungen durchgemacht, und wir sehen uns, wie Ann, gleichzeitig als Zeitgenossen Leonardo da Vincis, des schauderhaften Bartes, den General Grant trug, des letzten Radiolümmels und des letzten zweiundzwanzigjährigen Physikers, der sein eigenes Flugzeug steuert und in aller Ruhe kommunistisch wählt, der sowohl ohne den geistlichen Segen wie ohne das Geschwätz der um weniges älteren Radikalen über »sexuelle Freiheit« daran geht, mit seinem Mädchen zusammenzuleben, und das Atom, das zur Zeit, da wir in seinem Alter standen, etwas ebenso Mysteriöses und Ungreifbares zu sein schien wie der Heilige Geist, mit der größten Selbstverständlichkeit zähmt, rotieren läßt und zertrümmert.
Außerhalb dieser frommen sozialistischen Zufluchtsgelegenheiten hörte Ann vom Thema Revolution nicht mehr, als wenn sie eine Bridgespielerin gewesen wäre. Sie hoffte, sie würde etwas über dieses Evangelium von dem flotten Dr. Glenn Hargis hören, und das geschah auch in seiner ersten Vorlesung.
Es war im Hörsaal C 2 in der Susan B. Anthony Hall: harte, polierte Stühle mit Klappbrettern, schwarze Tafeln, ein niedriges Podium für den Lehrer und ein klägliches Bildnis der Harriet Beecher Stowe. Der Raum hatte jenes traditionelle frömmelnde, beklemmende Aussehen, das charakteristisch ist für alle Schulzimmer, Standesämter, Krankenhäuser, Wartezimmer bei Ärzten und Südmethodistischen Kirchen. In dieser Höhle, die dazu bestimmt war, das Lernen zu einer ungemütlichen und tugendhaften Sache zu machen, waren die vierzig Mädchen ein altmodischer Garten und Glenn Hargis, der auf dem Podium funkelte, ein rothaariger Gärtner.
Er brummte einige Minuten lang etwas über Dinge, die zum Kochen und Wäschewaschen des Lehrertums gehören – Sprechstunden, Themenwahl, Leseaufgaben – dann lächelte er ihnen zu und legte los:
»Meine jungen Damen, wenn Sie mir das nötige Zutrauen schenken, möchte ich im Verlauf dieses Kursus nicht so sehr Ihr Wissen vermehren wie den Versuch machen, Vorurteile auszurotten. Trotz dem lebendigen Beweismaterial, das wir heute in dem ausgegrabenen Pompeji besitzen, neigen wir alle zu der Auffassung, daß die Menschen, die vor dem Jahre des Heils 1400, und erst recht die Menschen, die vor dem Jahre 500 lebten, sich von uns aus irgendwelchen Gründen ebensosehr unterscheiden wie die Affen von den Menschen. Wenn man lernen, und zwar mit Phantasie lernen will, ist es das schwierigste, sich klarzumachen, daß die Bürger Pompejis im Jahre 79, als ihre Stadt vom Aschenregen zugedeckt wurde, genau so wie wir Wahlen, Wahlagitation und politische Propaganda, Korruption und Reformismus und ihre Wahlfonds hatten, daß die Damen einkaufen gingen und Würstchen und Wein besorgten, daß eingebildete und wahrscheinlich ungeschickte Installateure an den Wasserleitungen herumarbeiteten.
Eine charakteristische Fehlauffassung der antiken Geschichte, welche im Altertum etwas von unserer Epoche prinzipiell Verschiedenes sieht, drückt sich häufig in der Diskussion der törichten Frage aus: ›Warum ist Rom gefallen?‹ Der Mann der Kirche wird Ihnen erzählen, Rom sei gestürzt, weil die Leute Wein tranken, am Tag des Herrn Rennen veranstalteten und Tanzmädchen hatten.«
Ann nickte. Sie hatte in Waubanakee den Reverend Mr. Donnelly und ein halb Dutzend anderer Geistlicher eben dies erklären hören.
»Der Vegetarier wird beweisen, daß Rom zu Fall kam, weil die degenerierten Römer der Spätzeit ihre frugale Gemüse- und Obstdiät aufgaben und sich dem Fleischgenuß verschrieben. Der professionelle Patriot wird den Sturz des Römischen Reiches mit der Verluderung der militärischen Erziehung und der Rüstungen erklären. Und in der Frühzeit Amerikas, als das Baden gerade aufkam, gab es Weise, die wußten, daß Rom einzig und allein deshalb fiel, weil die römischen Dandys es sich zur Gewohnheit machten, täglich heiß zu baden.
Aber keiner von diesen rückwärts blickenden Propheten dachte jemals daran, daß in Wirklichkeit Rom niemals gefallen ist!
Rom ist nicht gefallen! Rom hat sich geändert! Die Barbaren drangen ein – die Vorfahren der Engländer von heute, und ihnen ähnlich in ihrer robusten Gesundheit und Besitzgier. Es kamen Seuchen über die Stadt. Im Mittelalter war sie ein ganz unwichtiger Ort, offenbar von geringerer Bedeutung als Venedig und Neapel, die ihre Seehäfen hatten, während Ostia Mare, das San Pedro Roms, verschlammt war. Aber Rom ist nicht gefallen. Es existierte mit wechselndem Glück stets weiter und ist heute zusammen mit New York, London, Berlin, Paris, Wien, Peking, Tokio, Rio und Buenos Aires eine der – warten Sie: wieviel ist das zusammen? – eine der neun, oder sind es zehn, wichtigsten Städte der Welt, es hat eine Bevölkerung, die fast ebenso groß ist wie die des ganzen Römischen Reiches der klassischen Zeit!
Einen solchen Standpunkt, wünsche ich, sollen Sie suchen, einen solchen Standpunkt werde ich selbst im Verlauf des ganzen Kursus einzunehmen mich bemühen: die Haltung der Wissenschaft wahren und erforschen, sooft Neunmalkluge im Hörsaal oder auf der Kanzel oder auf der Straße rasch mit der Erklärung bei der Hand sind, warum Rom gefallen ist, warum das finstere Mittelalter finster war, warum die Menschen sich der Tyrannei des Feudalismus beugten und warum die protestantische Reformation von Gott gewollt war – zu erforschen, sage ich, ob Rom wirklich gefallen ist, ob das finstere Mittelalter um so viel finsterer war, als Chicago-Süd heute ist, ob ein Sklave der Feudalzeit notwendigerweise elender daran war als ein freigeborener Pittsburgher Bergarbeiter in diesem gesegneten Jahr der Sternenbannerzivilisation, und ob es nicht ganz anständige und vernünftige Menschen gibt, die auch heute noch in einem Hochamt ebenso viel Erbauung finden wie in einer Predigt von Gypsy Jones.«
In jenen vor-Menckenschen Tagen war das, was Dr. Hargis predigte, so verdammenswerte Ketzerei, daß Ann mitten in ihrer freudigen Erregung erschrocken nach Luft schnappte. Sie blickte um sich. Einige der Mädchen sahen empört auf, andere gelangweilt … und die meisten von ihnen machten sich mit ihren netten kleinen Füllfedern brav Notizen für das Examen in ihre netten kleinen Hefte, ganz genau so, wie sie es getan hätten, wenn Dr. Hargis gesagt hätte, der Strohhut sei zu Siena im Jahre des Herrn 12 von einer gelähmten jungfräulichen Tante des Augustus Caesar erfunden worden. Sie atmete erleichtert auf und wandte ihre Blicke wieder Glenn Hargis zu, dem ersten männlichen Wesen seit Adolph Klebs, von dem sie sich angezogen fühlte.